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(1) Tante Baby
(2) Die Katze ist weg
(3) Ein Zimmer ist frei
(4) Die Frau und der Baum

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Tante Baby

 

Werner Wolski

 

(verfasst um 1992)

 

Wenn man eine Geschichte erfindet, kann es ein müh­samer Weg sein, bis erste vage Ideen die gewünschte Form annehmen, bis fiktive Gestalten in befriedi­gender Weise erschaffen und Konstellationen sowie Handlungsstränge geeignet aufeinander abgestimmt sind.

 

Aber das alles ist für mich hier gar nicht so sehr oder nur in ganz abgemildeter Weise ein Problem, denn ich habe eine Geschichte gleichsam geschenkt bekommen. Die Geschichte, um die es geht, hat mir Constanţa erzählt - nur einmal recht ausführlich, aber sonst nur ausschnittweise, unterbrochen manchmal durch Wochen oder sogar Monate, in vonein­ander abweichenden Varianten, bisweilen vermengt mit anderen Geschichten, aber doch alles in allem in gleich bleibender Weise, was das Wesentliche an­geht. Sie hat mir diese Geschichte - oder besser: die verschiedenen Episoden, die diese Geschichte ausmachen - weder ein einziges Mal auf meinen Wunsch hin erneut erzählt, noch hat sie genauere Ausführungen gemacht, wenn ich etwas nicht verstan­den habe. Meist hörte ich nur zu, ohne sie zu un­terbrechen, wenn es ihr gerade in den Sinn kam, zu erzählen; und wenn sie einfach an einer Stelle ab­brach, weil sie keine Lust mehr hatte weiterzuer­zählen, dann musste ich mich auch damit abfinden. Jede Bitte, doch fortzufahren, war dann, solange ich auf meine Rolle als geduldiger Zuhörer zurück­blicken kann, völlig zwecklos.

 

Manch eine Einzelheit prägte sich mir gut ein, anderes vergaß ich schnell; und ab und zu machte ich mir auch schon ein paar Notizen von gewissen Passagen, die ich für besonders gelungen hielt. Aber die Notizen blieben jahrelang unbeachtet in einer Schublade liegen, manchmal halbherzig ergänzt um hinzukommende kleinere Episoden. Denn so sehr ich an der Schilderung von Ereignissen und Lebensumständen – schon meiner Erzählerin zuliebe - Anteil nahm, und so sehr ich auch von ihrer Erzählweise beeindruckt war, fehlte mir doch eine besondere Be­ziehung zu dem, was sie von sich und von Personen, mit denen sie einmal in Verbindung gestanden hatte, zu vermitteln verstand.

 

Aber an einem bestimmten Tag war ich selbst in die Geschichte verwickelt - genauer: Es wurde mir in Erinnerung gebracht, dass ich längst einmal, an ei­nem bestimmten Tag, in diese Geschichte verwickelt gewesen bin, sie mich gleichsam ohne mein Wissen mit einem ihrer Ausläufer gestreift hatte.- Das war lange vor den ersten Notizen und noch länger vor der endgültigen Fassung, die ich der Ge­schichte, die ich dann als meine annehmen konnte, gegeben habe.

 

 

I

 

 

Wir kannten uns noch nicht lange, Constanţa und ich, aber lange genug, um - irgendwann im Winter 1982 - eine gemeinsame Wohnung zu nehmen. Dies brachte verschiedene Arbeiten mit sich, denn die alte Wohnung musste bei Auszug renoviert werden und die neue bei Einzug; wochenlang waren wir mit Reno­vierungsarbeiten beschäftigt. Eine Abwechslung gab es nur durch Anstreichen hier und dort, durch Tep­pichverlegen in allen Räumen, dann Regale anbohren und Schränke aufstellen, und was sonst nötig wird. – Und irgendwann war ich der Meinung, dass es genug sei, war in die Stadt gefahren und hatte Karten für die Oper „Tosca“ besorgt, um wenigstens für ein paar Stunden von dem Durcheinander zu Hause Abstand gewinnen zu können.

 

Ein Ensemble aus Rumänien gab bei uns ein Gast­spiel; und ich wollte Constanţa oder - wie sie seit ihrer Kindheit kurz genannt wird - Tanţa mit meiner Einladung eine Freude machen; ich war sicher, dass sie dies besonders würde schätzen können, weil sie selbst aus Rumänien stammt. In dem Umzugsdurchein­ander hatte sie nicht nachgefragt, was für eine Veranstaltung das genau sei, wer das Gastspiel geben werde, wer auftreten würde, usw. Erst als wir auf dem Wege zum Theater waren - ich eigentlich ziemlich müde von den vorausgegangenen Renovie­rungsarbeiten, und sie nicht einmal sehr glücklich über meine Einladung zu diesem Zeitpunkt - erzählte ich ihr, weil sie jetzt doch nachfragte, worum es sich handele: um eine Aufführung der „Tosca" mit einem rumänischen Ensemble, von dem ich mir keine genaueren Vorstellungen machen könne, und dass ich mit Mühe gerade noch zwei ziemlich gute Karten er­halten hätte.

 

Unsere Plätze waren in der vierten Reihe, irgendwo in der Mitte. Ich wusste, dass Tanţa diese Oper un­zählige Male gesehen hatte, dass sie früh an die Opernmusik herangeführt worden war, aber auch an das Ballett und an klassische Musik überhaupt. Als der Chor irgendwann auftrat, zupfte sie mich am Arm und flüsterte mir zu: „Siehst du den da hinten, in der letzten Reihe, der mit den grauen Haaren - das ist Onkel Sandu, von dem ich dir schon erzählt habe". Und als ich etwas unsicher zu ihr hinüber­schaute, fügte sie hinzu: „Warte, bis wir zu Hause sind, dann erinnere ich dich daran". –

 

Sie wusste, dass ich alles schnell vergesse, wozu ich keine Beziehung habe. – Ja, sie hatte mir einmal von einem Mann erzählt, der Sänger war, ein Verwandter von ihr; aber irgendwie hatte ich das nicht richtig aufgenommen, weil es mir nicht so wichtig erschien. Aber jetzt sah ich jedes Mal genauer hin, wenn ich ihn auf der Bühne erkennen konnte. Und Tanţa war sehr ernst; sie zeigte keine besondere Regung, die über das hinausging, was sie immer, wenn sie Musik hört, erkennen lässt. Nichts deutete darauf hin, dass sie mir im Moment weitere Hinweise geben würde, um meinem Gedächtnis nachzuhelfen. Wahrscheinlich -  und das gehört zu ihrer Art - erwartete sie von mir, dass ich zumindest versuchen würde, mich selbst zu erinnern, bis sie mir, wie angekündigt, das genauer erläutert; denn sie wiederholt sich nicht gern.

 

Als die Oper zu Ende war, sagte sie auch unterwegs im Auto kein Wort. Aber zu Hause in unserem Chaos angekommen, fanden wir irgendwo einen bereits ein­gerichteten Platz; und dort begann sie dann doch zu erzählen - erst zögernd und langsam, sehr bestimmt und mit Pausen, wie sie es zu tun pflegt, und - wie ich es empfand - sehr gut zur Oper passend, die mir noch im Kopf nachklang: Sie hätte ja nicht gewusst, dass er anwesend sein würde, und wir hätten beide schließlich nicht mehr als ein paar Mark bei uns gehabt, kaum ausreichend für das Glas Sekt in der Pause. Denn sonst hätte sie auf ihn gewartet nach der Vorstellung, sich irgendwann bemerkbar gemacht und ihm etwas zugesteckt, mindestens einhundert Mark; das sei schließlich für Rumänen viel Geld. Kontakt aufnehmen im Westen sei ihm ja verboten, aber das wenigstens hätte sie tun können; und dass es nicht möglich gewesen sei, tue ihr jetzt leid.

 

Ich erfuhr, dass er alle drei Jahre nach Deutschland auf Tournee gekommen ist. Und jetzt - Jahre danach und nach dem Umsturz in Rumänien - weiß ich, dass es seine letzte Tournee war, auf der er auch in Marburg gastierte; er ist mittlerweile weit über sechzig. Zuletzt hatte sie ihn 1979 gesehen, als sie noch in Karlsruhe wohnte. Damals war sie erst vor nicht allzu langer Zeit aus Rumänien gekommen, hatte einen Deutschkurs besucht und danach eine Umschulung begonnen, weil sie in ihren früheren Beruf als Anwältin nicht mehr arbeiten konnte. Viele Jahre hatte sie ihn vorher nicht gesehen – auch in Rumänien nicht mehr.

 

Er hatte ihr eine Karte geschickt aus Italien, während einer Europatournee. Sie war dann nach Sindelfingen gefahren, wo sie ein Gastspiel hatten. „Wenn du kannst, Tanţa, dann komm doch bitte", hatte er geschrieben. Sie hatte bis fünf Uhr nachmittags Schule und kam dann um 17:30 Uhr nach Hause, hatte sich schnell umgekleidet und war los­gefahren. Onkel Sandu hatte sie zu einer Loge ge­führt, denn die Mitwirkenden konnten reservierte Plätze zuteilen. Aber sie hatte so wenig Geld wäh­rend der Umschulung, dass sie ihm nichts geben konnte, nicht ein paar Mark, worüber er sich be­stimmt gefreut hätte. „Hattest du eigentlich in Ru­mänien einen guten Kontakt mit ihm, hast du ihn ge­mocht"?, fragte ich. Und sie sagte, eigentlich habe sie mit ihm nicht so sehr viel zu tun gehabt, viel mehr aber mit seiner ehemaligen Frau, die Primabal­lerina gewesen sei; die habe ihr sehr viel bedeu­tet, und von ihr wolle sie mir erzählen; er spiele dabei eher eine Randrolle. Diese Frau sei von allen nur „Baby" genannt worden; und für Tanţa sei sie immer nur „Tante Baby" gewesen, obwohl sie nicht eigentlich ihre Tante war. Und dann erzählte sie mir alles der Reihe nach, woran sie sich erinnern konnte:

 

 

 

II

 

Tante Baby wurde in einem Dorf in der Moldau gebo­ren. Die Moldau war damals ein sehr armes Gebiet in Rumänien, sodass „Moldau" gleichbedeutend mit Armut und Hungersnot war. Die Moldauer hatten zu der Zeit damals – wie auch die meisten Rumänen anderswo – sehr viele Kinder, genauer gesagt: nur die armen, nicht die reichen Rumänen. Und aus solch einer armen Familie, einer Familie mit vielleicht vierzehn Kindern, stammte auch das Mädchen, das ich später nur als Tante Baby kannte. Mit vierzehn Jahren ging sie aus dem Dorf weg und arbeitete als Hausdienerin in einer größeren Ortschaft bei einer vornehmen Ge­neralsfamilie. Ihr, die aus ärmlichsten Lebensver­hältnissen stammte, erschien alles dort großartig und von erstaunlichem Glanz; sie war beeindruckt von der freundlichen Atmosphäre, von den vielen Feiern und den gehobenen Umgangsformen, die dort gepflegt wurden, unbelastet von Not und alltägli­cher Bedrängnis, wie sie sie bisher erfahren musste. Wie außerordentlich schön sie selbst war, schöner als all die vornehmen Frauen, die sie jetzt umgaben und zu denen sie aufblickte, wusste sie nicht. Sie war jung und unerfahren; niemand hatte ihr in dem Dorf, aus dem sie kam, irgendeine Aufmerksamkeit ge­schenkt oder sie, die in Lumpen herumlief, gar we­gen ihrer Schönheit bewundert. Aber in dem Haus­halt, in dem sie jetzt beschäftigt war, hatte man sie entsprechend gekleidet und sie mit den ge­wünschten Umgangsformen vertraut gemacht. Sie hielt dort das Haus in Ordnung, bewirtete die Gäste, ver­hielt sich ansonsten unauffällig und unbefangen. Sie lernte viel hinzu, blieb aber ein unschuldiges Ding, ohne Kenntnis der Gefahren, denen man im Le­ben ausgesetzt sein kann. Und der Hausherr, der Ge­neral, fand schnell an ihr Gefallen; er gewann nach und nach ihr Vertrauen - und schließlich hat sie mit ihm geschlafen. Als sie dann aber schwanger wurde und ihm das sagte, gefiel sie dem General nicht mehr so gut. Er hat sie dann eine Woche lang eingesperrt und sie immer wieder geschlagen, und zwar so lange, bis sie das Kind verlor.

 

Nach diesem Schock ist sie aus dem Ort weg nach Bu­karest geflohen. Bei dem General hatte sie inzwi­schen viele Leute kennengelernt, denn weil sie außerordentlich gut aussah, gab es da viele Offiziere und Kadetten, die ihr den Hof machten; und von einigen hatte sie wohl gehört: „Komm nach Bukarest; dort kannst du etwas werden und musst nicht wieder in das Dorf zurück, woher du gekommen bist.“

 

In Bukarest fand sie, weil sie sehr gut tanzen konnte, bald aufgrund einer Vermittlung eine Stelle als Tänzerin und konnte mit dem Tanzen ihren Le­bensunterhalt verdienen. Sie ließ sich als Ballett­tänzerin ausbilden und wurde schon mit fünfzehn Jahren als Ballerina in einer Tanzgruppe übernom­men. - Später kam sie nach Timişoara. Sie war in­zwischen schon recht bekannt und ist dort schnell zur Primaballerina an der Oper avanciert. 

 

In Timişoara wurde früh ein Opernhaus erbaut; und dies hatte einen nicht geringen Namen. Man ging auf Tournee in Europa und kam auch bis nach Afrika. Und in Afrika irgendwo hatte sich ein Scheich, als sie dort auftrat, in sie verliebt. Der wollte sie unbe­dingt haben. Um sie loszukaufen, damit sie die Theatergruppe verlassen könnte, bot er an, ihr Ge­wicht in Gold zu bezahlen. Nach längerem Zögern war sie damit einverstanden, bei ihm zu bleiben und nicht mehr nach Rumänien zurückzukehren.

 

Aber sie hatte die Absicht, noch ein letztes Mal ihre Heimat zu besuchen, ihr Dorf, aus dem sie stammte, noch einmal zu sehen, um sich von ihrer Familie für immer zu verabschieden. Sie fuhr somit wieder nach Rumänien. Das war nach dem Kriege. In­zwischen aber hatte im Dezember 1947 der König ab­gedankt; und das hatte zur Folge, dass diejenigen, die sich noch in Rumänien aufhielten, nicht mehr aus dem Land herauskommen konnten. Und sie war nun in Rumänien; die Grenzen waren geschlossen, und man war sozusagen im Land eingesperrt. Sie ist dann dort geblieben wie viele andere - sogar Deutsche mit deutscher Staatsangehörigkeit, die sich nur zufäl­lig in Rumänien aufhielten. Schließlich ging sie wieder nach Timişoara, um dort wie vorher an der Oper als Primaballerina zu tanzen.

 

Als ich fünf Jahre alt war, habe ich dann Tante Baby, die damals weit über zwanzig war, kennengelernt, und zwar bei meiner Oma auf dem Lande. Weil ich zu Hause immer allerhand anstellte, war ich dort, wenn auch nicht gerade ganz

unerwünscht, so doch nicht allzu gern gesehen - ganz anders als meine älteren Schwestern Dora und Vivi, die immer sehr brav waren und niemandem zur Last fielen. So­mit hielt ich mich sehr oft bei meiner Oma auf. Die hatte, obwohl sie von so vielen Enkelkindern hätte umgeben sein können, mich immer besonders lieb. Ich wunderte mich immer darüber und fragte mich, warum eigentlich, da ich ja nicht ein so nettes braves Kind war und wenig Anpassung zeigte, immer ver­schiedene Dummheiten machte und dadurch für stän­dige Unruhe sorgte. Aber für meine Oma war ich das liebste und schönste Kind der Welt. Bei ihr war ich gern und - wie gesagt - oft; und dies bis zu der Zeit, als ich zur Schule kam.

 

 

 

III

 

Der Mann meiner - richtigen - Tante, meiner Tante Joli, hatte einen Bruder, der war Schuhmacher und hatte in Timişoara ein eigenes großes Geschäft. Es ist der, den ich seit meiner Kindheit als „Onkel Sandu" kenne. Er reparierte nicht etwa nur Schuhe, sondern er fertigte auf Bestellung Schuhe an. Es war das eleganteste Geschäft in ganz Timişoara. Und eines Tages kam in sein Geschäft auch diese schöne Primaballerina der Oper und bestellte gleich zwölf paar Schuhe auf einmal. Er musste ihr dazu den Fuß­abdruck nehmen, verschiedene Gespräche mit ihr füh­ren etc., um ihr die Schuhe perfekt anpassen zu können. Und der verliebte sich sofort in diese schöne und berühmte Frau.

 

Irgendwie muss sie im Gespräch bei einem der Besuche erfahren haben, dass er singen kann; und dann wollte sie hören, wie er eigentlich singt. Er hatte eine sehr schöne, allerdings unausgebildete, Tenorstimme, hatte nicht studiert, und war auch nicht weiter mit Musik in theoretischer Hinsicht vertraut; er war nur strebsam und hatte es immerhin als Schuhmacher zu etwas gebracht. Sie sagte ihm nun, er müsse seine Stimme ausbilden lassen und unbedingt versuchen, an die Oper zu kommen, weil er eine bemerkenswerte Stimme habe.

 

Mehrmals nahm sie ihn mit an die Oper, besorgte ihm Karten für verschiedene Aufführungen, ließ ihn an Proben als Besucher teilhaben. Und als man einmal an der Oper eine große Anzahl von Leuten für einen Chor suchte, da meldete er sich und wurde zu seinem eigenen Erstaunen sofort genommen. Als er sang - er hatte eine so kräftige und klare Stimme -, hörte man ihn immer aus dem ganzen Chor heraus. Schnell bekam er eine Rolle und begann auch ein Gesangsstudium - aus Altersgründen nicht mehr an einem Konservato­rium, sondern in Privatunterricht. Ganz schnell kam er ganz nach oben und wurde ein sehr guter Bel­canto-Tenor.

 

Nun war auch er erfolgreich und immer in der Nähe der Frau, die er schon lange liebte. Und was er nicht zu hoffen gewagt hatte, trat dann irgendwann ein: Diese schöne Primaballerina verliebte sich schließlich in ihn. Anfangs hatte nur er sie ge­wollt; sie war unschlüssig, auch weil er ihr wohl nicht standesgemäß erschien. Aber er, er hatte al­les nur für sie gemacht: Für sie hatte er gelernt, für sie hatte er seinen Beruf mehr und mehr ver­nachlässigt und ständig Gesangsunterricht genommen; und nur für sie sang er allabendlich an der Oper. Und als sie sich nun in ihn verliebt hatte, war sie nicht nur oberflächlich in ihn verliebt. Vielmehr wollte sie ihn dann ganz für sich haben, immer mit ihm zusammensein und ihn heiraten. Als die ganze Geschichte dann so weit war, dass die Hochzeit anstand, musste er diese zukünftige Frau der Familie vorstellen.

 

 

 

IV

 

In unserer Familie gab es da plötzlich eine große Unruhe. Jemand Wichtiges musste kommen - das war mir mit meinen fünf Jahren klar. Meine Mutter, meine Tante Joli, meine Oma und andere jüngere und ältere Frauen aus der Verwandtschaft - alle waren in großer Aufregung. Sie trafen viele Vorbereitungen; man wollte perfekt kochen und alles aufs beste ar­rangieren.

 

Eine führende Rolle spielte dabei meine Oma, die die meisten Erfahrungen hatte. Sie war früher ein­mal sehr reich gewesen - jedenfalls bis zur Revolu­tion, als die Kommunisten an die Macht gekommen wa­ren. Sie hatte mehrere Bäckerläden und selbst einen Konditor eingestellt, und sie hätte zwei oder drei Konditoren bezahlen können.

 

Dann hatte man ihr aber alles genommen, wofür sie gearbeitet hatte, und zwar genau am 30. Dezember 1947, und sie wurde arm wie eine Kirchenmaus. Zu­erst nahm man ihr den großen Laden, dann auch die kleinen Läden. Man nahm ihr das große Haus in der Stadt und ein Haus, das sie noch im Dorf hatte. Als sie dermaßen enteignet war, blieb ihr am Ende nur diese Farm am Stadtrand von Timişoara, wo ich mich immer bei ihr aufhielt - jedenfalls bis 1952; denn dann nahm man ihr auch noch die Farm weg, was ich selbst noch miterlebt habe. Dort durfte sie dann - auf ihrer eigenen Farm - zusammen mit Opa als Ange­stellte arbeiten, bis Opa dann im Februar 1952 plötzlich starb. Er hatte im Februar 1952, als wegen der Währungsreform das Geld umgetauscht wurde, die ganze Nacht in Timişoara in einer Schlange gewartet, bis er an der Reihe war. Er war mit seinem gesamten Geld dorthin gegangen, und man gab ihm so wenig dafür,

dass er nicht einen Monat davon hätte leben können. Er kam mit dem Gefühl nach Hause, nun um alles betrogen worden zu sein, was er erworben hatte. Er sagte zu Oma: „Mach mir bitte einen Tee"; er war nämlich völlig durchgefroren, weil er so lange draußen in der Kälte gewartet hatte. Dann wollte er sich auf sein Bett setzten - und er, vorher ein kerngesunder Mann, bekam währenddessen einen Herzinfarkt und war auf der Stelle tot.

 

Dann blieb Oma allein und erhielt nicht einmal eine Rente; denn weil sie keine Arbeiterin war, galt sie den Kommunisten als Angehörige der Bourgeoisie, als Ausbeuterin, usw. Oma kam schließlich, als man ihr auch noch die Farm weggenommen hatte, zu uns nach Bokschan. Mich freute es sehr, dass sie nun bei uns lebte, weil Oma für mich der liebste Mensch auf der Welt war.

 

 

 

V

 

Die Farm war von einem großen Park umgeben, voll mit Blumen und mit vielen Bäumen vor dem Haus. Dort spielte ich immer sehr gern - mit Lumpenpuppen. Oma machte mir aus alten Lumpen Puppen, und gerade mit diesen Puppen konnte ich mich stundenlang beschäf­tigen. Aber ich wusste, dass so etwas nicht schön ist, weil wahrscheinlich meine Tante, meine Mutter oder sonst jemand gesagt hatte: „Man spielt nicht mit solchen Puppen, wenn man bessere hat.“ – Aber die „besseren“ waren immer auf einem Regal in der Wohnung, weil ich die „besseren“ immer kaputtgemacht habe; und dann habe ich immer Streit deswegen gekriegt und öfters auch schon mal eins auf den Po. Mit diesen Lumpenpuppen aber konnte ich spielen, so lange ich es wollte. Wenn eine kaputt ging, hat mir Oma sofort eine andere gemacht – aber niemals mit mir deswegen geschimpft.

 

Als nun alle bei so großen Vorbereitungen waren und ich wusste, dass sie deswegen so beschäftigt sind, weil jemand Außerordentliches bei uns angemeldet war, da bin ich mit meinen Lumpenpuppen in den Gar­ten gegangen und habe schön versteckt mit ihnen ge­spielt. Für mich waren diese Puppen lebendig; ich hatte eine so große Einbildungskraft, dass für mich alles lebte, wenn ich es nur wollte - egal, ob es ein Apfel, ein Blatt oder sonst was war; für mich hat auch ein Stück Holz gelebt. Wenn ich mir etwas vorgestellt habe, war es das, was ich wollte. Und meine Puppen waren für mich das beste Spielzeug, das es gibt. Ich spielte im Garten ein bisschen ver­steckt, damit mich nicht diese vielen eleganten Leute mit meinen Lumpenpuppen sehen konnten. Ich habe mich nicht damit geschämt - nur gewusst, dass ich mich eigentlich mit ihnen schämen sollte. Und ich habe

mich etwas versteckt gehalten, um keinen Anlass zu schaffen, mich schämen zu müssen.

 

Dort draußen spielte ich - und auf einmal hörte ich eine Stimme: Jemand fragte mich, was ich denn da mache. Und wie ich gegen die Sonne hochblickte - es war ein sehr warmer Sommertag und die Sonne strahlte sehr stark -, da stand vor mir eine Fee, eine junge Frau, die so schön war, wie ich mir immer vorge­stellt hatte, dass nur so eine Fee aussehen könne: das helle Gesicht, diese grünen strahlenden Augen, die schöne rote Farbe des Haares, das ihr bis über die Schultern herabfiel - alles passte zusammen! Ich schaute sie mit Erstaunen und mit Begeisterung an; und ich war sicher: Das ist eine Fee. Ein wenig habe ich mich seitlich vor ihr versteckt; denn die Oma hatte der Puppe, mit der ich gerade spielte, nur mit Kohlen die Augen gemalt, und den Mund und die Nase. Dann fragte mich die Fee – und sie sah mich dabei ganz einfach und ungeziert an -, ob ich denn gern mit Lumpenpuppen spiele. Und ein wenig verschämt sagte ich: „Ja", - weil man einer Fee schließlich die Wahrheit sagen muss. Aber dann meinte sie, dass ich mich nicht zu schämen brauche: „Als kleines Mädchen habe auch ich nur mit Lumpen­puppen gespielt, weil ich keine anderen hatte", sagte sie.

 

So gewann sie sofort mein Vertrauen: Auch sie hat mit Lumpenpuppen gespielt, dachte ich mir, obwohl sie so eine schöne Fee ist. - Und als sie mich fragte, warum ich denn so allein draußen spiele, da habe ich ihr genau erzählt, was mir nicht entgangen war: Die ganze Familie sei so beschäftigt, weil ein „ganz großes Tier" zu uns komme und alles perfekt sein müsse, dass so viele Vorbereitungen zu treffen seien, damit sie gut dastünden vor dieser Person, dass jetzt eben niemand für mich Zeit habe, dass ich deshalb allein draußen spiele, und und und. 

 

Dann fragte sie mich, ob ich denn wisse, auf wen alle warteten. - Ja, das wisse ich nicht genau; mein Onkel werde heiraten und werde meine zukünf­tige Tante mitbringen, die etwas ganz Wichtiges sei. Und dann fragte sie: „Weißt du nicht, wer ich bin?" Und während ich noch dachte, dass sie eine gute Fee sei, vielleicht für mich extra vom Himmel gekommen, da sagte sie bereits: „Ich heiße Baby". Das war ihr Kosename; so nannten sie alle; aber da­mit konnte ich mit meinen fünf Jahren nicht viel anfangen. „Weißt du was", sagte sie dann und streckte ihre Hand nach mir aus: „Gib mir deine Hand!" Und dann hat sie meine kleine Hand in ihre Hand genommen und gesagt: „Ich bin deine zukünftige Tante; diese wichtige Person, - diese Person bin ich. Aber ganz so wichtig bin ich auch wieder nicht. Und ich hab’ dich lieb. Hast du mich auch lieb? Willst du meine Freundin werden?“

 

Und ich hatte sie ja gleich lieb; von ganzem Her­zen habe ich sie sofort umarmt und mich an sie ge­drückt. Sie hat mich hochgehoben und ist sofort mit mir ins Haus gegangen. Dass ausgerechnet sie diese wichtige Person war, beschämte mich ein wenig. Ich freute mich zwar sehr, aber es war mir etwas pein­lich, weil ich ihr soviel erzählt hatte; denn ich befürchtete, ich könnte etwas Falsches gesagt ha­ben, als ich von der großen Nervosität zu Hause ge­plappert hatte und davon, dass meine Oma und die an­deren wollten, alles solle so perfekt wie möglich aussehen - und vor allem, dass sie dazu erst so viele Vorbereitungen machen mussten. Als wir ins Haus kamen, sagte sie so laut, dass alle es hören konnten, sie habe draußen die Tanţa, die ihr am nächsten stehende Verwandte in dieser neuen Fami­lie, schon kennengelernt. 

 

Dass ich viele Jahre, und zwar bis zu der Zeit, als ich erwachsen wurde, mit ihr in Verbindung bleiben würde, konnte ich damals noch nicht wissen. Bald, das war 1949, heiratete Tante Baby meinen Onkel. Bei der Hochzeitsfeier war ich nicht, denn ich galt als ein zu wildes Kind; in mich hatte man im Unter­schied zu meinen etwas älteren Schwestern nicht so viel Vertrauen, um mich zu solchen Anlässen mitzu­nehmen.

 

 

VI

 

Bei Tante Baby war ich danach öfters in Timişoara zu Besuch. Und als man dort an der Oper Kinder für verschiedene kleine Rollen suchte, hat sie mich im­mer gern mitgenommen. Ich habe auf der Bühne zwar nichts gesagt oder gar etwas gesungen, sondern dort nur ein paar Schritte vorwärts gemacht, und dann wieder ein, zwei Schritte zurück – aber ich war glücklich und habe mich ganz wichtig gefühlt. Auf ein paar Schritte vorwärts und zurück auf der Bühne war ich sehr stolz und hielt mich dann für den Nabel der Welt. Man hat mich dazu auch immer sehr herausgeputzt und wie eine Prinzessin gekleidet. Als ich dann, wenn ich wieder zur Oper geholt wurde, auch schon einmal dort tanzen durfte, habe ich mit Herz und Seele getanzt.

 

Und zu Hause tanzte ich meist vor Oma, um ihr vorzumachen, worauf es auf der Bühne ankomme. Oma sagte dann immer zu meinem Vater: „Gib das Kind zum Ballett, Valerica; das kann sie so gut!" - Aber mein Vater war damit nie einverstanden. „Nein", sagte er, „jede Ballerina ist eine Hure; und wir brauchen so etwas nicht in der Familie". - Für meine Oma, die sehr streng erzogen war, war das Wort „Hure" eine Blasphemie. Sie hatte gesehen, mit wieviel Be­geisterung ich tanzte; und sie wollte für mich nur das Beste. Sie stand immer zu mir; vor allem hatte schließlich sie mich ja großgezogen und deshalb ein gewisses Mitspracherecht. Aber mein Vater, so sehr er mich liebte, wollte um nichts auf der Welt etwas davon wissen, dass ich Ballettunterricht nehme. Er sah darin zu viele Gefahren für meinen weiteren Weg vorgezeichnet. Sicher lag es, was seine Einstellung in diesem Punkt angeht, auch daran, dass einfach das nötige Geld nicht vorhanden war, um mich in dieser Beziehung fördern zu können.

 

Für mich war es immer ein großes Ereignis, wenn ich auf der Bühne erscheinen durfte - ja bereits dort hinter die Kulissen sehen zu können, die Sänger vor ihrem Auftritt zu beobachten, die Tänzerinnen vor ihren Vorbereitungen, war für mich interessant; und überhaupt der Eifer, mit dem alle sich lange Zeit vorbereiteten, war für mich überaus beeindruckend. Und wenn ich dann mit meinem kleinen Auftritt auf die Bühne durfte, hatte ich keine Angst zu versagen – auch wenn der Saal noch so voll war; ich war stolz auf das, was ich vollbringen konnte.

 

 

 

VII

 

Und Tante Baby spielte bei allen Veranstaltungen immer eine wichtige Rolle. Ich verehrte sie natür­lich; aber ich kann nicht einmal sagen, dass ich sie besonders liebte. Wenn ich bei ihr war, sprach sie mit mir stets viel über Verschiedenes, was mich in­teressierte - auch über Dinge, von denen ich zu Hause nie etwas zu hören bekommen hatte. Sie ver­suchte mich - das wurde mir erst viel später klar - auf das Leben vorzubereiten, mich an Beispielen aus ihrem eigenen Leben vor möglichen Fehlern zu bewah­ren. Mit der Zeit, als ich heranwuchs, wurde sie immer deutlicher und ausführlicher in ihren Äuße­rungen. Sie sagte zum Beispiel, ihr sei das und je­nes passiert, und wie man sich verhalten müsse. Sie erzählte, wie sie mit vierzehn Jahren von dem General als Lustob­jekt benutzt worden und wohinein sie damals gera­ten sei, weil sie nichts vom Leben gewusst habe. Und sie erzählte mir auch, wie sie später an Selbstver­trauen gewonnen und ihren Lebensweg irgendwann selbst aus eigener Kraft habe bestimmen können. Da­für habe sie gekämpft, nämlich dafür, von anderen unbeeinflusst ihren Weg zu finden. Und etwas von ih­ren Erfahrungen wollte sie mir offensichtlich mit­geben.

 

Sie hatte gesehen, dass ich von zu Hause aus nicht die geeignete Erziehung erhielt, um auf das, was sie selbst erleben musste, genügend vorbereitet zu sein. Dass aus ihrer Sicht vieles für mich nicht richtig lief - daran war allerdings weder meine Mutter schuld noch mein Vater: Meine  Mutter gab sich große Mühe, mich - ihrer Auffassung nach - richtig zu erziehen, und zwar im Sinne einer adret­ten und zu allen höflichen Person, die zwar gebil­det ist, aber auch wieder nicht zu sehr, weil diese gebildeten Frauen, so meine Mutter, für Männer unerträglich seien. Und sehr religiös sollte ich sein, und immer gepflegt natürlich. Meine Mutter war auf einer Schule für gut betuchte Mädchen gewesen, wo man lernte, wie man ein Haus führt, wie man Gäste bewirtet, wie man mit einem Diener spricht, etc. Aber nach dem Krieg waren wir sehr arm; - ei­gentlich nicht sofort nach dem Krieg, sondern nach der Abdankung des Königs im Jahr 1947. Und sie wollte das, was sie an Erfahrungen gewonnen hatte, an mich weitergeben. Sie wollte also - aus ihrer Sicht - das Beste für mich.

 

Und auch mein Vater versuchte sein Bestes: Was er dafür hielt, ging in Richtung Kultur. Dass ein Mensch Kultur brauche war das, was er wiederum von seinem Vater mitbekommen hatte. Der galt als ein sehr guter Intellektueller, aber auch als großer Säufer. - Mein Vater arbeitete als Eisenbahner für wenig Geld - zu wenig jedenfalls für unsere Familie, die immer größer wurde; nebenher half er deshalb noch in ei­ner Bibliothek aus. Von dorther brachte er ständig für uns Bücher mit, die wir von klein auf lasen und so mit der wichtigsten internationalen klassischen Literatur früh vertraut waren.

 

Doch niemand, weder meine Mutter, noch meine Oma, und auch nicht mein Vater, hat mit uns Kindern je­mals über normale Lebensprobleme gesprochen - und schon gar nicht über das, was uns bewegte, als wir etwas älter wurden. Das Leben, so wie wir es ken­nenlernten, insbesondere auch aus der Literatur, war von einem Nimbus umgeben. Aber für Tante Baby gab es keine idealisierte Vorstellung vom Leben; für sie war dieses nicht mit einem Nimbus umgeben; für sie gab es das Leben nur so, wie es ist bzw. so, wie sie es erfahren hatte. Und darauf hat sie versucht, mich vorzubereiten. Es war nicht so, dass sie gesagt hätte, das Leben sei grausam, die Men­schen seien schlecht, oder Ähnliches – durchaus nicht. „Das Leben ist so, wie es ist; du musst es so nehmen. Du musst aber die Gefahren kennen; nur dann kommst du zurecht!“ So etwa sprach sie. Und was sie zu sagen hatte, das versuchte sie immer anhand von Beispielen aus ihrem eigenen Leben zu verdeutlichen.

 

Als ich etwa zwölf Jahre alt war oder dreizehn, hatte ich mitbekommen, dass mein Vater mit einer Frau das und das, wofür es mehrere umgangssprachli­che Wörter gibt, gemacht habe. Mutter und Vater ha­ben sich oft wegen Sexgeschichten gestritten. Ich hörte immer etwas, wusste aber nicht klar, um was es eigentlich ging. Sie stritten sich zwar, aber nicht so, dass wir Kinder etwas davon mitbekamen. Da ich immer sehr aufmerksam war, blieb mir allerdings nicht so schnell etwas verborgen. Ich war nicht sehr empört darüber, was geschehen war, weil ich nicht genau verstand, welche Konsequenzen das haben könnte; ich war nur irgendwie unangenehm berührt davon und durchaus bedrückt. Tante Baby fragte mich einmal: „Warum bist du traurig?" – „Ja, Vater und Mutter haben sich wieder gestritten", sagte ich. „Warum, was meinst du", sagte sie, „haben Mama und Papa sich gestritten? Meinst du, du weißt, warum?" - Ich sagte: „Mein Vater liebt uns nicht mehr, son­dern eine andere Frau!" - Und sie sagte: „Was?" Und ich fuhr fort: „Ja, ich hab' gehört, dass er eine andere hat!" – „Aber Mädchen", sagte Tante Baby, „wie kannst du so was glauben? Bist du nicht nor­mal, oder was? Wahrscheinlich hat er nur mit ihr geschlafen!" (Sie drückte sich wohl etwas drasti­scher aus, wenn ich mich recht erinnere). - Da war ich wie vom Blitz erschlagen und konnte kein Wort mehr herausbringen; so sehr hatte mich das getrof­fen. Aber so direkt war sie immer: „Das bedeutet doch nicht", sagte sie, „dass er deine Mutter und euch nicht mehr lieb hat, sondern nur, dass er an dieser anderen Frau Gefallen gefunden hat und für ein paar Minuten mit ihr einen Spaß wollte!" - Ich saß wie erstarrt vor ihr und guckte sie mit großen Augen an. Und dann sagte sie zur mir: „Komm her, ich erkläre dir genauer, was das vorgefallen ist!“ – Sie war deutlich genug; aber mit einigem wartete sie, bis ich etwas älter war.

 

So sehr ihre Direktheit mich damals schockierte, so sehr trug dies doch dazu bei, dass ich meinen Vater weiterhin vorurteilslos gern haben konnte - im Ge­gensatz zu manchen anderen aus der Familie, die ihn deswegen, was er anscheinend immer wieder tat oder tun musste, weniger mochten. Sie wollte mir die Au­gen öffnen und mir zeigen, dass die Welt so, wie ich sie mir vorstellte, nicht ist: „Du darfst keine Angst vor der Wirklichkeit haben", sagte sie, „und du darfst anderen nicht zu sehr vertrauen".

 

Als ich etwa vierzehn war, begannen einige männli­che Leute mir nachzusehen. Ich war noch sehr unsi­cher, weil ich immer gehört hatte, dass ich eher hässlich sei - wahrscheinlich nicht hässlich, sondern eher nicht so sehr gepflegt wie zum Beispiel meine Schwester Vivi. Ich war ein bisschen wild, nicht so fisiliert, wie es meine Mutter erwartete. Aber mei­ner Tante Baby gefiel gerade das gut an mir; sie mochte ein geschniegeltes Mädchen, wie es die eine meiner Schwestern zum Beispiel war, weniger: Jede Haarsträhne saß bei ihr perfekt; und im Unterschied zu mir widersprach sie auch nie, wenn ihr etwas nicht passte. Wenn wir irgendwohin gehen mussten, dann wurden wir schön gekleidet – „schön" für die damalige Zeit -; und Vivi war immer adrett, so wie gerade aus einer Schachtel harausgeholt. Aber mit mir war es anders: Wenn man mich um 3:30 Uhr ent­sprechend vorbereitet hatte, saß um 4:00 Uhr schon wieder alles schief! 

 

Tante Baby war es aufgefallen, dass, wie gesagt, ei­nige Männer mir nachsahen; und ich fühlte mich ge­schmeichelt, weil ich mir nicht gerade besonders wertvoll oder gar schön vorkam. Und dann sagte sie zu mir: „Weißt du, dass du schön bist?" – „Nein", sagte ich. Ich wusste es nicht anders. Dann fügte sie hinzu: „Du bist schön, Tanţa. Und weißt du, was diese Leute von dir wollen?“ – Das wusste ich nicht. Dort im Theater zum Beispiel: Als ein junger Schauspieler zu mir kam und ich vor Begeisterung fast auf den Hintern fiel, da hatte sie wahrscheinlich bemerkt, wie ich ihn anstarrte, und wie geschmei­chelt ich mich fühlte. Und sie fragte: „Gefällt er dir gut?" - Und ich fiel aus allen Wolken, weil sie meine Gedanken erraten hatte. „Ja", antwortete ich verlegen, „ja". - "Das sagt aber auch die Frau Bu­kateru, die Ballerina, schon, und auch die kleine Petru, und auch die Dalia; weißt du, was der von dir will?" – „Aber mit mir bestimmt nicht nur das", sagte ich und hoffte es auch ins geheim, dass es so wäre. Aber sie sagte: „Was ist das für ihn, ob er es mit dir macht oder mit einer anderen. Du guckst ihn an, und er denkt: Na ja, die ist auch was dafür." Und sie fügte nach einer Pause hinzu: „Weißt du was: vier­zehn Jahre alt bist du; ich bin mit vierzehn, gut­gläubig wie ich war, in etwas Schlimmes hineingera­ten; und ich war nicht einmal fünfzehn, als ich schwanger blieb." - Als ich das hörte, brach für mich eine Welt zusammen. Nein, das wollte ich nicht. Und dann erzählte sie mir, was man von einem jungen Mädchen will und welche Kategorien von Män­nern was von einem Mädchen wollen. Und dann wusste ich es, und war das nächste Mal nicht mehr außer mir vor Begeisterung, wenn mir jemand schöne Augen machte, als sei ich und nur ich für ihn interes­sant. Und auch das hat sie mich gelehrt: „Wenn du etwas mit einem machen willst, dann musst du das selbst bestimmen, und musst nicht nur deshalb etwas tun, weil jemand anders das will. Es gibt viele, die das Eine mit dir machen wollen, aber nicht nur, weil du - ach so - schön bist, sondern einfach, weil du jung bist. Du musst dir das genau überle­gen."

 

Und auch ein andermal, als ein Schulkollege, der sehr gut Geige spielte, mich damit so beeindruckte, dass ich zu allem bereit gewesen wäre, wies sie mich darauf hin, worauf das hinauslaufen könnte, und welche Erfahrungen sie selbst gemacht hatte. Sie wollte mir zeigen, dass Sex manchmal vulgär und gefährlich ist und wollte mir helfen, dass ich – so dumm, wie ich war – nicht in irgendetwas hineinrenne, was ihr im gleichen Alter zugestoßen war. Denn das – rückblickend kann ich es genauer beurteilen – war für sie ihr Leben lang ein Trauma geblieben: Sie war vierzehn Jahre alt, als sie ihr Kind durch Misshandlung des Mannes verlor, dem sie zuviel Vertrauen geschenkt hatte. Einem stumpfsin­nigen Menschen würde das alles nichts ausmachen; aber für einen empfindsamen Menschen spielt der An­fang eine große Rolle.

 

 

 

VIII

 

Tante Baby übte ständig für ihre Auftritte; und wenn ich bei ihr war und zusah wie sie tanzte, dann versuchte ich, das zu Hause nachzumachen. Im Alter von etwa acht bis neun Jahren konnte ich schon auf der Spitze tanzen - ohne die übliche Stütze, die man am Anfang nimmt. Von meinem Vater, der ein sehr guter Tänzer war, habe ich alle Tänze gelernt, mo­derne wie Standardtänze. Aber zum Ballettunterricht wollte er mich nicht geben, wie ich bereits erwähnt habe.

 

Und auch in anderer Hinsicht waren mir Möglichkei­ten, mich erweitern zu können, versperrt: Tante Baby hatte einen Flügel; an dem habe ich bereits als kleines Kind geübt und geübt, bis ich eine Me­lodie herausbekam. Ich wollte doch so gern Klavier spielen lernen und das irgendwann so gut können, wie ich es im Hause von Tante Baby sehr oft vernehmen konnte. Als ich den Wunsch äußerte, sagte sie zu meinem Vater: „Hör mal zu, Valerica, du musst für Tanţa den Flügel zu euch nehmen!" - Es gab aber das Problem, dass wir nur eine Dreizimmer-Wohnung plus Küche und Bad hatten. Und da war meine Mutter, mein Vater, meine Oma, meine beiden älteren Schwestern Dora und Vivi, sowie meine jüngeren Geschwister Liliana und Titi. Wo sollte da der große Flügel noch untergebracht werden? Es war so wenig Platz, dass Oma bereits in der Küche schlafen musste. So sagte mein Vater, dass er das nicht könne; ich müsse aus Platzgründen auf den Flügel verzichten. Tante Baby aber dachte, dass er nur aus finanziellen Gründen Skrupel habe, den Flügel anzunehmen und sagte: „Ich gebe dir den Flügel umsonst, ohne etwas dafür zu verlangen. Irgendwann wirst du Geld haben, und dann gibst du mir das Geld dafür." - Aber mein Vater er­widerte ihr darauf: „Ich kann es nicht, das musst du einsehen. Wir haben keinen Platz dafür. Unser ein­ziges dafür infrage kommendes Zimmer wäre zu drei Viertel ausgefüllt, wenn wir den Flügel nähmen. Und außerdem: Ohne Unterricht hat das keinen Sinn; und das Geld für einen Lehrer kann ich sowieso nicht aufbringen." - So wurde nichts daraus. Aber ich musste einsehen, dass er aufgrund der beengten Verhält­nisse, in denen wir lebten, durchaus keine andere Möglichkeit zu handeln hatte.

 

Wenn ich bei Tante Baby war, dann konnte ich stun­denlang zusehen, wie sie tanzte und jemand an dem Flügel spielte oder an einem Klavier, das sie auch noch besaß. Einmal begleitete sie irgendein junger Mann beim Tanzen, ein andermal eine junge Frau Diese Leute interessierten mich nicht. Ich hörte nur auf die Klänge - wer sie erzeugte, war für mich nicht wichtig. Sie übte normalerweise zwei Stunden täglich zu Hause. Wahrscheinlich habe ich immer so begeistert zugeschaut und sie dabei angesehen wie damals, als ich sie kennenlernte und sie wie eine Fee auf mich zutrat, während ich mit meinen Lumpen­puppen spielte. Und wahrscheinlich hatte sie mich deshalb so lieb, weil auch sie es brauchte, ehrlich verehrt zu werden - nicht von irgendwelchen Erwach­senen, die vielleicht nur Zuneigung heucheln, son­dern von einem unverformten Wesen, das die Erinnerungen an die eigene Unschuld und natürliche Begeisterung in ihr wachhielten, und das sich ihr vorbehaltslos anvertraute. Sie, die einmal zu einem Nichts zertreten wurde, hat die Anerkennung von Seiten eines kleinen, ehrlichen Wesens geschätzt – möglicherweise mehr, als ich mir davon Vorstellungen machen konnte.

 

Als sie nach einiger Zeit eine Pause machte, kam sie zu mir und sagte: „Das ist schön anzusehen - aber nicht schön zu erleben! Es ist nicht leicht, so etwas zu machen. Siehst du, deine Mutter sitzt zu Hause, wenn sie kocht oder etwas anderes in der Wohnung macht. Sie hat fünf Kinder, zieht diese auf und hat dadurch eine gewisse Zufriedenheit. Ich aber habe nichts. Ich habe nur das, wofür ich noch kämpfen muss. Wenn ich heute abend in die Oper komme, dann darf mein Fuß nicht nur vierzig Prozent hoch sein, sondern er muss hundert Prozent hoch sein. Das alles muss sitzen, weißt du; dafür kämpfe ich. Oben wird die Luft dünn; du musst strahlen, auch wenn du manchmal lieber etwas anderes tun möchtest. - Was glaubst du, ist Weihnachten, am vierundzwanzigsten Dezember? Die ganze Familie ver­sammelt sich zu Hause; man hat einen Christbaum, und ich habe - ein Programm. Ich gehe in die Oper, mache meinen Auftritt, werde von allen umjubelt, und komme dann nach Hause. Aber mein Haus ist leer. Da ist keine Tanţa oder sonst jemand, mich zu er­warten. Und wenn wir nicht zu Hause bleiben wollen, mein Mann und ich, dann gehen wir unter die Leute - auch Leute wie wir, die nichts haben und die nur des­wegen zusammenkommen, um nicht allein sein zu müs­sen. Sonst haben sie nichts miteinander gemeinsam. - Das alles kannst du noch nicht verstehen. Was ha­ben wir? Guck mal hier! - Glaubst du nicht, ich hätte nicht auch gerne eine Tochter, ein Mäd­chen, wie du eines bist?"

 

Es war vor Weihnachten. Ich verstand ihre Worte ja so gut, besser als ich die Worte meiner Eltern oder meiner Oma jemals verstanden hatte. Und ich verstand auch, dass sie einsam war. Aber ich dachte mir: Nein, lieber wäre mir, was sie hat; sie ist jemand, zu dem man hinaufschaut! Und als sie einmal sagte: „Weißt du, für dich, wenn du meine wärst, würde ich alles hergeben“ – dann konnte ich das mit meinen vielleicht zehn Jahren wirklich nicht verstehen. Mir erschien ihr Leben traumhaft schön, ausgefüllt und erstrebenswert.

 

Erst als ich älter war und sie mir mehr erzählte, wusste ich besser, was sie mit ihren Bemerkungen ge­meint hatte: Sie war einmal im Krankenhaus wegen einer Unterleibsoperation. Als sie nach Hause kam, standen überall viele Leute mit Blumen herum. Aber auf einmal saß sie ganz allein da, weil alle am Nachmittag zur Oper mussten: Ihr Mann sang an der Oper, die anderen tanzten oder spielten. Es kam die neue Saison, aber sie konnte keine Rolle überneh­men. Und da hat keiner an ihre Tür geklopft und ge­fragt: „Wie geht es dir, du großer Star? Wie fühlst du dich? Geht es dir jetzt wieder besser?" – „Du hast keine Rolle", sagte sie, „und niemand guckt dich an, niemand applaudiert dir". - Sechs Monate kam niemand, um sich um sie zu kümmern. 

 

Aber irgendwann trat sie wieder auf und wurde in gewohnter Weise von allen umjubelt. Alles war wie­der so, wie ich es zuerst kennengelernt hatte: Sie übte ständig, trat in wichtigen Rollen auf, man schätzte ihr Können und alle drängten sich in ihre Nähe.

 

 

 

 

IX

 

 

In der Zeit, in der es ihr nicht so gut ging, war ich noch öfter als sonst bei ihr, weil sie nicht auftreten konnte und viel Zeit hatte. Durch sie lernte ich auch den Wert der Juwelen kennen. Und sie erklärte mir alles: Nach dem Krieg waren viele Leute verarmt; und die noch etwas hatten, mussten ihre Wertsachen verkaufen. Mein Vater verdiente damals z. B. nur 400 Lei - und wir waren eine so große Familie. Aber Tante Baby hatte Geld. Sie verdiente sich auch noch neben ihrem Beruf her etwas auf dem Schwarzmarkt hinzu: Man kam zu ihr mit Juwelen, wenn man sie nicht irgendwem überlassen wollte, der den Wert nicht kannte. Mir gegenüber zeigte sie sich stolz, dass diese Leute, die irgendwann etwas waren und mit denen (jedenfalls mit einigen von ihnen) sie nicht die besten Erfahrungen gemacht hatte, sie nun ba­ten: „Gib mir etwas Geld dafür; du hast doch Geld, und ich habe sonst nichts mehr!". - Für sie war es ein Vergnügen, mir alles zu zeigen und zu erklären; für mich aber war es eine Art Lehre: „Dieser große Stein", sagte sie, „ist von Guban", der der größte Fabrikant in Timişoara war. Er sei zu ihr gekommen und habe gesagt: „Guck mal, kauf mir das ab. Du hast Geld, ich habe keines; gib mir dafür, was du willst!" - Sie konnte mir zeigen: Diese Juwelen sind von Guban, jene von dem und dem. Und sie erzählte mir alles. Ich habe mit großer Aufmerksamkeit zuge­hört: „Siehst du, pass auf", sagte sie und zeigte mir: „Das hier ist so geschliffen, das ist ein Dia­mant, aber nicht so wertvoll, weil der Schliff ein­facher ist; das ist so montiert, das anders; und dies ist deswegen wieder nicht so wertvoll, weil zu grob. Diese Goldarbeit hier - das ist Filigran; und das wiederum ist so..."

 

Einmal zeigte sie mir eine große Schachtel mit ver­schiedenen Ohrringen. „Na, was gefällt dir?“, fragte sie. Natürlich gefiel mir, was am meisten glänzte; und sie sagte: „Der Glanz allein, der besagt gar nichts: Nur dass und warum etwas einen Wert hat, das muss man wissen; und wenn es dann auch noch glänzt, ist es umso besser". - Und jedes Stück hat sie mir im­mer wieder gezeigt und erklärt. Vom Haushalt hingegen verstand Tante Baby nicht sehr viel. Wenn aber, wie das üblich war, in der Familie die Festtage groß gefeiert wurde, beteiligte sie sich. Dann gab sich jeder Mühe, etwas Besonderes anzubieten. Die Zeiten waren allerdings damals so, dass es schwer war, einen Kuchen auf den Tisch zu bringen – ganz zu schweigen von einem guten Essen, das meine Eltern und Oma von früher gewohnt waren. Meine Mutter war eine hervorragende Köchin; nur sie hatte nicht sehr viel Geduld. Der Kuchen, den sie machte, schmeckte; jedoch legte sie keinen Wert auf das Dekorieren. Tante Baby hingegen konnte einen solchen Kuchen, was den Geschmack angeht, nicht so gut machen wie meine Mutter; dafür waren ihre Torten aber sehr schön anzusehen. Und sie sagte zu mir: „Das ist nicht nur etwas für den Ma­gen; zuerst ist es etwas für die Augen. Meine Ku­chen schmecken nicht so gut, aber meine sind schön". - Und da ich sie etwas verlegen und zwei­felnd ansah, fügte sie hinzu: „Hör mal: Wenn er zu zehn Prozent schmeckt und zu neunzig Prozent schön ist, dann denken die Leute, dass er zu hundert Pro­zent schmeckt." - Ich sagte mir dann: Sie hat recht. Wenn ich wählen müsste zwischen einem schönen Kuchen und einem weniger schönen, der aber besser schmeckt, dann würde ich den schöneren wählen. Tante Baby hat übrigens, woran ich mich jetzt erin­nere, das Äußere auch in anderer Beziehung für sehr wichtig gehalten. So hat sie sich einmal mir gegen­über geäußert: „Zuerst kommen die Augen - und dann kommt der Rest; nur gut zu sein, reicht nicht aus!"

 

 

X

 

 

Das Familienleben war bei uns immer sehr ausge­prägt. Wenn jemand etwas brauchte, konnte Tante Baby das meist sofort beschaffen, weil sie sehr viele Beziehungen hatte. Als ich etwa zwischen vierzehn und siebzehn war, ungefähr 1958 bis 1960, kam auf einmal die lila Farbe in Mode. Es war Sommer, ein sehr heißer Sommer; die Frauen aus unserer Familie wollten alle etwas in lila Farbe haben, aber es gab in den Geschäften nichts Derartiges zu kaufen. Überall hat man gesucht; und endlich hat Tante Baby unter der Hand irgendwoher eine zartlila Seide gefunden. Die war aber zehn Meter lang - nicht nur zwei bis drei, wie sie diese brauchte. Da hat sie sofort die Familie zusammengerufen: „Ich habe lila Seide gefunden und brauche nicht alles!"

 

Meine älteren Schwestern, meine Mutter, meine Tante Joli und die anderen sind sofort wie wild losgelau­fen - und plötzlich hatten alle in der Familie Kombinationen aus weißer und lila Farbe an. Meine äl­tere Schwester Dora z.B. machte sich damals ein Complet: Rock, Bluse, Sommermantel, außen weiß, in­nen lila; dazu hatte sie zartlila Schuhe und eine ebensolche Handtasche. Sie sah einfach prima aus.

 

Doch meine Tante Baby hatte sich aus dem Stoff nichts genäht; sie hat ein Stück von dem Stoff ge­nommen, um sich herumgewickelt wie einen Sari, aber nicht so toll, - und das nur mit ein paar Si­cherheitsnadeln befestigt. Denn sie hatte es eilig, weil sie zur Prämierung an die Oper musste. Und auch wir waren alle da - wie immer eine große Familie. Onkel Sandu bat sie vorher noch: „Aber Baby, du kannst doch so nicht zur Prämierung gehen. Nachher musst du noch auf die Bühne; du musst zu Champagner und so weiter erscheinen. Da kannst du dich nicht mit dem Fetzen umwickelt zeigen, der nur von ein paar Sicherheitsnadeln zusammengehalten wird!" - Tante Baby aber sagte nur: „Doch, ich kann!"  Und meine Mutter, die immer als Näherin anerkannt war, hat ihr den Umhang mit weiteren Sicherheitsnadeln mehrfach festgemacht. Dann gingen wir in die Oper. Onkel Va­sile, der Bruder von Onkel Sandu, Onkel Sandu und mein Vater - die drei großen Könige, wie wir sie immer nannten – waren nervös und hatten Angst, es könnte etwas passieren, nämlich dass eine Sicherheitsnadel platzt, dann alles herunterfällt und sie nackt auf der Bühne steht. Die Frauen aber haben immer gesagt: „Es wird schon nichts passieren!“ Und meine Mutter, so religiös sie sonst war, meinte: „Und wenn das passiert - was ist dann schon: Die anderen werden applaudieren; sie ist ja so schön."

 

Die Väter lenkten sich, aufgeregt wie sie waren, dadurch ab, dass sie zu uns Kindern mit Tüten voll Nüssen und Süßigkeiten kamen. Das mussten sie auch deshalb tun, damit wir nicht immer auf den Plätzen herumrutschten und miteinander tuschelten. Dann nach einer Weile war Ruhe im Saal, weil man die Personen auf der Bühne prämieren wollte. Jemand meldete Tante Baby an - aber die erschien nicht. Und auf einmal hörte man nur noch die Tüten von uns Kindern aus der Familie: „krach, knack...", bis dann mein Vater zu uns hinüberschaute und flü­sterte: „Aber Kinder - jetzt gebt mal Ruhe!" Dann hörte man noch einmal viel Knacken und Knistern, weil wir die Tüten klein machten - und endlich war alles ruhig. Plötzlich erschien meine Tante Baby mit dem Ding um sich; sie hielt es irgendwie fest, aber es hatte sich aufgelöst - und auf einer Seite war sie bis unten hin nackt; die Sicherheitsnadeln waren dort abgegangen. Sie hielt das Ding mit einer Hand und sagte, man möge ihr die Verspätung ent­schuldigen; ihr neues schönes Kleid hier - sie habe keine Zeit gehabt es zu nähen und es nur so zusam­mengemacht - sei leider geplatzt. Sie betonte dabei ihre Formen, und alle Männer im Saal wurden ver­rückt. Dann zeigte sie auch noch genauer, wie und wo das Ding kaputtgegangen war; und sie zeigte da­bei ihr Bein und den Riss, der fast bis zu den Brüs­ten reichte. Die Männer im Saal, unsere Väter und alle Verwandten, machten große Augen. Und als sie sich endlich von dem Erstaunen erholt und zu einer Reaktion aufgerappelt hatten: „Wir müssen ihr etwas umhängen; jetzt geh’ n wir sie von der Bühne holen!“ oder so etwas, - da war sie längst schon hinter dem Vorhang verschwunden. Sie kam dann bald, wieder vollständig mit dem Stoff bedeckt und mit einer Sektflasche in der Hand zurück, erhielt besonderen Applaus – auch von denen, die ihr zuvor zu Hilfe kommen wollten, sich dann aber bald beruhigt hatten. Immer wieder und wieder hat sie sich verbeugt, und dabei mit der freien Hand den Fummel festgehal­ten - aber doch so, dass ein Bein noch ein wenig nackt blieb.

 

 

XI

 

 

Die Jahre vergingen; Tante Baby wurde bald vierzig. Damals war es üblich, dass Balletttänzerinnen mit vierzig in die Rente gingen. Und auch sie musste sich mit dem Gedanken vertraut machen, ihren Beruf aufzugeben, so unangenehm ihr das auch war; denn sie kam sich noch nicht so alt vor. Sie war noch immer attraktiv und eigentlich auch flexibel genug, so dass sie immer noch hätte arbeiten können.

 

Onkel Sandu war weiterhin als Tenor an der Bühne beschäftigt. Er stammte, wie seine Frau, aus einer Familie mit vielen Geschwistern: Zu der Zeit, als Tante Baby kurz vor ihrer Verabschiedung als Prima­ballerina stand, kam ein jüngerer Bruder von ihm, etwa siebzehn Jahre alt und zwanzig Jahre jünger als Onkel Sandu, aus der Moldau zu ihnen ins Haus, weil man ihm in seiner Armut helfen musste. Er war in einem elenden Zustand; Tante Baby und Onkel Sandu haben ihn dann hochgepäppelt. Der Junge sollte ei­gentlich das Gymnasium besuchen, aber er hatte dazu nicht die rechte Lust, und er war auch nicht allzu intelligent; also hat er irgendwo einen praktischen Beruf erlernt.

 

Dieser Verwandte von Onkel Sandu nun hatte einen guten Freund, Stephan Fenica, der von Hause aus ebenfalls sehr arm war; den brachte er oft mit zu Tante Baby und Onkel Sandu. Tante Baby hat dann auch dessen Mutter kennengelernt, die früher Schauspielerin war, welche den Jungen unehelich zur Welt gebracht hatte und irgendwann ziemlich verarmte. Tante Baby – so wie jeder etwas leichtsinnige Mensch auch etwas romantisch veranlagt - fasste sofort große Zuneigung zu diesem jungen Mann. Sie re­dete auf ihn ein, er müsse etwas schaffen, seine Mutter kämpfe für ihn, damit er etwas werde, er müsse das Gymnasium zu Ende führen, etc. etc. Schließlich kam der Junge fast täglich zu ihnen ins Haus. Der war intelligent, also drängte man ihn zum Studium, und er entschied sich für die Ingenieur­wissenschaft. Während er vorher nur fast bei ihnen wohnte, wohnte er schließlich ganz bei ihnen, denn die Mieten waren damals sehr hoch, sodass er als Student ein Zimmer nicht bezahlen konnte. Als er dann zu etwas Geld und Ruhm kam - zu Ruhm nicht aus eigener Kraft, sondern sozusagen durch seine Adop­tiv-Verwandten -, da nahm er das sehr gerne hin. Und er war auch charmant und nicht hässlich: Jedes junge Starlet und jede Ballerina in spe hat ihn an­gesehen und sich gedacht: „Der gefällt mir", - und ist mit ihm ins Bett gegangen.

 

So hat er nach und nach auf diesem Gebiet große Er­fahrungen gewonnen: Heute machte er der ganz klei­nen Ballerina den Hof, morgen der etwas größeren - und übermorgen ging er noch ein bisschen weiter nach oben. Und irgendwann dachte er sich: „Warum kann ich eigentlich nicht die Primaballerina haben? Wieso eigentlich nicht? Die ist nicht mit mir ver­wandt, ist nicht meine Tante oder Cousine. Und die sieht besser aus als alle anderen, obwohl sie bald in Rente geht." - Er war damals etwa zweiundzwan­zig, und ich war vielleicht sechzehn Jahre alt. Ich konnte ihn niemals leiden, auch weil er immer um meine Tante herumschwirrte wie ein Schmetterling um eine Blüte. Nicht, dass ich eifersüchtig gewesen wäre – aber seine Art hat mir nicht gefallen; er existierte für mich einfach nicht, und ich habe ihn auch später nicht beachtet.

 

Der junge Mann, mittlerweile genügend erfahren und vielleicht darauf bedacht, etwas Ruhe in seine Ver­hältnisse zu bringen, hatte sich in den Kopf ge­setzt, nur noch Tante Baby für sich haben zu wol­len. Sie aber, die mit vierzig in die Rente gehen sollte, sie wusste - realistisch wie sie war und ausgekocht wie mindestens zehn hartgekochte Eier -, dass sie jetzt noch attraktiv genug war und der junge Mann sich sehr in sie verliebt hatte. Nach vielen Ehejahren, in denen ihr Mann oft genug fremd gegangen war, überlegte sie sich genau, was sie tat: Einmal hatte ihr Mann eine Primadonna ein bisschen geküsst, einmal mit einer Artistin ein wenig geschlafen, einmal war es eine Mezzosopranistin, dann eine andere - und sie hatte immer die Augen zugemacht und so getan, als habe sie nichts be­merkt, nur weil sie ein paar Jahre älter war als er.

 

Aber einmal hatte sie es satt, dies alles mitzuma­chen - vor allem jetzt, wo sie Angst hatte, alt zu werden. Und da ist dieser junge Bursche gekommen, der sie unbedingt haben wollte, weil sie noch etwas repräsentierte - und sie hat sofort zugesagt. Aber sie wollte nicht insgeheim mit ihm ein Verhältnis haben. Deshalb hat sie, so direkt wie sie immer war, zu ihrem Mann gesagt: „Hör mal zu, Sandu! Ich werde mit diesem jungen Mann leben, der liebt mich. Es war mit uns, was es war. Wir trennen uns jetzt; ich nehme mir diesen Jüngeren." - Und mein Onkel sagte: „Aber Baby, hast du nicht bedacht, dass er zu jung für dich ist?" - Und sie darauf: „Denkst du nicht daran, was du mit all den jungen Frauen hattest?" Und er sagte: „Aber ich wollte doch nur einmal mit denen schlafen, nicht mehr." Denn für ihn waren die vielen kleinen Ballerinen, die Sopranistinnen, die Bühnenarbeite­rinnen etc. nicht der Rede wert - nur ein paar Sei­tensprünge, nichts Ernsthaftes. Aber Tante Baby antwortete: „Stell dir vor! Bei uns ist es ganz unterschiedlich: Du wolltest mit den verschiedenen Frauen immer nur einmal; ich aber will mehrmals mit ihm. Also nehme ich ihn mir!“

 

Sie hat sich ihn genommen, - aber die ganze Familie hatte etwas dagegen. Ich bin einmal dorthin gekom­men, als gerade der große Familienrat zusammenge­kommen war. Alle Verwandten wollten sie davon über­zeugen, die Finger von der Sache zu lassen: „Aber Baby, das machst du nicht richtig. Du bist mit vierzig zu alt für ihn; er ist erst zweiundzwanzig - das geht nicht gut!" - Und Tante Baby sagte darauf: „Wisst ihr was? Fünf Jahre lebe ich mit ihm noch glücklich. Wenn er mich dann nicht mehr haben will, kann er sich meinetwegen eine Jüngere besorgen. Aber ich bleibe im Haus. Ich bin die erste Frau - wie bei den Sultanen. Ich mache den Haushalt und alles. Er kann sich nebenbei mit der Jüngeren ver­gnügen, aber ich bleibe die Hauptfrau!"

 

Dann ist sie in Rente gegangen, hat dafür alle Papiere fertig gemacht, hat sich scheiden lassen und den jungen Mann geheiratet. Als er seine Inge­nieursprüfung bestanden hatte, sind sie nach Buka­rest weggezogen.

 

 

XII

 

 

Für meinen Onkel Sandu war das ein so schwerer Schlag, wie man sich das schlimmer nicht ausmalen kann. Er hätte alles auf der Welt erwartet, nur nicht, dass Tante Baby ihn verlassen würde. Hundert Frauen hätten vor ihm in der Reihe stehen können - er hätte jetzt keine einzige anrühren können. Der­artiges war für ihn nur so lange etwas wert, so­lange es interessant war, nämlich weil es nicht sein durfte. Und jetzt, als er hätte tun können, was er wollte, war ihm der Spaß vergangen. Er liebte Tante Baby; die anderen waren eben für ihn nur Abenteuer, die er brauchte, um sich zu bestätigen.

 

Die Scheidung ließ sich schnell und ohne Probleme durchbringen - und er blieb allein. Danach hat er innerhalb eines einzigen Jahres sechsmal geheiratet und sich sechsmal wieder scheiden lassen. Mit kei­ner Frau war er zufrieden; was er suchte, fand er nicht. Einmal zum Beispiel hatte er gerade geheira­tet und war im Urlaub ans Schwarze Meer gefahren. Er kam zurück, und nach zwei Wochen ließ er sich wieder scheiden. Die ganze Familie war bereits in Aufruhr: „Was ist mit Sandu los? Der arme Sandu!"; - in der Art ging es. Es lief auch an der Oper nicht mehr so gut, denn er hatte auch noch zu trinken begonnen.

 

Man wollte ihm helfen, indem man versuchte, ihn gut zu verheiraten. Da es in Rumänien keine Zeitungsan­noncen dieser Art gab, fuhr man nach Bukarest, um dort Beziehungen zu knüpfen. Ein Bruder von ihm war Armeegeneral im Krieg gewesen, bereits pensioniert zu der Zeit, als ich ihn als sehr netten Mann ken­nenlernte. Der hat für Onkel Sandu irgendetwas mit einer Frau arrangiert, die Schauspielerin war, früh Witwe wurde und die ziemlich zurückgezogen lebte. Es wurde dafür gesorgt, dass Onkel Sandu diese Frau - rein zufällig - fand. Und beide haben sich sofort sehr gut verstanden und sogar irgend­wann geheiratet. Mit ihr hat er jedenfalls zusam­mengelebt, solange ich in Rumänien von ihm etwas gehört habe. Es ging dann mit Onkel Sandu nicht nur privat wieder besser, sondern auch beruflich: Er sang wieder mit sehr großem Erfolg. Erst später - ich weiß nicht wann das war und warum - sang er nicht mehr als Solist, sondern trat in den Chor zu­rück.

 

 

 

XIII

 

Ich habe dann Tante Baby, nachdem sie mit dem jungen Mann weggegangen war, lange nicht gesehen. Als ich Abitur machte, hatte sie zu mir gesagt: „Stanţi, du bist intelligent, du bist klug; ich habe viele Menschen kennengelernt, die nicht zehn Prozent so fähig sind wie du; und sogar die haben es zu etwas gebracht. Du wirst studieren. Deine El­tern haben kein Geld, aber du wirst dich über Was­ser halten."

 

Ich war leider zu stolz; denn ich hätte von ihr Un­terstützung bekommen können, und auch Juwelen und vieles andere mehr. Sie hatte mir mehr bedeutet als andere Verwandte, die sich um mich bemühten, als ich anfing zu studieren. Zum Beispiel die Schwester meines Vaters, die sehr um mich besorgt war und mich mit Zuwendungen zu erobern versuchte, hat das niemals bei mir erreicht, was Tante Baby erreicht hatte. Denn als ich Studentin war, schickte sie mir Pakete, damit ich nicht verhungere; ich war wohl dankbar dafür, aber für mich wurde sie nie so wich­tig, wie es Tante Baby war.

 

Als ich noch Studentin war und mein früherer Mann mich umwarb, haben wir uns das letzte Mal gesehen: Tante Baby und ich. An einer Straßenbahnhaltestelle in Bukarest traf ich sie und sprach sie an: "Tante Baby!" - Und sie drehte sich um und sagte: "Meine kleine Tanţi - du bist es! Was machst du?" Und sie guckte meinen zukünftigen Mann an und bemerkte: „Weißt du was? Ich glaube, der hat dich lieb" - Und ich bin rot geworden: „Ja, er hat mich lieb!" – „Und - hast du ihn auch lieb?" fragte sie. „Ja, Tante", sagte ich. Sie schaute ihn noch einmal ge­nauer und etwas prüfend an: „Ich an deiner Stelle würde ihn nicht heiraten." - Darauf antwortete ich: „Aber er hat mich lieb - und ich ihn auch". Nach einer längeren Pause, wie um genauer zu überlegen, sagte sie dann: „Hör’ auf meinen Rat; heirate ihn nicht. Genieße ein paar Jahre mit ihm. Ich aber gebe dir ein Jahr maximal; genieße es, aber mache keine weitergehenden Pläne mit ihm!“

 

Aber ich habe weitergehende Pläne gemacht. Das war unsere letzte Begegnung. Und sie hatte rechtbehal­ten; meine Ehe dauerte nicht lange.

 

 

 

XIV

 

 

Ihren wirklichen Namen weiß ich bis heute nicht; für mich war sie nur Tante Baby. Viele sagten von ihr, dass sie eine Hure war; aber sie war wirklich keine: weder wegen ihres Berufs, und auch nicht deswegen, weil sie mit dem jungen Mann wegging. Ich verehrte sie, habe aber bedauerlicherweise nie mehr mit ihr Kontakt aufgenommen, weil ich selbst die allergrößten Schwierigkeiten hatte.

 

 

 

 

 

Nachwort

 

 

Für mich als Bearbeiter dieser von Constanţa (i. e. Tanta) mir übermittelten Begebenheiten, welche ich in enger Anlehnung an den ursprünglichen Wortlaut zu formen versucht habe, gibt es ein bitteres und unvergesslich bleibendes Ärgernis zu erwähnen: Tante Baby ist tot. Als ich 1992 die Arbeiten an dem vorstehenden Text als beendet betrachten konnte, hatte ich dem Wunsch nicht widerstehen können, Tante Baby persönlich kennenlernen zu wollen. Über die Mutter von Constanţa, welche in Timişoara lebt und welche 1992 zweimal bei uns zu Besuch war, versuchte ich eine Kontaktaufnahme mit Tante Baby zu erreichen. Was ermittelt werden konnte war nur, dass Tante Baby krank sei, dass sie für ihr Alter noch immer sehr gut aussehe, dass sie lebhaft und gern von ihrem Leben zu erzählen bereit sei - und gerade mir dies bezüglich mehr zu bieten habe, als ich mir vorstellen könne. Und ich hätte viel dafür gegeben, all das auch aus der Perspektive von Tante Baby noch einmal zu hören und niederzuschreiben, was mir Tanţa zugetragen hat.

 

Ich muss nun feststellen, dass es vollkommen verkehrt ist, mit einer guten Idee zu lange zu warten. Im Oktober 1993 habe ich von Constanţa's Mutter erfahren, dass Tante Baby vor einiger Zeit an Krebs verstorben ist - und kurz darauf auch der ja um etliche Jahre jüngere Mann von Tante Baby.

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Die Katze ist weg

 

 

 

Werner Wolski

 

 

 

Wer eine Katze hat und mit dieser genügend Umgang pflegt, wird schon lange auf genau das warten, was ich darlegen möchte, und alles außerordentlich gut verstehen. Ande­ren, die für Katzen vielleicht nicht viel oder gar nichts übrig haben, mag es als ganz abwegig und sogar lächerlich erschei­nen, sich über eine Katze so viele Gedanken zu machen, wie ich es gleich tun werde.

 

Aber ich muss der Klarheit halber voraus­schicken, dass es sich nicht um irgendeine beliebige Katze handelt, von der nachfol­gend die Rede ist, sondern um eine mit ganz außergewöhnlichen Eigenschaften und von er­heblicher Bedeutung für die ganze Fami­lie. Um diese Katze, die mit der schö­nen Zeich­nung ihres getigerten Fells, ihren weißen Pfötchen, der weißen Brust, mit dem einzig­artig ausdrucksvollen Gesicht und al­lem, was man sonst an ihr als bemer­kenswert her­ausstellt, gleichwohl eine normale Haus­katze ist, bemüht man sich ständig. Ihr gilt ein Großteil al­ler Gespräche: ihrem Wohlbefinden, ihrem Fress-Ver­halten und ihrem jeweiligen Aufenthaltsort erweist man die höchste Aufmerksamkeit. In jede Begrüßung ist sie einbezogen; und sie erwidert einen Gruß bei jedem erneuten Betreten der Woh­nung oder des Rau­mes, in dem sie sich ge­rade aufhält, zwar nicht mit Hand- resp. Pfotenschlag, aber doch stets mit min­destens einem differenzierten Laut. Und das ge­schieht bemerkenswerterweise - allerdings aus­schließlich bei  Begrüßung meiner Frau - dabei in einer Art, die jeden Völkerkundler beeindrucken könnte, nämlich mit Nase an Nase. Aber das besonders enge Verhältnis zu ihr hängt mit ei­ner persönlichen Vorge­schichte zwischen den beiden zusammen, auf welche ich hier gar nicht ausführlich einge­hen kann, weil ich sonst zu weitschweifigen Ausführungen genötigt wäre.

 

Wer eine solche besondere Katze nicht hat, oder wer Katzen generell nicht mag, dem möchte ich dennoch raten, an dieser Stelle nicht gleich mit dem Lesen aufzuhören, um sich einer vermeintlich sinnvolleren Be­schäftigung zuzuwenden. Er - oder sie - mag, so mein Vorschlag, um seine/ihre unan­genehmen Gefühle zu überwinden, die ent­sprechenden Passagen, in denen von der Katze die Rede ist, entweder überle­sen, oder jeweils für „Katze" das Wort „Hund" oder „Kaninchen", oder sonst etwas dafür ein­setzen, was ihm bzw. ihr lieb ist.

 

Wenn ich also nicht nur den Katzenfreunden empfehle weiterzulesen, dann liegt das daran, dass ich der Meinung bin, diese wie jene könnten den nachfolgen­den Überlegungen etwas für ihr alltägliches Leben und damit verbundener Probleme abgewinnen: dies auf­grund der einbeschlossenen Verallgemeine­rungen, welche mit einer rührseligen und mithin uneffekti­ven Schilderung eines blo­ßen Falles von Katzenzuneigung nicht viel zutun haben. Es wird - was aufgrund der Ti­telgebung zunächst verblüffen mag - schließlich nicht so sehr nur um Katzen bzw. um eine be­stimmte Katze gehen und um das Verhältnis der Katze zu denen, die sich gern von ihr abhängig machen, sondern eher um daraus sich manchmal erge­bende Probleme - und noch genauer: um die Bewältigung all­täglicher Konflikte ganz allgemein, die durch banale, eigent­lich nicht der Rede wert erscheinende Vorkommnisse ausgelöst werden, und zu deren Entschärfung bisher weder von Wissenschaftlern noch von Laien einiger­maßen glaubwürdige und tragfähige Wege aufgezeigt werden konnten.

 

Dass dem endlich abgeholfen werden muss, wer­den si­cher Katzenliebhaber wie einge­fleischte Katzengegner glei­chermaßen bald einsehen: Streitereien, verbunden mit Stress und Überreaktio­nen, welche sich am Ende ja doch meist als unnötig aufwendig und als in je­der Hinsicht schädlich her­ausstellen, kom­men - und davon bin ich zutiefst über­zeugt - normalerweise durch ganz unreflektier­tes und vor allem unsystemati­sches Vorgehen in ei­nem Konfliktfall zu­stande.

 

Diese bis hierher wohl kryptisch erschei­nenden Be­merkungen werden - gewissermaßen in Form einer Fallstudie - nun so­gleich in ein klareres Licht ge­stellt. Worüber hier zu handeln ist - das beginnt ganz einfach so:

 

Ich komme von einer längeren Fahrt (es war, neben­bei gesagt, eine Autofahrt von Leipzig nach Marburg) nach Hause, esse etwas, trinke ein Bier; es ist bald 22:00 Uhr und - die Katze ist nicht da. Bei der großen Wert­schätzung, die der Katze entgegenge­bracht wird, wo­von schon die Rede war, und welche als Vorausset­zung für das nachfol­gende Handlungsspiel unabding­bar ist (was man emotionslos und ohne gleich zu murren einmal so hinnehmen muss), kann die Frage nicht ausbleiben: „Wo ist die Katze?".

 

Eine stabile Variable ist normalerweise die Zeit ihrer Rückkehr von draußen: Die Katze lässt sich, wenn nicht besondere Umstände sie davon abhalten, um 22:00 Uhr hereinho­len. - Wir wohnen oben, im zweiten Stock; also müssen wir 45 Treppenstufen nach unten gehen, ihr die Haustür öffnen - und sie kommt gleich herein, ja wartet be­reits an der Eingangstür oder in der Nähe. Das ist, wie gesagt, der Normalfall. -

 

Aber jetzt ist die Katze nicht da bzw. noch nicht da. Und meine Frau sagt: „Die Katze ist noch drau­ßen". Also gehe ich nach unten zur Haustür (auch sonst übernehme ich das meist), um sie hereinzuho­len. Doch sie lässt sich nicht blicken. Wenn sie schon einmal nicht hochkommen will, dann zeigt sie sich wenigstens - wenngleich in einigem Abstand, so dass man sie nicht ergreifen kann; sie legt sich hin, dreht sich vielleicht am Bo­den auf die eine oder andere Seite und gibt damit zu verstehen: „Ich will noch draußen bleiben. Seht mal, es ist heute so schön; mir passiert schon nichts; ihr braucht keine Angst um mich zu haben." - Die Katze ist also nirgends aufzufinden; sie zeigt sich nicht einmal. Sie kommt nicht um punkt 22:00 Uhr, und sie kommt auch nicht eine halbe Stunde später; und irgendwann wollen wir schließlich zu Bett gehen. Doch wie sollen wir ohne die Katze in Ruhe schlafen können?

 

Da kommt meiner Frau die entscheidende Idee: Sie rät mir, arbeitsteilig vorzuge­hen. Ich solle oben auf dem Boden nachse­hen, wo sich ein separates Zim­mer befindet, in dem zur Zeit zwei Verwandte schla­fen, die zu Besuch gekommen sind, und wo tags­über auch die Katze gern schläft. Meine Frau jedoch geht nochmals an die Haustür nach unten und ruft nach der Katze.

 

Und hier nimmt die Angelegenheit einen Ver­lauf, der zu einer unangenehmen Eskalation führt. Denn ich finde die Katze oben, am Teppich buddelnd und laut schreiend. Sie hat bereits den ganzen Teppich um die Tür herum angehoben und teilweise zerfetzt, um vielleicht unter der Tür durchzukommen. Dass das aussichtslos ist, kann sie sich schließlich nicht klar machen, das weiß ich; sie kann es nicht, ob­wohl sie sonst sehr intelligent ist und für ihre Verhält­nisse ganz gut denken kann, was sie oft ge­nug unter Beweis gestellt hat. Aber gewisse Abstri­che sind da, was das angeht, eben doch zu machen, weshalb verschiedene Vor­würfe, die ich einem Kind gegenüber vor­bringen könnte, hier zwecklos sind. Sie versteht eine ganze Menge, ist von meiner Frau zweisprachig  erzogen worden (in deutscher und ru­mänischer Sprache) - und auch ich habe als Sprach­wissenschaftler ei­nigen Einfluss auf sie ausgeübt. Aber sie kann halt bedauerlicherweise nicht alles begreifen; und sie kann auch nicht spre­chen, wenn­gleich sie sich durchaus sehr differenziert ver­ständlich machen kann. Un­sere Vornamen zumindest, und das ist immer­hin ein Teilerfolg, kann sie ganz deutlich imitieren - aber sie tut das auch nur dann, wenn sie dazu Lust hat.

 

Was mache ich also jetzt? Ich muss meinen Ärger (denn den Teppichboden darf schließ­lich ich irgend­wann wieder ausbessern) an anderen auslassen. Und da kommt im Moment aus naheliegenden Gründen in er­ster Linie meine Frau infrage. Ich beschimpfe sie also, weshalb zum Teufel sie nicht die Mög­lichkeit in Erwägung gezogen habe, die Katze könne oben ein­gesperrt sein. Denn schließlich hatte sie mir ge­genüber be­hauptet, dass die Katze draußen sei. Und da­durch wurde bei mir, gerade erst nach Hause ge­kommen, das Nachdenken über andere Möglichkeiten ihres Aufenthalts von vorn­herein blockiert.

 

Weitere Vorwürfe in Richtung meiner Frau erweisen sich bald aber als fruchtlos, weil sie erstens bei solchen Anlässen immer ru­hig bleibt, und weil ich zweitens schließ­lich auch einsehen muss, dass sie tatsächlich davon ausgehen konnte, die Katze sei drau­ßen. Und dann kommt noch hinzu, dass wir Besu­cher haben und diese meine Einlassungen so inter­pretieren könnten, als halte ich eigentlich sie für schuldig und lasse meine Aggressionen nur ersatz­weise an meiner Frau aus.

 

Also muss ich einen Ausweg in Form eines neuen An­griffsziels finden - und da kommt nur der unter uns wohnende Nachbar infrage. Denn er, ein pensionier­ter Arzt, hat eben­falls oben noch ein Zimmer, genau neben dem unsrigen; und er verschließt ständig of­fen stehende Türen und kümmert sich auch sonst zu sehr um alles, was im Hause und um das Haus herum vor sich geht. Auch ist er als Hauptverdächtiger deshalb besonders ausge­wiesen, weil er die Katze nachweislich schon einmal eingesperrt hat - wenn­gleich aus Versehen und in seinen eigenen Raum oben, als sie ihm einmal nachgeschlichen war. - Aber nun muss ich mir von meiner Frau anhören, dass er doch so nett sei und die Katze so gern habe; die dürfe sogar tags­über auf seinem Bett schlafen, wenn sie, was oft genug vorkomme, seine Wohnung inspi­zieren wolle. Und er lasse sie auf das Fensterbrett in seinem Arbeitsraum, obwohl da allerhand wert­volle und zerbrechliche Dinge herumstünden, damit sie von dort aus die Vögel in und an dem Vogelhäus­chen vor dem Fenster genauer beobachten könne, als es ihr von unserer Wohnung aus möglich wäre. Des­halb rät mich meine Frau davon ab, mich unfreundlich zu verhalten und ihn viel­leicht darauf anzusprechen, die Tür bei uns wegen der Katze in Zukunft offen zu lassen. Schließlich haben wir ein sehr gutes Ver­hältnis zu ihm und auch zu seiner Frau - und die Katze ja auch schon lange.

 

Kurz - : Es fehlt mir jetzt auch das letzte Ziel, an dem ich meine Aggressionen auslas­sen könnte. Mir tut ja eigentlich nur die Katze leid, die vorhin vielleicht seit 17:00 Uhr oben eingesperrt war, mich kom­men gehört hatte und herunter wollte; den Teppichboden kann ich leicht reparieren. - Also be­ruhige ich mich schließlich wieder - auch in Hin­blick auf unsere Besucher, wel­che sich, bedingt durch die von mir verur­sachte Aufregung, einigerma­ßen verstört in die Küche zurückgezogen hatten.

 

Und irgendwann später gehen wir zu Bett. Die Katze tappst, als wir das Licht ausma­chen, wie immer auf unseren Füßen herum, schnurrt - wie um anzuzeigen, dass sie die Wartezeit bis zu ihrer Befreiung unbe­schadet überstanden habe -, und liegt schließlich ruhig am Fußende.

 

Am nächsten Morgen sieht alles schon wieder ganz anders aus; die Aufregung des vergan­genen Abends ist fast vergessen. Jetzt wird von den Besuchern, nachdem diese ebenfalls aufgestanden sind, ein Test durchgeführt, der im Öffnen der besagten Tür und nachfol­gender Kontrolle besteht; denn einer von ih­nen war auf die Idee gekommen, nach bis­her unbe­rücksichtigten Ursachen für die ge­schlossene Tür zu suchen. Dabei stellte sich heraus, dass der Wind die Tür zuge­schlagen haben könnte. Dies und nochma­liges Durchsprechen des Vorfalls trägt dazu bei, die Situation vollends zu entschärfen.

 

Aber für mich heißt das nicht, das Vorge­fallene in Vergessenheit  geraten zu las­sen. Denn es bleibt als grundsätzli­ches Problem, wie es möglich sein kann, mit ei­ner derartigen Si­tuation, die mit dem Ver­schwinden der Katze in Gang gesetzt wurde und in nachfolgende Aufge­regtheiten endete, in Zukunft besser umzu­gehen ist, ja wie man dafür sorgen kann, dass derartiges erst gar nicht auf­kommt. Es reicht nicht aus - und das ist meine fe­ste Überzeugung -, erst dann, wenn das Kind sozusa­gen in den Brun­nen gefallen ist, also im Nachhin­ein, in den sich dann entwickeln­den und eskalieren­den Prozess nur diesen entschärfend, nur kontrakon­fliktär ein­zugreifen, um zumindest die gröberen Schä­den wie ungerechtfertigte Verdächtigungen oder gar Beleidigungen ab­zuwenden. Nein, hier muss grund­sätzlicher vorgegangen werden und am besten strate­gisch, mit einem klaren Konzept, wie es mir jetzt vorschwebt - und zwar nicht nur für den bedauerli­chen Ein­zelfall, sondern auch für alle zukünftigen, ähnlich gelagerten, Fälle. Es ist also eine syste­matische Lö­sung anzustreben; und eine solche ent­spricht durchaus meiner Natur, wie es der­jenigen meines Nachbarn ent­spricht, ständig Türen abzusper­ren (obwohl er, wie gesagt, in dem vorliegenden Einzel­fall gut davonge­kommen ist, weil plausibel gemacht werden konnte, dass es auch der Wind hätte sein können). - Denn es ist schließ­lich, wenn man die Angelegenheit weiter durchdenkt, eine ver­schwundene Katze durch­aus nicht einmal der typische Anlass, der zu ver­gleichbaren Überreaktionen führen kann; man hat ähnliches in unendlich vielen ande­ren Fällen selbst erlebt oder von anderen ge­hört.

 

Was zu tun ist, das ist mir noch abends im Bett eingefallen: Man muss die möglichen Lö­sungswege auf die Frage „Wo ist die Katze?" vorwegnehmen und die bevorzugten Lokalitä­ten, an denen sich die Katze aufhalten könnte, systematisch abrufen - und zwar so lange, bis diese aufgefunden werden. Ja, es ist für mich klar: Ein solcher Fall, dass auf der Basis einer bloßen Behauptung beru­hend, die Katze sei draußen, die Aufmerk­samkeit einseitig gerichtet wird, woran sich wiederum zahlreiche unangenehme Folge­handlungen anschließen - ein solcher Fall soll nicht wieder vorkommen. „Ich werde da­mit fertig, da werde ich Abhilfe schaffen!" - Mit diesem Gedan­ken bin ich schließlich eingeschlafen. Meine Katze hat sich einge­rollt und ist ebenfalls eingeschla­fen, und auch meine Frau neben mir - in dem beruhi­genden Gefühl: Die Katze ist da!

 

Bis zum nächsten Abend war die Lösung herangereift, wie ich sie mir vorgestellt hatte, eine Lösung - und das kann ich ohne Übertreibung so konstatieren - für den ver­gangenen Fall und für alle vergleich­baren Komplikationen. Wir haben etwas Whisky ge­trunken, das heißt unsere beiden Gäste, meine Frau und ich, und wir saßen in der Küche nach dem Essen beieinander. Viel­leicht hing es damit zusammen, dass meine Lösung, die ich im Beisein aller entwic­kelte, zunehmend als nicht nur neuartig und kreativ, son­dern den anderen und auch mir selbst mehr und mehr als geradezu genial erschien. Gewisse anfängliche Mängel, die es erwartungsgemäß gab, konnten gemein­sam, also sozusagen in Teamarbeit, weitgehend aus­gemerzt werden. Die konkrete Ausarbei­tung blieb aber in allen Einzelheiten al­lein mir vorbehalten. Möglicherweise gibt es auch jetzt noch die eine oder andere Schwäche der Konzeption; aber insgesamt steht die Lösung so, wie ich sie mir ge­wünscht hatte. Erwähnt sei noch, dass ich viel Beifall er­halten habe; und das Geläch­ter der Anwesenden hatte weniger mit der Grundkonzeption des anschließend aufgezeig­ten Lösungsweges selbst zu tun, sondern galt mehr der Art der Durchführung im ein­zelnen und - aus deren Sicht - der für den Alltag als überzo­gen erscheinenden Systema­tisierung. Eine solche ist für mich aber gerade unverzichtbar; und sie kann meiner Meinung nach nur denen als lächerlich erscheinen, die mit dem systematischen Zu­griff auf Probleme wenig vertraut sind. Denn manch eine Stra­tegie und sogar wissen­schaftliche theoretische Mo­delle mögen dem als fremdartig oder gar lächerlich vorkom­men, welcher damit nicht ständig befasst ist; und außerdem, so meine Meinung, kann ein gewisser Unernst einer Theorie durchaus von Vorteil sein, wie die Wissenschaftsge­schichte lehrt. - Im Wissen darum bin ich deshalb unbeirrt von kleinmütigen Vorurtei­len an die Arbeit gegangen und habe das Er­reichte in die geeignete Form gebracht:

 

Beim Aufbau eines Entscheidungs- oder Fra­gebaums - so etwa habe ich meine Ausführun­gen zu dem relevan­ten Problemkreis begonnen - müssen wir ganz einfach oben ansetzen und fragen: „Was ist das Problem?" - Antwort hier: „Die Katze ist weg". Daran schließt sich dann die Frage an: „Wo ist die Katze?" - Meine Frau hat mich mit ihrer einzigarti­gen Begabung, al­les auf den Punkt zu brin­gen, sogleich darauf hin­gewiesen, dass eine stenogrammartig verkürzte Aufli­stung von Vorteil wäre. Sie hatte dabei wohl weni­ger an irgendwelche theoretischen Zielsetzungen ge­dacht, als vielmehr an unsere beiden Gä­ste, denen sie entgegenkommen wollte, weil die als Ausländer die deutsche Sprache nur mäßig beherrschen. Aber ich habe dies so­fort und gern aufgegriffen, beson­ders weil mir im Verlauf der Kreation entsprechen­der Strategie bereits als Fernziel unter an­derem der Ausbau der Idee bis hin zu Compu­terprogrammen für die Bewältigung aller alltäglichen Problemsi­tuationen vor­schwebte, die miteinander vernetzt werden könnten.

 

Aber im Moment wollen wir, um nicht gleich über das Ziel hinauszuschießen, mit dem kleinen, wenngleich für unsere Familie nicht unerheblichen, Problem be­fasst blei­ben, das nunmehr so formuliert werden kann: „Wo Katze?" (die Kopula und der Artikel sind entbehrlich) - mit der Antwort „Katze weg" (die Ko­pula ist nur entbehrlich, weil die Position der Antwort in der Abfolge der Schritte genau markiert ist).

 

Und jetzt sind wir bei einem entscheidenden Punkt angelangt, der einzeln abzuarbeiten ist: Es gibt gleich zwei bekannte berück­sichtigenswerte Möglich­keiten, wo sich die Katze aufhalten könnte - und daneben eine große Anzahl apokrypher Möglichkeiten. Letztere bleiben außer Betracht; sie werden nur der Systematik wegen aufgeführt, und gekennzeichnet durch ein Dummysymbol für „anderswo" (im Schrank, beim Nachbarn, im Regal hinter meinen Büchern etc.); es han­delt sich dabei also um eine offene Menge von Aufenthaltsorten. - Die anderen beiden Wege müssen hingegen systematisch zuerst abgearbei­tet werden, und zwar zunächst (1): „oben einge­sperrt". In diesem Fall lautet die weitere Anwei­sung: „Suche oben!" - Wenn die Katze oben aufgefun­den wird, ist dieser Suchweg zum glücklichen Ende geführt und alles ist gut. Die Antwort „Katze da" (komprimiert aus „Die Katze ist in der Woh­nung") wird sodann am besten notiert, um nicht in Verges­senheit zu geraten, weil an­dernfalls eventuell ein später eintreffen­des Familienmitglied wieder irre­geleitet werden könnte.

 

Im negativen Falle, d.h. wenn die Katze nicht oben ist, muss dann der Suchweg (2) beschritten werden, welcher lautet: „Suche draußen!". Dazu gehört min­destens einmali­ges Rufen der Katze vor der Haustür. Auf die genauere Angabe der Ausführungsbedin­gungen der entsprechenden Handlung sei hier verzichtet. Wenn die Katze draußen ist und mitkommt, ist auch hier mit der abschlie­ßenden Notierung „Katze da" ebenfalls alles in Ordnung.

 

Nun kann aber der Fall eintreten, dass die Katze sich draußen zeigt, aber nicht hinein will. Dann lautet die weitere Frage: „Was tun?" - Und hier kommt, wovon noch nicht die Rede war, ein Trick zur Anwendung, der auf jahrelangem Erfahrungswissen be­ruht; die Antwort, die abgearbeitet werden muss, lautet: „Anwende Trick!". Dieser Trick lässt sich folgendermaßen be­schreiben und ist be­sondert im Entschei­dungsbaum abgespei­chert. Er besteht aus dem Quadrupel „Person" (Px), „Napf" (N), „Breckies", zehn an der Zahl (B1o), und  „Aktion" Nummer 1 (A1), kurz {Px,N,B10,A1}, wobei B1o eine Teilmenge von Bi aller Breckies der Breckies-Trockenfut­terpackung ist, und A1 als „schütteln" ausbuchstabiert wird; unberücksich­tigt bleibt hier zunächst die Spezifizierung des Agens der Handlung, und der Einfachheit hal­ber auch eine ge­nauere Angabe zur Ausfüh­rung der Handlung, da es für unsere Zwecke nur auf das erfor­derliche Klappern der Breckies im Napf an­kommt, das der Katze als Sti­mulusreiz dient. - Das Ganze lässt sich dann verständ­licher so le­sen: „Jemand nehme den Fut­ternapf der Katze, tue zehn Breckies aus der Futterpac­kung hinein und schüttele die Breckies, damit die Katze durch das Klappern zum Fressen ge­lockt wird."

 

Wie man unschwer erkennt, bin ich bei aller Ein­fachheit der Darstellung mit meinen Überlegungen bereits ganz weit in einen Be­reich vorgedrungen - was ich für diesbezüg­lich vorgebildete Leser nur am Rande erwäh­nen will - , der Darstellungsprobleme der kognitiven Psychologie und Linguistik im Rahmen der Frametheorie (Sie wissen ja: Frames, Scripts, Plans, mentale Modelle etc. etc.) berührt, wo nicht viel anders ver­fahren wird, und woran sich die Nutzbarmachung für verschiedene Compu­terprogramme anschließt. Aber so­weit sind wir noch nicht; und so weit wollen wir nicht gehen, auch weil für unseren Anlass strik­tere Darle­gungen zu weit führen würden; schließlich soll die Zielgruppe der Laien angesprochen werden.

 

Wenn der Trick nach der Anweisung „Anwende Trick!" einigermaßen zufriedenstellend aus­geführt wurde (die Anzahl der Breckies; Form und Größe des Fress­napfes etc. können vari­ieren), und die Katze lässt sich durch das dabei obligatorische Klappern der Breckies ins Haus locken, dann ist auch hier das er­wünschte Resultat erreicht. Wir notieren: „Katze da".

 

Was aber ist zu tun, wenn die Katze trotz­dem nicht kommt, weil sie sowieso satt ist oder den Trick als solchen durchschaut? - Hierfür wird eine, ebenfalls auf Erfah­rungswissen beruhende, weitere Lösung vor­geschlagen, eine Variante des dargelegten Tricks, nämlich Personenwechsel, und zwar mit meiner Frau, abgekürzt als „F", sodass wir im obigen Quadrupel den Index „x" durch „F" ersetzen können und somit erhalten „PF". -

 

Dazu muss man, was zu den Rahmenbedingungen des Handlungsspiels gehört, wissen, dass meine Frau in besonderer Weise das Ver­trauen der Katze genießt, was in anderem Zusammenhang schon angedeutet wurde. Be­reits feine Gesten, die ich kaum bemerke, wenn ich nicht besonders aufmerksam hinsehe, reichen ihr aus, um auf die Katze ein­wirken zu können, sie zum Beispiel zu maß­regeln oder sie zu irgend etwas an­zuspornen, zum Beispiel mich zum Spielen zu locken. Die Katze ihrerseits kann jede Stimmungslage genau einschätzen; sie reagiert auf Gemütsregungen in ihrem Um­feld, wie Lachen oder Weinen, in Mimik und Gestik so, wie es sich manche Tierpsycholo­gen über­haupt nicht vorstellen können. Und was das Verbale angeht, so gehorcht sie meiner Frau gewöhnlich aufs Wort -: Sie ver­steht manchmal überhaupt mehr, als sie sollte, oder was aufgrund ihres doch tie­rischen Daseins von ihr zu erwarten wäre.

 

Meine Frau ist für die Katze - und darauf hinzuweisen kommt es hier an - eben so et­was wie eine Ersatzmutter; denn unsere Katze wurde zu früh ihrer leiblichen Mutter weggenommen, dann mit einem Fläschchen auf­gezogen und zeigte infolgedessen von klein auf eine große Anhänglichkeit. Würde man sagen, sie sei durch Ein­wirkung meiner Frau in hohem Maße ihrer Natur ent­fremdet wor­den, so wäre das sehr unschön gefasst - nein: Meine Frau hat der Katze, wie sie sich auszu­drücken pflegt, „den Geist einge­haucht" und sie aus tierischem Stumpfsinn auf eine höhere Stufe des Be­wusstseins geho­ben. - Ich selbst neige dazu, das, was meine Frau bei diesem Wesen bewirkt hat, etwas sachlicher zu fassen, nämlich dass sie bei der Katze das Optimum dessen herausge­holt hat, was aufgrund anlagebedingter Be­schränktheiten eben bei einer Katze er­reichbar ist. Einig sind wir uns darin, dass das durchaus nicht wenig ist und immerhin viel mehr, als manch ein als Mensch be­zeichnetes Lebewe­sen an Vernunft und Sensi­bilität aufzubringen in­stande ist.

 

Bei allem, was sie auszeichnet, weist diese Katze selbstverständlich noch tierische Züge auf: Eine Maus fangen kann sie durch­aus; nur scheint sie mir bei dieser Proze­dur allzu viel Mitleid zu zeigen, weshalb sie ein solch niederes Tier normalerweise schnell tötet - oder es einfach laufen lässt. Nur ganz dumme Mäuse lassen sich von ihr fangen; und gefressen hat sie eine Maus wohl noch nie - wahr­scheinlich, weil sie es nicht nötig hat. Viel lie­ber schaut sie sich Tierfilme an; besonders solche mit viel Vogelgezwitscher machen ihr viel Spaß, aber auch Tom und Jerry. Dazu setzt sie sich direkt vor den Fernseher und gibt ab und zu mit Blick zu uns ihre Kommentare ab. Ich verstehe nicht gut ge­nug oder nur sehr grob, was sie zu bemerken hat, aber meine Frau kann das alles immer ganz ausführ­lich interpretieren.

 

Also: Aufgrund der besonderen Vertrautheit meiner Frau mit der Katze ist deren Einsatz im Rahmen des erläuterten Suchwegs beson­ders lohnend. Wir können also als zweiten Trick ansetzen: „Personenwechsel". Dazu muss (es ist schließlich nur eine Variante von Trick Nummer 1) lediglich „Px" nach „PF" verändert werden. - Meist aber reicht sogar das Auftreten mei­ner Frau vor der Haustür aus, damit die Katze hereinkommt. Wir ge­langen also auch hier wieder zu dem End­punkt: „Katze kommt", oder aber - schlimm­stenfalls – „Katze kommt nicht". Dann gibt es zunächst nur eines: „Wiederhole Trick!" bis der gewünschte Er­folg ein­tritt. Das kann im Extremfall hei­ßen: die ganze Nacht hindurch halbstündlich zur Korridortür lau­fen, die Katze rufen, mit dem Fressnapf han­tieren, wieder hochge­hen, usw. Aber das wird, weil man ja auch einmal schlafen möchte, wohl nicht prakti­ziert werden; und das ist - auch vor unse­rem jetzigen re­flektierten Zugriff - nicht ein einziges Mal konse­quent durchgeführt worden.

 

Der andere Endpunkt auf diesem Wege - und der dann wahrscheinlichere - ist erreicht, wenn beschlossen wird: „Katze bleibt drau­ßen". Damit würden wir al­lerdings eingeste­hen, dass wir auf dem Suchweg (2) mit unse­rem Latein am Ende sind. Eine unruhige Nacht ohne Katze, das Warten darauf, dass sie wenig­stens am nächsten Morgen kommt so­wie die Befürch­tung, sie könnte morgens allzu früh vor der Haustür so laut schreien, dass die Nachbarn geweckt werden, wäre die Folge. Aber das müssten wir dann halt in Kauf nehmen.

 

Ich habe den Eindruck, dass die bisherige Darstel­lung, wenngleich sie als vorläufig betrachtet wer­den kann, doch - dem Beifall der Anwesenden nach zu urteilen - schon als ganz brauchbar anzusehen ist. Und gleich­sam, um mir die Möglichkeit zur Demon­stration in der Praxis zu geben, ist die Katze - es ist mittlerweile 21:50 Uhr - jetzt schon wieder weg. Unter Anwendungsge­sichtspunkten ist dies zum gegebenen Zeit­punkt durchaus als glücklicher Um­stand zu erachten; günstig ist auch, dass nochmalige Erregung meinerseits nunmehr von vornherein ausge­schlossen ist, denn ich selbst habe die Katze um 20:00 Uhr hinausgelassen. Es braucht also nur der Entscheidungsweg nach (2), also „Suche draußen", beschritten zu werden. Deshalb kann ich mich gleich an die praktische Durchführung machen. - Doch halt: Der Systematik und der Vollständig­keit halber, und auch von der überschwäng­lichen Aufnahme meines Problemlösungs-modells getragen, ziehe ich es dennoch vor, zur Veranschaulichung des Vor­gehens, zur de­monstratio ad oculos, bei (1) „Suche oben" zu be­ginnen. Und dies auch aus dem Grund, da es nicht auszuschließen ist, dass die Katze mit irgendwem zwischenzeit­lich ins Haus gelangt ist, sich in das oben gelegene Zimmer zurückgezogen hat, die Tür dann zu­gefallen ist oder zugemacht wurde, und sie wieder eingesperrt ist - sodass wir die gleiche Aus­gangssituation hätten wie am Vortag.

 

Aber nun ist alles doch ganz anders - wie ich im Hochgefühl des Erreichten sagen will und zu zeigen ver­mag -, nämlich dass die unnöti­gen Folgehandlungen bereits jetzt nicht mehr eintreten können, eben weil ich der Situation nicht mehr mit leeren Händen ge­genüberstehe. Nein, durchaus nicht: Jetzt schaue ich auf den Plan: „Problem?" --- „Katze weg!" --- „Wo Katze?" --- (1) „Oben eingesperrt?" --- „Suche oben!" - Ich gehe jetzt, für alle nachvollziehbar - und hof­fentlich hat das Lachen unserer Besucher die Nachbarn nicht zu sehr gestört - demon­strativ nach oben. Da die Katze, wie zu er­warten, nicht oben ist, werde ich sogleich zu dem Suchweg (2) ge­leitet: „Suche drau­ßen!" - Und dies geht, wie man sieht, jetzt alles wunderbar systematisch!

 

Und wie es halt kommen sollte, konnten wir an die­sem Abend den gesamten Suchweg nach­gehen - sogar bis zu dem Punkt, an dem meine Frau als Autorität auf­treten sollte. Und wie sehr hätte sie sich einen Erfolg er­hofft, um nun ihren außergewöhnlichen Ein­fluss auf die Katze auch vor den Gästen un­ter Beweis stellen zu können! - Aber die Katze hat ihr den Ge­fallen nicht getan. Sie zeigte sich immerhin in der Nähe der Tür; aber sie zeigte ihr auch unmissver­ständlich, indem sie sich auf den Rücken legte und dann langsam vom Haus weg in Richtung Gar­ten ging, dass sie noch draußen bleiben wollte. Da wir nach gemeinsamem Beschluss die Prozedur nicht bis zum Er­folg fortset­zen wollten, gelangten wir an den Punkt, auf den ich jetzt allerdings mit dem Finger auf den Strategieplan zeigen konnte: „Katze bleibt draußen". - Ich habe sie dann am nächsten Morgen ins Haus ge­holt; sie hat schon gewartet und fürchterlich ge­schrieen.

 

So bedauerlich dies auch war - es hat mich doch darauf aufmerksam gemacht, dass bei al­ler Stringenz, die in der Systematik des Auffindungsmodells liegt, eine Schwäche zu verzeichnen ist, und worin diese besteht. Die Schwäche liegt in der - lediglich auf vorausgegangenem Erfahrungswissen basieren­den - Einschränkung der Perspektive am Punkt „Anwende Trick!". Denn die beiden Tricks sind allzu sehr fa­milienintern und einzelfallbezogen, d.h. bezogen auf das, was in Hinblick auf diese einzelne Katze von uns bisher als erfolgreiche Anlockstra­tegie praktiziert worden ist. Denn wäre es nicht auch möglich, eine Katze anderswie hereinzuholen? Denk­bar wäre doch, die Katze mit einem Lasso einzufan­gen, sie mit einem Betäubungsmittel von der Haustür aus zu be­schießen oder ein solches aus einem Heli­kopter zu versprühen. Allerdings steht da­bei die Aufwand-Effekt-Beziehung ganz gra­vierend im Wege - nicht nur, weil bei der Katze aufgrund ihrer Sensi­bilität und An­hänglichkeit bleibende Schäden zu be­fürchten wären, was unsere Einstellung zu uns und ihrem häuslichen Umfeld angeht; sie könnte sogar für immer verschwinden. Damit wäre zwar das uns be­wegende Ausgangsproblem „Katze weg" aus der Welt, aber auch die Katze. Und das wollen wir doch nicht; wir mögen unsere Katze ja so sehr. Des­wegen kam ich schnell von solchen Gedanken ab. Lie­ber lassen wir sie einmal draußen, wenn sie es ab und zu möchte. Und darin waren wir uns alle einig.

 

Ich habe dann nochmals deutlich im Sinne einer Ver­allgemeinerung darauf hingewiesen: Das dargelegte strategische Vorgehen kann zur stressfreien Bewälti­gung von Alltagspro­blemen überall dort eingesetzt werden, wo mit Überreaktionen aufgrund nichtiger An­lässe zu rechnen ist. Man brauche nur den Frage­baum auf jeweils gegebene Problemlagen auszurich­ten.

 

Als ich wieder im Bett lag, ohne Katze am Fußende und in der Hoffnung, dass sie außer ihrer sonstigen Begabung wenigstens nicht auch noch telepathische Fähigkeiten habe, also meine ausufernden Gedanken zu ver­schiedenen Einfangmethoden vor ihr verbor­gen bleiben mögen, waren mir im Halbschlaf noch zahl­reiche fruchtbare Erweiterungen meiner Strategie in den Sinn gekommen: Ach wie nützlich wäre es -  auch in gesamtge­sellschaftlichem Rahmen -, wenn jede Fa­milie zur Bewältigung der für sie je rele­vanten Problemlagen auf entsprechende Pro­gramme zurück­greifen könnte. Eine solche, gleichermaßen unauf­fällige wie effektive therapeutische Maßnahme, flächendeckend eingesetzt, wäre geeignet, einen Großteil aller missliebigen Aggressionen aus der Welt zu schaffen. Natürlich könnte ich als Initiator und Ideenlieferant -  - gegen ein entsprechendes Hono­rar - noch am besten und ganz vertraulich zielfüh­rende Programment­würfe auf jeweilige Bedürfnisse zuschnei­den.

 

Möglicherweise habe ich eine Marktlücke entdeckt, deren Tragweite sich heute noch gar nicht abschätzen lässt. Und mir schwebte schon vor, dass in jedem Haushalt ein schwarzes Brett hängt, an dem entspre­chende Probleme, die Konfliktherde werden können oder schon lange sind, mit variablen Lö­sungswegen verzeichnet werden. Betroffene Familienmitglieder brauchten aufgrund der Systematik nur noch nach­zusehen, was im Fall des Falles zu tun ist: „Hamster frisst nicht", „Frau geht fremd", „Sohn säuft", „Tochter schwanger", „Hund Bandwurm", „Kann nicht schlafen" ....Mir sind sofort unzäh­lige Fälle eingefallen, die dringend der systematischen Bear­beitung bedürfen, weil daraus erfahrungsgemäß Är­gernisse resultie­ren können. So würden viele Quel­len, die Harmonie verhindern, ganz schmerzlos und effektiv verstopft.

 

Mir zeichneten sich für vieles bereits kon­krete Vorschläge ab, und ich hätte auf der Stelle hun­derte von Entscheidungsbäumen skizzieren können Aber ich hatte keine Lust, noch aufzustehen; und ich wollte auch meine Frau nicht stören, die schon lange schlief. Das verschiebe ich auf morgen, sagte ich mir, wenn meine Katze hoffentlich wieder da ist und wie immer dann, wenn sie nachts einmal weg­geblieben ist, den ganzen Tag am Schreibtisch neben mir schläft.

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Ein Zimmer ist frei

 

(Szene aus dem seinerzeit geplanten Roman „Bergenzigborn“)

1993

 

Werner Wolski

 

 

Ich brauche an meinem Dienstort ein Zimmer. Deshalb habe ich eine Annonce in der Regionalzeitung aufgegeben mit dem Inhalt „Uni-Angestellter sucht möbliertes günstiges Zimmer" und die Zeiten angegeben, zu denen ich telefo­nisch erreichbar bin. Unkompliziert wie ich bin, ist mir - fast - jedes Zimmer recht: Straßenlärm vermag mir nichts anzuhaben, auch nicht großer Lärm im Hause, wenn der sich nicht ständig auf die Nacht erstreckt. Ob ich Trompete spielen darf, werde ich natürlich nicht fragen; ich tue es einfach - natürlich nicht zu unmöglichen Zeiten und auch nur unter Verwendung des leisesten Dämpfers. Mit Mitbewoh­nern werde ich keine Schwierigkeiten haben. Ich kann so­wieso mit allen - seien es Männlein oder Weiblein - gut aus­kommen; das war schon immer so. Was ich nicht erwarte, sind menschliche Komplikationen, wie bei meinen früheren Wohnverhältnissen im Heidelberger Raum:

 

In Dossenheim zum Beispiel hatte ich einen Nachbarn, der Wirtschaftswissenschaftler war; mit ihm teilte ich zusam­men mit einem Mathematiker, der an seinem Promotions­vorhaben zu Gleichungssystemen saß, Küche und Bad. Un­sere drei Zimmer lagen in einer Souterrainwohnung: Wir sahen sozusagen vom Kellerfenster aus auf den schönen großen Garten der Vermieter, der das Haus umgab und in dem ich (wenn ich mich recht erinnere) überhaupt nur einmal gesessen habe, um einen Artikel für eine Zeitschrift zu konzipieren.

 

Der Hauswirt war nicht unangenehm, aber irgendwie schon ein komischer Kauz. Er muss in früheren Jahren bedeu­tende Leistungen im Bereich der Ingenieurwissenschaften erbracht haben, wenn ich seinen oft in Details gehenden Ausführungen Glauben schenken kann. Mit seiner Frau verband ihn das Bemühen darum, die geistig behinderte fünfundzwanzigjährige Tochter zu verhätscheln. Damit war vor allem sie ununterbrochen beschäftigt; und auf das Wohlergehen der Tochter bezogen sich fast ausschließlich die Gespräche mit mir und den Mitbewohnern.

 

Der Wirtschaftler hieß Herbert und war ein netter offen­herziger Kerl. Wir verstanden uns gut und sind abends oft zusammen ausgegangen. Er hatte ein Verhältnis mit Gabi, einem einfachen und ehrlichen Mädchen aus dem bayerischen Raum, das ihn von Zeit zu Zeit besuchte und das sich eine festere Bindung mit ihm er­hoffte. Dem Hauswirt war es eigentlich überhaupt nicht recht, wenn auf unserem Flur gelegentlich eine weibliche Person aus dem Bad oder ins Bad huschte; er legte es aber immer auf ein Zusammentreffen mit ihr geradezu an, wenn er (wie wir es alle sahen) unter dem Vorwand, nach der Heizung sehen zu müssen, „herumspionierte". Er äußerte sich nicht direkt zu dem Frauenbesuch, der mit der Zeit häufiger und länger wurde, machte höchstens mir gegen­über ein paar Bemerkungen, war aber ansonsten (obwohl prüde und äußerst konservativ) darum bemüht, als tolerant und weltoffen zu erscheinen.

 

Herbert war immer auch in andere Affären verstrickt und wollte sich - bei aller Liebe, die ihm von Seiten seiner Freundin entgegengebracht wurde und die er auf seine Weise zu erwidern pflegte - offenbar nicht auf eine einzige Liebespartnerin festlegen. Streitigkeiten zwischen den bei­den, die mit der Zeit zunahmen, konnte ich allabendlich durch die hellhörige Wand mitverfolgen, wenn ich in mei­nem Zimmer saß, um mich ein paar Tage von meiner eigenen, mich völ­lig beanspruchenden Beziehung und gewissen Problemen damit zu erholen. Viel Arbeit war in den vorangehenden langen Wochen dadurch liegen geblieben; mir war klar, dass ich wieder etwas schaffen musste, um vollständig zufrieden sein zu können. Hier, wo ich allein war, nicht einmal einen Fernseher hatte und nur ein uraltes Radio, erschien der Platz dafür geeignet. Ich vertiefte mich in ein größeres Pro­jekt, dessen Verwirklichung mindestens zwei Jahre bean­spruchen sollte. Das waren die später weithin beachteten Übersetzungen repräsentativer Arbeiten russischer Wörterbuchforscher, die vorher bei uns kaum jemand kannte (samt Teilübersetzungen, Abstracts, Bibliographie etc.). Ansonsten las ich überwiegend Partituren der Werke von Johannes Brahms (hier vor allem die Sinfonien und Klavierkonzerte), und daneben von Gustav Mahler, deren Struktur ich zu ergründen suchte und deren Musik immer wieder in meinem Kopf entstand; dazu brauchte ich keine Musikan­lage.

 

Als es eines Abends nach heftigem Streit nebenan ruhig wurde und ich, bereits im Bett liegend, im Deutschen Re­quiem von Brahms gerade an der Stelle angelangt war „Herr, lehre mich doch...", klopfte es an meiner Tür. Es war die Freundin von Herbert - ein Häufchen Elend in rotem Negligé: Sie müsse mit jemandem sprechen, sie sei zutiefst ge­demütigt worden, halte das nicht mehr aus; verflucht sei er, dem sie sich mit ehrlicher Zuneigung

hingeben habe; überhaupt habe sie es immer geahnt, dass er nur ein Spiel mit ihre treibe. Und was tat ich? – Ich nahm sie in den Arm, gab ihr etwas zu trinken, tröstete sie, erklärte ihr etwas von Brahms, als sie das auf dem Bett liegende Buch ergriff und danach fragte, womit ich mich eigentlich be­schäftige (ich hätte sonst nicht davon angefangen). Dann sprach ich zehn Minuten über Musik, und nochmals minde­stens zehn Minuten, während sie sich einfach auf mein Bett legte, die Augen schloss und mehrfach beteuerte, dass ich weitermachen solle, sie mir tagelang zuhören könne und derartiges bei ihrem Freund so sehr vermisse, ich ihr aber zu verstehen gab, dass eine Auseinandersetzung mit sehr vielen Bereichen zu meinem normalen Leben gehöre, sie mich sowieso nicht mit anderen Männern vergleichen dürfe und ich ansonsten zur Zeit sehr gebunden sei, weshalb jetzt vernunftbetonte Überlegungen zur weiteren Verfahrens­weise angeschlossen werden müssten, etc. etc.

 

Aber dann blieb sie trotz (oder gerade wegen?) meines Zu­redens und der von meiner Seite geäußerten Bedenken doch bei mir; und sie blieb auch noch die nächsten Tage und die nächsten Nächte.

 

Herbert war sofort nach dem Streit zu seinen Eltern gefahren und anschließend bald weggezogen. Ihm, der einen großen Vollbart trug und eine sportliche Erscheinung war, passierte zwei Wochen später das furchtbare Missgeschick, dass ihm nach und nach sämt­liche Haare an seinem Körper ausgingen: Zuerst verlor er den Bart auf seiner rechten Gesichtshälfte, dann auf der linken; schließlich hatte er nicht einmal Augenbrauen und Wimpern. Durch Einwirkung von Cortisonspritzen war er bald darauf furchtbar dick geworden und aufgrund der Haarlosigkeit derart verunstaltet, dass man sich schämen musste, mit ihm auf der Straße gesehen zu werden.

 

Mein Nachbar Rüdiger, der Mathematiker, war ein ganz anderer Mensch als Herbert. Obwohl nicht gerade unan­sehnlich (derartiges kann ich bei Männern aber nicht genau beurteilen), war er irgendwie eckig wie ein alter Hamster. Und ich kann berechtigterweise - seinen Briefen nach zu urteilen, die er mir mindestens immer zu Weihnachten schickt - davon ausgehen, dass er auch heute noch so ist, wie ich ihn damals kennengelernt habe: Er stand genauso früh auf wie ich, nämlich etwa um 6:00 Uhr (Herbert schlief minde­stens bis 10:00 Uhr); nachdem er im Bad war, pfiff er sofort meist irgend ein Thema aus einer Sinfonie von Beethoven, riss mit großem Elan sämtliche Türen des Küchenschranks auf, lief hektisch hin und her, um alle ihm zur Verfügung stehenden Lebensmittel (Brot, verschiedene Sorten Wurst und Käse, Butter, Senf, Mayonnaise, Oliven u. a. m.) samt Serviette auf dem Tisch auszubreiten. Dann machte er sich sogleich daran, mindestens eine Stunde lang zu früh­stücken und dabei die Zeitung zu lesen. Obwohl auch ich morgens sozusagen „sofort da" bin, war es mir - bei aller Liebe zur Musik - immer zutiefst zuwider, mich beim Auf­stehen gleich der unvollkommen gepfiffenen Melodie z.B. des Hauptthemas der fünften Sinfonie von Beethoven oder von Phrasen aus den „fünf Jahreszeiten" Haydns ausgesetzt zu sehen. Seine Einladungen zum ausgiebigen Frühstück habe ich nur aus Höflichkeit manchmal angenommen; viel Geschwätz am Morgen (insbesondere über theoretische Probleme) ist nicht meine Sache, obwohl ich gewiss kein Morgenmuffel bin, was jede Frau bezeugen kann, die mit mir zusammengelebt hat. Aber ich muss zugeben, dass ich seine Ausführungen über algebraische Topologie und Chaos-Theorie durchaus als Bereicherung empfand. Über Astronomie (Wurmlöcher, weiße Zwerge, Singularitäten usw.) wiederum konnte ich ihm vieles erklären; er verstand davon wenig. Über meine eigentliche Sparte, die Sprachwissenschaft, habe ich schon immer ungern mit anderen geredet, weil ich mir davon nichts verspreche und es für vergeudete Zeit halte, mich diesbezüglich zu verausgaben.

 

Rüdiger war damals etwa 29 Jahre alt, stark mutterabhän­gig und hatte, wie er mir vertraulich mitteilte, bisher nur wenige unvollkommene Kontakte zu weiblichen Personen. Er war einer Fortsetzung dahingehender Bemühungen zwar nicht vollkommen verschlossen, aber leider der vagen und illusionären Hoffnung hingegeben, ihm werde irgend­wann ein Engel über den Weg laufen, der es auf ihn und nur auf ihn abgesehen habe. Wie ich im Rückblick feststel­len kann, hat er sich mir gegenüber auch durchaus niemals als homosexuell gebärdet; dann wäre ich sofort weggezogen. Vielmehr war er - und ist er auch heute noch - am ehesten als asexuell oder irgendwie komisch zölibatär zu bezeich­nen. In meinem Bemühen, ihm eine Verbindung zu Frauen zu ermöglichen, war ich seinerzeit aus reiner Sympathie oder aus Mitleid so weit gegangen, zwei lose Damen (denen gegenüber ist vorher genaue Erklärungen abgegeben und fi­nanzielle Zusagen gemacht hatte) in ein Restaurant einzu­laden, um dort mit Rüdiger - ganz zufällig - zum verabrede­ten Zeitpunkt aufzutauchen. Aber als wir uns, wie von mir arrangiert, neben den Damen am Tisch platziert hatten, nahmen die Gespräche einen Verlauf, der mich schnell die Vergeblichkeit meiner Bemühungen erkennen ließ: Rüdiger zeigte sich nämlich der Situation in keiner Weise gewachsen; er erzählte ununerbrochen von mathematischen Details seiner Arbeit, was geradezu peinlich war. Die Unter­haltung mit den Damen lief immer mehr auf mich zu; und am Ende musste ich all meine Überzeugungskunst aufbie­ten, um ihnen (während Rüdiger auf die Toilette gegangen war) glaubhaft zu machen, dass ich persönlich es nicht nö­tig habe, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Was die von uns hielten, konnte ich mir leicht ausmalen; das war mir aber egal. Die Damen gaben sich mit einer großzügigen Entschädigung für vergeudete Stunden zufrieden, womit die Angelegenheit erledigt war. Rüdiger hatte von allem nichts mitbekommen. Erst viel später, als ich schon in Heidelberg wohnte, erzählte ich ihm alles, worauf er noch anhänglicher wurde als früher und mich seitdem als echten Freund betrachtet.

 

Dass Rüdiger offenbar auch jetzt, nach so vielen Jahren, noch immer an seiner Mutti hängt und keine Partnerin ge­funden hat, tut mir leid; ihm ist nicht zu helfen. Er sitzt im Keller von Siemens in München, rechnet Fahrpläne für IC-Züge aus und ist unglücklich mit seiner Arbeit. Herbert habe ich vor Jahren noch einmal im Bahnhof von Heidel­berg gesehen. Er war auf mich zugekommen mit den Wor­ten: „Werner, was machst du?" Ich hätte ihn nicht wiederer­kannt mit seinem künstlichen Haarteil, den aufgemal­ten Wimpern und Augenbrauen. Er ist irgendwo in Däne­mark bei einer großen Firma beschäftigt.

 

Ich muss jetzt gleich losfahren, um mir ein Zimmer anzuse­hen. Ein Mann hat angerufen und mich auf eine Frau ver­wiesen, mit der ich mich in Verbindung setzen solle, falls ich an dem Angebot interessiert sei. Was er mir mitzuteilen hatte, klang ganz gut: 330.- DM, zehn Minuten von der Universität entfernt,

„Arnimstraße 3, Tel. 2546". Ich habe den Stadtplan kurz betrachtet, um die Straße in dem mir fast unbekannten Ort auszumachen und sodann die Straßen­namen im Umfeld des Zielpunktes auf einem Zettel ver­zeichnet. Aber das Gefühl, mit den Ergebnissen meiner Re­cherchen vielleicht doch nicht richtig zu liegen, veranlasste mich dazu, zusätzlich eine Studentin zu fragen, ob sie sich auskenne. Das hat sich als vorteilhaft erwiesen: Sie stammte zufälligerweise aus dem Ort und konnte mir kompetent darüber Auskunft geben, dass ich mich in eine ganz andere Richtung bewegen müsse, als ich sie anhand der Karte aus­machen konnte.

 

Ich sitze in meinem Auto, den handgeschriebenen Plan ne­ben mir auf dem Beifahrersitz. Es ist schon dunkel, und es regnet stark. Da stehen acht Straßennamen, die ich immer wieder anschaue, um mich an sie erinnern zu können, wenn ich plötzlich beim Vorbeifahren den einen oder ande­ren erkennen sollte. Mir ist es egal, ob ich die Arnimstraße sofort oder erst eine Viertelstunde später finde: Ich fahre einfach herum, höre dabei Musik, suche, finde nicht, finde doch etwas in der Richtung, suche weiter, fahre rechts in eine Straße hinein, fahre links in die nächste hinein, fahre zurück, weil ich einen Straßennamen identifiziert habe, der auf meinem Zettel steht, sehe eine sehr gepflegte Umgebung und einen Laden. Bald finde ich die Arnimstraße; da mache ich mir keine Sorgen. Natürlich werde ich, wenn es noch lange dauert, jemanden danach fragen müssen.

 

Ist es eine alte Oma, mit der ich es zu tun bekommen werde? - Dann weiß ich schon jetzt: Wenn sie noch nicht ganz ausgetrocknet ist, wird sie mich genau taxieren und mich sofort sehr sympathisch finden; sie wird mich darum beten, sie beim Gehen zu stützen, weil sie Probleme mit dem Hüftgelenk hat. Sie zeigt mir dann das vorteilhaft ausgestattete Zimmer in einem Haus, das sich natür­lich in sehr guter Wohnlage befindet, mit Garten, luxuriö­sem Bad und mit einer Küche, deren reichhaltige Ausstat­tung ich überhaupt nicht nutzen werde. Denn ich brauche ja nur eine Toilette, ein Bad mit Dusche und eine Fläche, auf der ich Kaffee kochen und ein halbes Brötchen mit Käse essen kann. Aber ich werde mich lobend darüber äußern, dass mir mehr geboten wird als ich benötige. Sodann wird die Alte mich in ihre Wohnung führen, um mir die Bedeutsam­keit jedes Möbelstücks ihrer Ausstattung einzeln zu erklä­ren. Und ich zeige sicher, höflich wie ich bin, dass ich etwas von Möbeln aus der Zeit des Biedermeier und Rokoko sowie entsprechenden Imitationen verstehe. Aber ich werde darum bemüht sein, nicht mehr als nötig von mir zu erzählen. Danach wird sie mich bald mit ihrem verstorbenen Mann vergleichen und in fast jeder Hinsicht große Ähnlichkeiten zwischen ihm und mir feststellen. Ich bin, wenn ich auf alle Zeiten der Begegnungen mit alten Frauen zurückblicke, schon mindestens einem halben Dutzend verstorbener Ehemänner ähnlich.

 

Und sollte es eine junge und attraktive Dame sein, auf die ich treffe? - Sie wird mir sogleich viel Vertrauen entgegen­bringen, und ich werde ihr bald irgendwelche Komplimente machen. Dann dauert es nicht lange, bis ich ihr furchtbar viel von mir erzähle, ohne das eigentlich zu wollen. Sie wird, weil wir nach kurzer Zeit auch verschiedene Gemeinsamkeiten entdecken, schnell über

ausgefallene Bemerkungen aus meinem Munde lachen, mich für sehr eigenartig halten, sich einerseits ganz und gar von mir beeindruckt, andererseits aber fast erdrückt davon fühlen, über was ich alles plaudern kann. Und ich werde an ein einzigartiges Zusammentreffen glauben, der Reihe nach Vergleiche mit anderen anstellen, ihr Lachen und ihre ganze Erscheinung reizend finden. Natürlich verstehen wir uns gleich viel zu gut, ohne uns dessen im Moment bewusst zu sein; aber jeder Außen­stehender würde sich darüber mehr als nur wundern.

 

Wenn wir uns zur Unterschreibung des Mietvertrags tele­phonisch verabreden, sprechen wir am Telefon bestimmt fast eine Stunde miteinander. Sie wird Andeutungen über ihre unbefriedigende Liebesbeziehung zu einem un­scheinbaren, gutbürgerlich-biederen Mann machen und er­zählen, dass sie bisher nur aus Trägheit keinen entschlosse­nen Ausbruchversuch unternommen habe sowie auch des­halb, weil seine Eltern und ihre gut miteinander befreundet sind. Und ich werde meinerseits durchblicken lassen, dass meine Liaison aufgrund verschiedener Probleme mittler­weile nur noch auf gegenseitige menschliche Wertschätzung gründet, und nicht mehr. Wir unterhalten uns sicherlich über Gott und die Welt, als wenn wir uns schon ewig ken­nen; aber wir reden nicht klar, sondern in verschleierter Form, um uns Rückzugsmöglichkeiten offen zu halten und nicht wechselseitig auf etwas festgelegt werden zu können, was wir nicht aussprechen wollen. Wir werden staunend und mehr mit Befürchtungen als mit Freude bemerken, dass wir auch in ganz belanglosen Kleinigkeiten übereinstimmender Meinung sind - und uns dann für den nächsten Tag zur Vertragsunterzeichnung verabreden.

 

Aber ich weiß schon jetzt, dass sie für mich nicht infrage kommt und dass sie sich lieber ihrem Biedermann oder je­dem x-beliebigen hingeben würde als mir: Ich werde, auf­gewühlt durch zu viele Phantasien und nach zu wenig Schlaf, zu ihr in die Arnimstraße kommen. Sie wird die Tür öffnen und mich einer männlichen Person vorstellen, die sie im Arm hält, was sie wahrscheinlich bewusst so arran­giert hat. Dann merke ich, dass ich wieder einmal alles falsch interpretiert habe, dass ich irgendwie überhaupt nichts von Menschen verstehe. Ich werde freundlich sein und mir nichts anmerken lassen; sie wird sich eher spärlich äußern und meist schweigen; und er wird mich nett finden und sagen, er begrüße mich hier als Mitbewohner. Darauf geht mir sicher durch den Kopf, wie es möglich sein kann, dass eine intelligente, gut aussehende Frau sich mit einem derart mittelmäßigen und unbedeutenden Menschen ab­gibt. Eine Antwort darauf werde ich nicht finden, aber auch nicht suchen: Zu enttäuschen bin ich längst nicht mehr.

 

Natürlich verabschiede ich mich schön mit der Erklärung, dass ich nur gekommen sei, um zu sagen, dass ich das Zimmer aufgrund eines kurzfristig sich ergebenden Arbeitsplatzwechsels nicht nehmen könne. Dann werde ich mich in mein Auto setzen, das Radio einschalten, mir eine Zigarette anzünden und davonfahren. –

 

Nach einigem Suchen, und nachdem ich an einer Tankstelle nach der Straße gefragt habe, komme ich pünktlich zur verabredeten Zeit in die Arnimstraße, Haus Nummer 3. Mir öffnet sofort eine etwa siebzig Jahre alte Frau, die trotz ihres Alters agil wirkt. Sie sieht mich genau an, nimmt ih­ren Schirm und bedeutet mir, dass wir in das Nachbarhaus gehen müssten. Sie bittet mich darum, sich bei mir unter­haken zu dürfen, da sie aufgrund einer Arthrose schlecht laufen könne. Dann zeigt sie mir das im ersten Stock gele­gene Zimmer mit angrenzender Küche und Bad. Alles ist in bestem Zustand und gut ausgestattet. Die Treppe geht sie anschließend rückwärts herunter, weil ihr das bequemer sei und weniger Schmerzen bereite. Draußen erläutert sie mir, weil ich auf das Schild mit „Warnung vor dem Hunde" hin­gewiesen habe, dass gar kein Hund vorhanden sei. An­schließend bittet sie mich um 100.- DM Kaution und geht mit mir zur Vertragsunterschrift in ihre Wohnung. Da ich aber nur weniger als 10.-DM bei mir habe, muss ich nächste Woche noch einmal vorbeikommen, sage aber zu; und das nimmt sie mir ohne Bedenken ab. Ich stelle klar, dass ich für Bettwäsche und Handtücher selbst sorgen werde, was sie für ungewöhnlich hält; auf ihre Frage nach meiner Tä­tigkeit antworte ich nur kurz. Sie hat sich offenbar längst ein Bild von mir gemacht, denn sie hakt nicht nach und er­zählt mehr von sich. Dann wird mir die komfortabel einge­richtete Wohnung samt der mit einem massiven Eisengit­ter versehenen Balkontür gezeigt; auch das Schloss der Haustür ist mehrfach gesichert. Sie erläutert mir Einzelhei­ten über den traumhaft schönen Garten, der sich hinter dem Haus erstreckt; ich verstehe von Pflanzen und Blumen, so sehr ich diese mag, nicht viel, höre aber geduldig zu.

 

Erst, wenn ich nächste Woche zur Vertragsunterzeichnung bei ihr vorbeikomme, wird sie mich mit ihrem verstorbenen Mann vergleichen und mir bestimmt Fotos zeigen wollen. Bevor ich weggehe, sehe ich in einem Fenster des Hauses, in dem mein Zimmer liegt, eine nette junge Dame; ansonsten scheinen (wie aus dem Gespräch mit ihr andeutungsweise hervorging; ich habe nicht danach gefragt) in beiden Häu­sern wohl nur männliche Personen für recht kurze Zeit zu wohnen, die in irgendwelchen Betrieben arbeiten und sich nur wochentags hier aufhalten.

 

Am Ende bewundert sie noch mein vor dem Haus stehen­des Auto, das gewiss keine Schönheit ist. Als ich ihr sage, es sei ein alter Jetta (Baujahr 1988) mit Kilometerstand 338.000, muss ich mich doch noch einen Moment aufhal­ten, denn die Alte humpelt zielstrebig zur Garage, öffnet das Tor mit der Fernbedienung und zeigt mir, dass auch sie einen Jetta hat: ein Uraltmodell, wie ich schnell feststelle. Den werde sie zu Einkaufsfahrten behalten, versichert sie, obwohl Bekannte ihr davon abgeraten hätten, noch Auto zu fahren. Und ich stimme dem zu, dass es für sie sehr wichtig sei, alte Gewohnheiten beizubehalten.

 

Dann verabschiede ich mich endlich (sie steht noch win­kend in der Haustür) und fahre schnell davon. Die Gegend, die mir jeweils für ein paar Wochentage oder mehr (wer weiß?) als Bleibe am Arbeitsort dienen soll, ist viel ruhiger, als ich sein kann. Es regnet jetzt noch stärker als vorher; der Regen geht bald immer mehr in heftiges Schneetreiben über. Das wird eine schöne Fahrt, denke ich, vielleicht chaotisch wie meine Gefühle. Die Schlagermusik, die mir nicht ganz klar aus dem alten Radio entgegentönt, mache ich lauter: „Über sieben Brücken musst du geh’ n ...“ - Ich weiß im Moment nicht, ob ich eher weinen oder lachen soll. Ich singe einfach mit.

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Die Frau und der Baum

 

Werner Wolski

 

(2013)

 

Die alte Frau sitzt wie immer auf dem Balkon, in ein Buch vertieft. Wenn man sie so sieht, wie sie mit ziemlich verbissenem Gesichtsausdruck und mit ihren Fingern auf gewisse Stellen zeigend, die Seiten durchgeht, könnte man meinen, dass sie Korrektur liest. Das ist aber nicht so. Auch im Hinblick auf das, was sie liest, verhält es sich anders, als man annehmen könnte: Sie liest nicht irgendein mehr oder weniger schlichtes bzw. triviales Produkt aus dem Bereich der Unterhaltungsliteratur, aber auch kein – weshalb auch immer - als hochkarätig eingeschätztes literarisches Produkt, auch keine Fachliteratur aus der einen oder anderen Sparte. Damit, was sie liest und was sie immer gelesen hat, sind wir und eigentlich nur wir vertraut, weil wir ausgiebig seit Jahrzehnten mit ihr Umgang pflegen, früher viele Gespräche auch zu theoretischen Problemen geführt haben, daneben auch Streitereien aufgrund ihres immerwährenden eigentümlichen Gemütszustands hatten, der möglicherweise durch Einnahme von Rauschmitteln verursacht worden ist, dabei oft irritiert waren wegen ihres ausgeprägten Narzismus bzw. der in ihrer Persönlichkeit hervortretenden unglaublichen Geltungssucht sowie der Extremität ihrer Überlegungen, die alles übertreffen, was man sich bei einem Menschen nur vorstellen kann.

 

Es ist nämlich so, dass sie in einem Wörterbuch liest. Sie liest im Wörterbuch, wie sich die Brüder Grimm das bekanntlich idealiter vorgestellt haben, nämlich dass die Mutter abends vor dem Schlafengehen den Kindern aus dem Wörterbuch vorlesen solle. Aber sie „liest“ – wenn man den Ausdruck in ihrem Falle überhaupt verwenden kann - am Tage. Auch liest sie niemandem vor. Sie liest allein und teils laut vor sich hin, wenn sie etwas besonders bewegt bzw. wenn sie glaubt, etwas besonders präzise erfasst zu haben. Denn es verhält sich folgendermaßen mit ihr: Sie theoretisiert über die Strukturen der von ihr betrachteten Wörterbücher, formuliert für sich Fragen über deren Aufbau generell und über deren textuelle Strukturen, stellt Überlegungen zur mikrostrukturellen, mediostrukturellen und makrostrukturellen Anordnung in allen Einzelheiten fest, unterscheidet Angaben nach hunderten von Typen samt einer ungeheuren Menge von Untertypen, differenziert unter den Benutzern solche „in actu“ bis hin zu solchen „ex actu“ etc. etc., wobei sie sich in die abstruseste Theoriebildung – man kann es nicht anders sagen – geradezu autistisch verstrickt.

 

Selbst wir in unserer Eigenschaft als Psychiater vermögen nicht zu sagen, ob man sie in engerem Sinne als geistesgestört bezeichnen sollte, denn sie hat bei aller Einseitigkeit ihres Tuns zwischendurch immer wieder sozusagen lichte Momente: Wenn man sie umschmeichelt, ihre Dynamik und ihren unermüdlichen Erfindungsgeist bewundert, ja ihr Alter in verlogener Weise um Jahrzehnte nach unten stuft, obwohl sie (bei ehrlicher Betrachtung) einem Beobachter ausgetrocknet wie ein dürrer Ast erscheinen muss, dann lacht sie sogar laut – am liebsten allerdings über die vermeintlich elende Theoriebildung anderer oder deren Geistesschwäche bei der Prägung neuer Termini. Auch unter Berücksichtigung derartiger intermezzoartiger Einlagen würde ich schon sagen, dass es sich in ihrem Fall um eine Obsession (meinetwegen auch Manie) in einer Ausprägung handelt, die als äußerst bedenklich anzusehen ist. Aber ich habe gar keinen Anlass, diesbezüglich in irgendeiner Form auf sie Einfluss nehmen zu wollen. Denn was hat sie sonst schon im Leben, außer diese Genugtuung im Rahmen einer sozusagen begriffsonanistischen Betätigung, die natürlich niemand nützt, aber die ja immerhin auch niemandem schadet?    

 

Alle reden sie nur mit ihrem Vornamen Herta an; und auch ich kenne sie nur unter ihrem Vornamen, weil sie ihren Familiennamen aus mir unerfindlichen Gründen nicht preisgeben will. Sie hat sich seit mehr als fünfzig Jahren mit Wörterbüchern in einem Ausmaß beschäftigt, wie sonst wohl niemand. Aber das ist halt ihre Leidenschaft, wie bereits betont wurde. Dazu muss man wissen, dass es nicht nur (wie anfangs bei ihr) Sprachwörterbücher sind, sondern mittlerweile überwiegend – wenn nicht ausschließlich - Fachwörterbücher, die sie in einer Intensität zur Kenntnis nimmt, wie man sich das kaum bei einem Menschen vorstellen kann - und wie dies schon gar nicht von einer Frau zu erwarten wäre, die mittlerweile wohl weit über 80 Jahre alt sein dürfte. Aber man muss noch eine Abstraktionsstufe weiter nach unten gehen: Denn es sind vor allem Fachwörterbücher zu Bäumen, und hier insbesondere solche zum Schädlingsbefall, betreffend vor allem die heimische Rotbuche namens Fagus sylvatica. Ich habe mir letztes Jahr zum Beispiel einen ausführlichen (stundenlangen) Vortrag von ihr zur „Parthenogenese der Blattläuse (Aphidoidea)“ anhören müssen, welche zu den Pflanzenläusen (Sternorrhyncha) gehören. Sie hielt mich dabei am Arm fest und wurde immer lauter, weil ich zwischendurch etwas lachen musste. Aber ich habe nicht über sie gelacht, sondern deswegen, weil ich gerade einen Beitrag zum „Aischyleischen Prometheus und dessen Choreuten aus psychoanalytischer Perspektive“ verfasst hatte und mir in dem Zusammenhang der Kontrast zu den Blattläusen als äußerst amüsant vorgekommen war, wie man sicherlich nachvollziehen kann. Aber sie wusste das ja nicht und wurde immer lauter, schrie mir vieles ins Gesicht, was ich durchaus für interessant hielt, wenngleich mir die Intensität ihres Dozierens aufdringlich und unnötig erschien:

 

Unter den Aphidoidea haben die ungeflügelten Formen – soweit ich das verstanden habe – den Effekt, der Massenvermehrung durch Jungfernzeugung (durch sog. Parthenogenese) zu dienen, während die geflügelten Formen zur Verbreitung und zum Wirtswechsel (insbesondere bei Überpopulation) erzeugt und eingesetzt werden. Einiges war ja auch sehr interessant daran, nämlich dass diese Blattläuse aufgrund neuerer Forschungsergebnisse bei Bedrohung durch ihren Hauptfeind, nämlich durch unseren lieblichen Marienkäfer, Alarm-Duftstoffe aussenden (sog.  „β–Farnesen“), diese Stoffe dann für Unruhe in der gesamten Blattläuse-Population sorgen (wie im Falle einer Überpopulation), und dass dies wiederum die sofortige Erzeugung geflügelter Nachkommen unter den Aphidoidea nach sich zieht, sodass sie wegfliegen und somit dem Feind entkommen können. Ich erinnere mich stark daran, dass ich mir seinerzeit angesichts der Ausführungen, die kein Ende nehmen wollten, eine solche Fähigkeit sehr gewünscht hatte. Da dies aus naheliegenden Gründen nicht möglich war (und ich hätte es aus Höflichkeitsgründen nicht getan, auch wenn es mir möglich gewesen wäre), konnte sie des Weiteren ausführen, dass die eigentliche Buchenblattlaus (Phyllaphia fagi) in ihrer holozyklischen Generationenfolge (beginnend mit den Virgines der ersten Generation) die Eigenschaft hat, dass aus deren Eier im Frühjahr Larven schlüpfen, welche sich offenbar in Kolonien an der Unterseite von Blättern befinden.

 

Einen Moment lang kamen mir, die Parthenogenese betreffend, eigentümliche Gedanken, gewisse Vorstellungen der Jungfernzeugung in der Religion betreffend, welche mitzuteilen mir keine Gelegenheit gegeben war, wie es in dem Zusammenhang auch als unangebracht hätte erscheinen müssen, solche Überlegungen zu den Ausführungen über Blattläuse in Beziehung zu setzen. Und so wurde ich gleich wieder zurückgeholt sozusagen auf den Boden aktueller Bedrohungen im Baumgeäst, und zwar nicht nur durch weitere Hinweise auf Buchenblattbaumlauskolonien, sondern auch auf schädliche Aktivitäten des mir bisher unbekannten Buchenspringrüsslers. Dies ist, wie ich zur Kenntnis nehmen musste, die einzig monophag an Buchen lebende Käferart. Der Käfer aus der Familie der Curculinidae (Rüsselkäfer) legt – wie ich belehrt wurde – seine Eier an der Unterseite der Blätter (und dort an der Mittelrippe) ab, von wo aus sich die spätere Larve dann eine Gangmine zwischen zwei Rippen anlegt, anschließend den Blattrand erreicht etc. etc. Ich konnte das alles kaum noch nachvollziehen, weil ich mit dieser Thematik – und damit dürfte ich gewiss nicht allein dastehen – damals überhaupt nicht vertraut war. Und dann gibt es ja noch, wie sie – und das war mir eigentlich wirklich schon zu viel – immer weiter ausbreitete, noch diese Gallmilbenart aus der Familie der Eriophydae, des Weiteren die Buchenblattgallmücke (Hartigiola annulipes) mit ihren zarten Flügeln, weshalb diese sehr unauffällig ist, und noch einige andere Lebewesen, von deren Existenz ich bisher nicht gehört hatte, deren Existenz mir damals bereits egal war, und deren schädliches Wirken wie deren Fortpflanzungsverhalten auf Bäumen und Blättern mir auch heute noch völlig egal ist.

 

All dies kommt mir jetzt aber in die Erinnerung zurück. Und es beschäftigt mich zugegebenermaßen im Moment dies (und durchaus sehr vieles mehr) inständig, wenn ich sie hier auf dem Balkon sitzen sehe am heutigen schönen Frühjahrstag – diese Reflexionen, den beklagenswerten kognitiven Zustand ihre Person betreffend, die unglaublich vielen krabbelnden kleinen Tiere irgendwo in Bäumen, die unendlich aufgesplitterten terminologischen Differenzierungen, die ihr Hirn zu kreieren in der Lage ist, die damit verbundene Verschwendung geistiger Kapazitäten, welche für Nützlicheres hätten eingesetzt werden können, das wahnhafte Bemühen um Präzision für etwas, das es gewiss nicht wert ist, weshalb sich Ergebnisse darauf gerichteter Anstrengungen im Effekt nur der Lächerlichkeit preisgeben, obwohl es natürlich eine gewisse Leistung darstellt, durch derartige terminologische Konzentration auf zuvor in dieser Weise sprachlich noch nicht Gefasstes (und sicherlich von keinem Menschen sonst je für sinnvoll zu erfassen Erachtetes) eine unglaubliche Eigenständigkeit im autistischen Bewusstsein erreicht zu haben.

 

Ich trete etwas näher an sie heran, da sie auf einmal laut vor sich hin zu sprechen anhebt und äußert, dass sie gerade an ihrem Fachwörterbuch nicht nur verschiedene „extern äquidirektionale Synopseartikel“ festgestellt habe, sondern auch eine „konkrete hierarchische hybrid vertikalarchitektonisch ausgebaute partiell paraintegrierte Artikelkonstituentenstruktur“, sowie eine „einschubspezifische Verweiszielbereichszugriffsstruktur“, während sie sich auf einem „binnentextadkurrent orientierten Zugriffspfad“ befinde, nachdem sie eine „externe Buchzugriffshandlung“ ausgeführt habe, wie sie beteuert. Aber jetzt schaut sie vom Buch auf und deutet auf den etwa zwanzig bis dreißig Meter entfernten großen Buchenbaum hin, der im Garten vor dem Hause steht. Ich frage, was los sei, und ob ich ihr irgendwie helfen könne. Sie scheint außer sich zu sein, kann sich offenbar vor Erregung kaum auf den Beinen halten, während sie sich etwas vom Sessel erhebt, deutet mit der Hand auf den Baum und fragt, ob ich denn die Strukturen dort nicht sehen könne – den „vertikal- und horizontalarchitektonischen Ausbau“, der über die „Stammidentifizierung“ hinaus bei „sursumgrader“ und „dextrograder Verweisbefolgehandlung in-actu“ auch die unendlich vielen „Glossatadressenträger“ der Blatt- und Teilblatt-Strukturschemata ganz klar erkennen lasse.

 

Das kann ich nicht. Und das könnte auch niemand sonst. Und ganz abgesehen von den, mit dieser Demonstratio ad oculos verbundenen, nur als „irrsinnig“ zu bezeichnenden, sprachlichen Bezugnahmen, kann ich zwar viele Blätter und Äste sehen – das ist immerhin ein sehr hoher Baum und dazu relativ weit entfernt -, aber weitere Details lassen sich beim besten Willen nicht erkennen, obwohl ja früher Nachmittag ist. Doch ihre Fähigkeit scheint alles zu übersteigen, was ich mir vorzustellen vermag. Nachdem sie sich wieder voll auf ihren Sessel niedergelassen hat, gleichwohl aber in dem heftigen Erregungszustand verbleibend und gestikulierend, meint sie mich darüber aufklären zu müssen, dass es sich bei dem, was sich ihr visuell darbiete, zunächst einfach um einen „ordnungsfreien externen Suchraum“ handele, auf den sie jetzt „extern zugreifen“ müsse. Dazu seien auf der „elementenheterogenen Trägermenge“ im ersten Schritt primär verschiedene Strukturen zu definieren, wobei der „vertikalarchitektonische Ausbau“ als „hybrid“ zu bezeichnen sei, weil er nämlich eine Relation „vom Typ der oberhalb- und eine vom Typ der unterhalb-Relation“ aufweise. Genauer sei das eine ast- und gleichermaßen blatt-architektonische Relation mit dem Relationsterm „x ist oberhalb von y“ sowie deren „konversen Relation“ vom Typ der „unterhalb-Relation“ mit dem Relationsterm „y ist unterhalb von x“ (mit x und y als Variablen für Ast- bzw. Blattkonstituenten). Sodann müsse man eine „zweistellige Relation vom Typ der links-von-Relation“ mit dem Relationsterm „x ist links von y“ sowie deren „konversen Relation“ mit dem Relationsterm „y ist rechts von x“ (mit x und y als Variable für Ast- und Blattkonstituenten) definieren. Sie wolle sich aber, wie sie nachdrücklich betont, gegenwärtig vor allem auf die jeweilige „polyfokussierte“ und „monofokussierte mediostrukturelle Blattnetz-Nischen- und Nestbildung“ konzentrieren, wobei auch jeweilige blattexterne und blattinterne „einschubexkurrente“, „nichtadjazent einschubinterne“, „binnenblattadkurrente Zugriffspfade“, „adjazente Blattausgangsbereiche“ etc. in die Betrachtung unbedingt einzubeziehen seien, wie natürlich auch „hintere und vordere Paraintegrate“, „desultorische Blatt-Hauptzugriffsstrukturen“ etc.  

 

Mein Gott, denke ich, welch ein Schauspiel! Wohin soll das noch führen! Und ich gebe ohne Hehl zu, dass die Darstellung eines unglaublich beeindruckenden terminologischen Systems, welches sie - aufgrund wie auch immer beschaffener kognitiver Voraussetzungen - zu etablieren in der Lage ist, nicht minder ohne Eindruck auf mich bleibt, wie die bereits früher von ihrer Seite vernommenen Ausführungen zu der Parthenogenese der Blattläuse oder beispielsweise auch zur Lebensweise des Buchenspringrüsslers. Ich kann die Frage nicht beantworten, ob all diese Darlegungen – und auch die nachfolgenden - nun die Folge eines grell halluzinierenden Geistes sind, der Merkwürdiges und den Anderen Verborgenes wahrnimmt, oder ob es sich um den in ihrem Wahrnehmungssystem existierenden Umstand handelt, dies alles in seinen Verästelungen ihrem Bewusstsein tatsächlich zugänglich machen und zugleich terminologisch sozusagen „auf den Begriff“ bringen zu können.

 

Denn sie geht nach diesem irrsinnigen Beginnen noch einen Schritt weiter, indem sie von ihrem Vorwissen um den Schädlingsbefall bei Buchenbäumen und ihrem „blattrelevanten Benutzervorwissen“ Gebrauch macht, wie sie sich ausdrückt: Sie zeigt auf den Baum, und dort offenbar auf eine Stelle, an der zwei Blätter übereinander hängen und aus einem der Rücken eines Buchenspringkäfers über die Außenseite eines Blattes hinausragt – wie sie mir das erläutert, der ich Vergleichbares überhaupt nicht, schon gar nicht in dieser Entfernung, erkennen kann -, und bestimmt entsprechende Konstellation als „hierarchisch annexierte Mikrostruktur mit binnenerweiterter Basisstruktur“. Und da sitzen – sie meint mir das zeigen zu können – zwei Buchenblattläuse der Art Phyllaphia fagi in der Mitte eines Blattes, wobei sie diese Konstellation von anderen als „blattbasierte blattspezifisch polyfokussierte Blattmediostruktur“ in ihrer Redeweise glaubt genau bestimmt zu haben. Wo eine Blattlauspopulation rechts auf einem Blatt sitzt, ohne dass ein anderes Blatt sich darüber befindet und dadurch die Sicht versperrt, sieht sie eine „nichtüberdacht rechtsituierte, rechtserweiterte und paraintegrierte Blattverbundkonstituente“. „Und da“, ruft meine Blattklassifikatorin-in-actu gleich anschließend aus –, „da hat ja ein Exemplar der Gallmilbenart der Familie der Eriophydae ganz links am Rande eines Blattes Eier abgelegt, wobei diese den Blattrand erweitern“! Und es kommt bei ihr sofort, ohne lange Überlegungen, der Kommentar, dass es sich dabei um eine „teilblattextern vorne links binnenerweiterte Blattstruktur“ handele. Außerdem unterscheidet sie – je nach Position einer Blattlaus, eines Buchenspringrüsslers, einer Gallmilbenart, oder was sie sonst noch alles an Tierchen an den Blättern haftend bzw. sich dort tümmelnd beobachten kann - „nicht durchgängig paraintegrierte und annexierte Blattmikrostrukturen“ und verschiedene „Binnenblatteinlagerungen“, wobei sie sich von Einzelfallanalysen schließlich in einem unglaublichen Anlauf theoretischer Differenzierungsbemühungen zu noch abstrakteren Strukturen aufmacht, indem sie beispielsweise „Isomorphieverhältnisse zur abstrakten einfachen und komplexen blattbasierten und blattspezifischen polyfokussierten Blatt-Mediostruktur auf der Trägermenge“ definiert bzw. glaubt definieren zu können!

 

Gar manch weitere Sonderlichkeit gäbe es zu berichten, aber ich hebe die Augen im Gefühl vager Ahnung hiervon ab, dass ihre Befähigung zu kaum von anderen Menschen erreichbarem Wahrnehmungsvermögen - gepaart mit dem Bemühen um präzises, aber ebenfalls von niemand sonst nachvollziehbares, terminologisches Erfassen der jeweiligen mikro-, medio- und makrostrukturellen Gegebenheiten – ihr mit Sicherheit nicht zu dem ihr eigentlich gebührenden Nachruhm verhelfen wird, wenngleich mir manches bei geeigneter realistischer Fassung durchaus als weiterführend erscheinen könnte, ich aber das meiste in diesem Kontext nur als unbegreiflich und ganz und gar abwegig zu bezeichnen in der Lage bin. Und dies feststellen zu müssen betrübt mich sehr. Sie setzt ihre Ausführungen noch länger fort, wie ich dies aus einiger Entfernung vernehme, die zu erreichen mir bereits aus Selbsterhaltungsgründen für angebracht erscheint, nachdem ich mich entgegen meiner Natur, mich auch schwierigen Sachlagen mit einem realitätsnahen Zugriff zu nähern, einem Extrembereich menschlicher Erfahrung ausgesetzt sehen muss, den ich nicht als mir zugänglich betrachten kann.   

 

Während sie sich noch im Hochgefühl abstrakter terminologischer Differenzierungen in äußerster Erregung einmal mehr vom Stuhl erhebt und zu „heterogen links adjazenten polyphon divers konstituierten und mediostrukturell prädizierten Makrostrukturen“ doziert, hat mittlerweile eine Dame recht diskret, also kaum merklich, die Balkontür geöffnet, ist zu ihr getreten, und hat dann mit leiser, aber recht bestimmter Stimme gesagt: „Nun lassen Sie es für heute genug sein, Herta! Wir gehen jetzt mal langsam ins Bett! Der Baum ist auch morgen noch da!“ Aber unsere, ach dermaßen in terminologische Erregungszustände versetzte Herta kann sich überhaupt nicht losmachen von den gerade neu gefundenen, von ihr ganz und gar als wissenschaftlich unentbehrlich angesehenen Differenzierungen, zu denen sie gelang ist. Dies alles, was sie zuvor terminologisch ganz präzise an – aus ihrer Sicht - nötigen Präzisierungen erreicht hat, vermittelt ihr den Eindruck einer kaum zu überbietenden Gewissheit, einen unglaublich großen Fortschritt im Bereich der Terminologiebildung erreicht zu haben, nämlich zu Differenzierungsleistungen von derart ungeheurer Reichweite gelangt zu sein, dass diese alle bisherigen menschlichen Erkenntnisse zu Strukturen in Wörterbüchern und solchen an Bäumen in bisher für kaum leistbar gehaltenem Ausmaß übertreffen.

 

Sie sagt dann zu der Dame, welche sie im Moment bei weiteren Überlegungen gestört hat, was sie nun schon seit vielen Jahren Tag für Tag zu ihr sagt, nämlich „Lass mich in Ruhe, Du Sublemma!“ Das ist immer der schlimmste Ausdruck, der ihr über die Lippen kommt, und den die Dame sich schon so oft hat anhören müssen – natürlich ohne je verstanden zu haben, was damit gemeint ist. Der Wortlaut war noch nie anders. Aber das ist der Dame auch diesmal egal. Sie fragt nicht danach; und sie hat auch nie vorher danach gefragt, was damit gemeint sein könnte. Sie wiederholt einfach, weil sie ja irgendwann mit ihrer Arbeit im Hause fertig werden möchte: „Kommen Sie doch, Herta! Es ist schon so spät. Es wird schon dunkel. Die Wörterbücher laufen Ihnen doch nicht davon. Da können Sie doch morgen wieder Ihre wissenschaftlichen Untersuchungen machen!“ – Dann kommt sie auch, die gute Herta, die es ja seit Jahren schwer hat mit dem Gehen, am Ende doch mit, wobei sie sich immer einhakt. Aber sie kann es nicht lassen, noch während des Überschreitens der Schwelle zu dem Aufenthaltsraum so laut zu schreien, dass es alle hören: „hybrid rechtserweiterte und postkommentarintern vertikalarchitektonisch ausgebaute, nichtüberdachte zweifach komplexe Blattmikrostruktur!“. Sie ist rot angelaufen. Schaum steht ihr vor dem Mund. Manche im Raum wissen nicht, ob sie lachen oder weinen sollen. Andere lachen ihr und der Betreuerin aus blöden Gesichtern entgegen. Wieder anderen kommen vor Rührung die Tränen, weitere schauen weg, oder sie blicken verwundert aus dümmlichen, von Demenz gezeichneten Gesichtern, einige sogar bewundernd. 

  

 

           

 

 

 

 

 

 

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