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Paul Celan: Gedeutetes verstehen

Gedeutetes verstehen – Sprachliches wissen. Grundfragen der Philologie zum Werk Paul Celans aus sprachwissenschaftlicher Sicht. Frankfurt am Main [usw.] Peter Lang 1999.

 

Über das Zustandekommen der Arbeit habe ich verschiedene Ausführungen im „Vorwort“ gemacht. In der „Einleitung“ ist zudem erläutert worden, wie der Titel – samt Groß- und Kleinschreibung – zu verstehen ist, welche Probleme mit der Konzeption verbunden waren, etc. etc. Dass ich von niemandem unterstützt worden bin, als ich mir seinerzeit in den Kopf gesetzt hatte, eine Arbeit zu Paul Celan zu verfassen, dass diese aufgrund immer weiter ausgreifender Recherchen nahezu argumentativ ausuferte, dass mein früherer Lehrer (Herbert Ernst Wiegand) eindringlich und durchaus nicht stets freundlich davon abgeraten hatte, sich mit einem solchen extremen Gegenstand zu befassen (und – was sonst? – lieber nur mit der Metalexikographie), dass ich bei der Sondierung der Literatur zu Paul Celan ganz umfassend vorgegangen bin, und dass ich dabei von einem argumentativen Wust der närrischsten und nicht für möglich gehaltenen esoterischsten und wirresten Art konfrontiert worden bin - : Davon habe ich mich weder in dem Vorwort, noch in der Einleitung explizit geäußert. Vieles geht per Zitierung (!) allerdings allenthalben aus meiner Darstellung hervor – nicht zuletzt aus dem kreativ gestalteten zweiten Kapitel (siehe anbei), in dem ich Kommentare zum Werk Paul Celans einmal aus der Perspektive der Sprachwissenschaftler(innen), einmal aus derjenigen der Literaturwissenschaftler(innen) präsentiert habe.  

 

Wenn ich heute im Jahre 2013 – mit so vielen Jahren des Abstands – auf die von mir seinerzeit im Jahre 1999 fertiggestellte Arbeit zum Werk Paul Celans zurückblicke, dann bin ich erschreckt über die Fülle der Argumente, die ich aus Sprach- und Literaturwissenschaft zusammengetragen und in eine sinnvolle Ordnung gebracht habe: Es ist schier unglaublich, was ich damals sprachlich veranstaltet habe. Nicht umsonst bezeichne ich dieses Werk als „Celan-Roman“ bzw. mein „Lebenswerk“ – wo doch auch andere Arbeiten, so meine Habilitationsschrift oder die Dissertation bereits einen erheblichen Umfang aufwiesen (siehe das Schriftenverzeichnis).

 

Natürlich ist dies keine Arbeit für theoretisch unbedarfte Personen, die - und seien es auch sog. „Wissenschaftler(innen)“ - nur billige bzw. leichte Kost verdauen können. Obwohl mir zwar zu Recht eine elitäre Einstellung in Sprach-Angelegenheiten, aber wirklich nicht Arroganz nachgesagt werden kann, möchte ich in aller Deutlichkeit anmerken, dass künftig nie von einer Person gleich welcher Profession eine derart umfassende Arbeit zum Werk Paul Celans zustande gebracht werden könnte. Andere wären selbst mit großem Personalaufwand und unter Inanspruchnahme von Forschungsgeldern nicht in der Lage gewesen, auch nur annähernd – und zwar weder sprachlich noch inhaltlich (!) – Derartiges leisten können. Und es wird auch in der Zukunft niemanden geben, wer dazu in der Lage wäre. Woran das liegt, ist mir natürlich klar, der lange genug sozusagen „im Geschäft“ war.  

 

Das Problem ist nur: Sprachwissenschaftler(inne)n mangelt es wie gleichermaßen Literaturwissenschaftler(inne)n an fachlicher Kompetenz, die hier zusammengebrachten Argumentationshinsichten aus den beiden Sparten in geeigneter Weise intellektuell erfassen zu können. Von daher dürften vorliegende Ausführungen nur wenigen Eingeweihten - und im Niveau über eingespielte Pfade des Gängigen hinausgelangenden Experten/Expertinnen - überhaupt zugänglich sein.

 

In den Augen der Unbedarften (auf beiden Seiten des Lagers) – sollten diese überhaupt einen Blick darauf werfen – dürften die Ausführungen auf gleicher Stufe wie die des Autors stehen, um den es geht (Paul Celan), der von jenen mit dem Hermetik-Verdikt bedacht worden ist. Meiner Meinung kann zwar mit Blick auf meine Ausführungen eventuell von „Schwerverständlichkeit“ die Rede sein (je nach Ausbildungsstand der/des Rezipienten), sicher aber nicht von „Unverständlichkeit“. Denn jeder Ausdruck, der verwendet worden ist, wurde genau erläutert! Es geht also darum, dass auf Rezipientenseite erhebliche theoretische Defizite vorliegen – : Für die einen ist es die Sprachwissenschaft (und dann noch diejenige in der von mir vorgetragenen Version!), für die anderen die Literaturwissenschaft (mit deren überwiegend esoterischen Wortschwall). Wer über eine frühere Einführung in die Linguistik (samt „Zeichen“ mit ihren „übertragenden Botschaften“ und anderem Schwindel theoretischer Art) nicht hinausgekommen ist, wird natürlich nichts verstehen. Und wer z.B. das übliche Interpretations-Gefasele aus dem hohlen Bauch für Wissenschaft (eben „Literaturwissenschaft“) hält, wird natürlich ebenfalls nicht folgen können.

 


Wichtiger Hinweis: Anbei finden sich mehrere Ausschnitte aus der Arbeit.

 

-         Vorwort

-         Inhaltsverzeichnis

-         Einleitung

-         Zweites Kapitel

-         Sechstes Kapitel

-         Register (fehlt noch, da dieses Programm von Web hier Probleme macht)

        

Diese Teile stammen aus den seinerzeit auf Disketten abgespeicherten Dateien. Ich habe – darauf muss ausdrücklich hingewiesen werden – hier keine Korrekturen im Sinne der neuen Rechtschreibung vorgenommen. Auch sind – aufgrund wohl der damaligen Speicherung – jeweils die ersten Anführungszeichen leider nicht unten, sondern oben. 

W.W.

 

Hier folgen die Textteile

 

 

Vorwort

 

Meine Auseinandersetzung mit dem Werk Paul Celans geht zurück auf ein Erlebnis an der Universität Leipzig, wo ich nach meiner Tätigkeit in Heidelberg zur Wendezeit beschäftigt war: Als ich dort im Rahmen einer Lehrveranstaltung zur Textlinguistik als Beispiele auch Gedichte Paul Celans einbrachte, wurden diese von den Studierenden als inkohärente Formulierungsresultate eines offenbar Wahnsinnigen eingeordnet.

In meiner Wohnung im Gästehaus der Universität, vis-à-vis der Nicolaikirche, habe ich mir anschließend öfters Gedanken des Typs gemacht: Ist es angebracht, die von Studierenden geäußerten Urteile von vornherein als unqualifiziert zu bezeichnen? Welche Perspektiven des Umgangs mit derartigen Texten sind von sprachwissenschaftlicher Seite gegeben? Wie wird das Werk in der Literaturwissenschaft eingeordnet?

Diese und andere Fragen führten zu einer immer ausführlicher werdenden Betrachtung des Werks von Paul Celan und der Celan-Philologie.

Die sich anschließende Tätigkeit an der Universität Siegen hat aufgrund der dort sehr anregenden wissenschaftlichen Atmosphäre wesentlich dazu beigetragen, vorliegende Arbeit in konzeptioneller Hinsicht voranzubringen. Ich danke insbesondere meinen Kollegen Gerhard Augst und Burkhard Schaeder für eine außergewöhnlich gute Zusammenarbeit während meiner Tätigkeit in Siegen, weil dadurch indirekt das Zustandekommen vorliegender Arbeit befördert wurde. Aufgrund zahlreicher anderer Verpflichtungen konnte die Arbeit aber erst während meiner Beschäftigung in Paderborn fertiggestellt werden.

    Für die Verwirklichung des Projekts habe ich zunächst meiner Kollegin in Paderborn, Frau Juliane Eckhardt, zu danken, die als Reihenherausgeberin den Kontakt zum Verlag Peter Lang hergestellt hat. Außerdem ist sie dafür eingetreten, mir Gelder für die Drucklegung des Manuskripts zu gewähren.

Sodann danke ich dem Dekan unseres Fachbereichs, Ernst Bremer, dafür, entsprechende Gelder zur Erstellung der Druckvorlage genehmigt zu haben. Ich halte dies für eine Geste außergewöhnlichen Entgegenkommens.

Des weiteren danke ich dem Repräsentanten des Peter Lang-Verlags für Nordrhein-Westfalen, Herrn Dr. Hermann Ühlein, für eine einzigartig gute Zusammenarbeit. Die zu bewältigenden Gestaltungsprobleme sind im Übereinkommen mit ihm in geeigneter Weise angegangen worden, so daß es gelang, die im Vordergrund stehenden Erwägungen hinsichtlich der Raumersparnis mit der Ästhetik und der Lesbarkeit abzustimmen.

Schließlich danke ich Herrn dipl. pol. Roland Zimmermann dafür, daß er trotz seines Promotionsvorhabens in kurzer Zeit die Druckvorlage hergestellt hat. Zahlreiche seiner Gestaltungsvorschläge sind vom Verlag und mir berücksichtigt worden.

Ich danke aber auch meiner Partnerin, Constanta Rotar (durch die ich die rumänische Sprache erlernt habe und deren Vater, wie mir erst kürzlich bekannt geworden ist, im gleichen Zeitraum wie Paul Celan in Cernauti das Gymnasium besuchte), für das Verständnis, das sie in all den Jahren für meine Lebensführung aufgebracht hat.

Sämtliche der vor der Drucklegung zu bewerkstelligenden Tätigkeiten an dem Manuskript sind von mir (einschließlich des Korrekturlesens) ohne jede fremde Mitwirkung durchgeführt worden. Ich danke allerdings meiner Hilfskraft, Frau Catrin Möllers, sowie meiner Tutorin, Frau Andrea Zander, dafür, mir zahlreiche im Rahmen meiner Lehrtätigkeit anfallenden Aufgaben abgenommen zu haben.

Außerdem danke ich Herbert Ernst Wiegand für die Durchsicht einiger Partien des Manuskripts.

   Bei der Behandlung der als erörterungswert befundenen Gegenstände bin ich darum bemüht gewesen, Einfachheit der Ausdrucksweise mit Genauigkeit zu verbinden und eine gewisse Lebhaftigkeit der Darstellung sicherzustellen, um meinen Leserinnen und Lesern neben nicht ausbleibenden Lesequalen auch ein reichhaltiges Lesevergnügen zu bereiten.

 

 

 

 

 

 

Werner Wolski, Paderborn                                            im September 1998

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Vorwort ....................................................................................................... 5

 

1.            Einleitung..................................................................................... 11

 

2.            Literarische Texte als Gegenstand von Literatur-
und Sprachwissenschaft
.............................................................. 21

 

2.1.          Generelle Vorbemerkung................................................................ 21

 

2.2.          Sprachfragen im Spannungsfeld sprach- und literaturwissenschaftlicher Zugriffe        21

2.2.1.       Allgemeine Aspekte der Zuständigkeit
sprachwissenschaftlicher Untersuchungen....................................... 22

2.2.2.       Zur Positionsbestimmung vorliegender
Untersuchungen............................................................................. 35

 

2.3.          Zum Verhältnis von Sprach- und Literatur-
wissenschaft in der Celan-Philologie................................................ 40

2.3.1.       Vorbemerkung............................................................................... 40

2.3.2.       Zum Status sprachwissenschaftlicher Ansätze; aus literaturwissenschaftlicher Perspektive..................................................................................................... 41

2.3.3.       Zum Status literaturwissenschaftlicher Ansätze; aus literaturwissenschaftlicher Perspektive..................................................................................................... 59

 

2.4.          Nachbemerkung............................................................................. 71

 

3.            Zur sprachwissenschaftlichen und
sprachphilosophischen Orientierung
.......................................... 73

 

3.1.          Generelle Vorbemerkung................................................................ 73

 

3.2.          Strukturaspekte sprachlicher Äußerungen........................................ 75

 

3.3.          Aspekte eines handlungstheoretischen Ansatzes............................... 85

 

3.4.          Zeichentheoretische Sonderprobleme.............................................. 92

3.4.1.       Vorbemerkung............................................................................... 92

3.4.2.       Zu einem neueren zeichentheoretischen Ansatz................................ 93

3.4.3.       Sonderkonstruktionen zum Status von
Bedeutungen................................................................................ 101

3.4.4.       Sonderkonstruktionen zur Rolle der
Ausdrucksseite............................................................................. 109

3.4.5.       Zu ausgewählten Sprachfragen in Anschluß an
Celans poetologische Äußerungen................................................. 128

 

3.5.          Textlinguistische Aspekte............................................................. 142

3.5.1.       Zur textlinguistischen Orientierung................................................. 142

3.5.1.1.    Zum Textbegriff........................................................................... 143

3.5.1.2.    Zur Theorie ästhetischen kommunikativen
Handelns...................................................................................... 145

3.5.1.3.    Zur Einordnung des Ansatzes und zu einigen seiner
Erweiterungen.............................................................................. 148

3.5.1.4.    Exkurs: Zur poetischen Sonderfunktion in der
textorientierten Poetizitätsforschung.............................................. 150

3.5.1.5.    Zu Fragen der Textverdichtung..................................................... 157

 

3.6.          Zusammenfassung........................................................................ 166

 

4.            Repräsentation und Wirklichkeit.............................................. 171

 

4.1.          Generelle Vorbemerkung.............................................................. 171

 

4.2.          Bezugspunkte aus Sprachtheorie und
Konstruktivismus......................................................................... 172

4.2.1.       Zur Einordnung repräsentationstheoretischer
Auffassungen............................................................................... 172

4.2.1.1.    Theoretische Konstellationen........................................................ 176

4.2.1.2.    Zu Status und Rolle von
Vagheitsargumentationen.............................................................. 181

4.2.1.2.1. Ausgangspunkte von Vagheitsargumentationen.............................. 182

4.2.1.2.2. Vagheit in fachlichen Texten......................................................... 185

4.2.1.2.3. Vagheit in kunsttheoretischen Ansätzen......................................... 188

4.2.1.2.4. Celans Äußerungen zu "Mehrdeutigkeit" und
"Vielstelligkeit"............................................................................. 191

4.2.1.2.5. Exkurs: Sprachkritik und Sprachkrise(n)........................................ 193

4.2.2.       Perspektiven des Konstruktivismus............................................... 201

4.2.2.1.    Vorbemerkungen: Grundlagen konstruktivistischer
Argumentationen.......................................................................... 201

4.2.2.2.    Weiterführende Aspekte zu Repräsentation und
Wirklichkeit.................................................................................. 206

4.2.2.2.1. Realität und Wirklichkeit aus radikal-
konstruktivistischer Sicht.............................................................. 206

4.2.2.2.2. Zur gesellschaftlichen Konstruktion von
Wirklichkeit im sozialen Konstruktivismus..................................... 214

4.2.2.2.3. Medienwirklichkeit im soziokulturellen
Konstruktivismus......................................................................... 215

4.2.2.3.    Nachbemerkungen; unter Berücksichtigung einer
neueren Kontroverse in der Sprachwissenschaft............................. 217

4.3.          Repräsentation und Wirklichkeit in der
Literaturkritik................................................................................ 219

4.3.1.       Vorbemerkung............................................................................. 219

4.3.2.       Kontroversen um Wirklichkeitsbezug und Wirklich-
keitsverlust in der Celan-Philologie................................................ 220

4.3.2.1.    Anlaß und Ausgangspunkte der Auseinander-
setzungen zur Repräsentationsfrage............................................... 220

4.3.2.2.    Wort und Ding zwischen Magie und Kabbalistik -
ein Sonderaspekt der Repräsentation............................................. 227

 

4.4.          Zusammenfassung........................................................................ 244

 

5.            Hermetik, Verstehen und Verständlichkeit............................... 249

 

5.1.          Generelle Vorbemerkung.............................................................. 249

 

5.2.          Fragen und Antworten zum Hermetik-Verdikt................................ 251

5.2.1.       Vorbemerkung............................................................................. 251

5.2.2.       Aspekte des Hermetik-Verdikts..................................................... 254

5.2.2.1.    Ausgangspunkte der Argumentationen in der
Celan-Philologie........................................................................... 254

5.2.2.2.    Exkurs: Zur Herausbildung des
Hermetik-Verdikts........................................................................ 257

5.2.2.3.    Hermetik als trächtige Dunkelheit und als Mache............................ 261

5.2.2.4.    Zur Infragestellung des Hermetik-Verdikts in der
Celan-Philologie........................................................................... 268

5.2.2.5.    Zur Sonderkonstruktion einer hermetischen
Zeichenhaftigkeit.......................................................................... 272

5.2.3.       Resumee zur Hermetikfrage.......................................................... 280

 

5.3.          Perspektiven der Verstehens- und Verständlich-
keitsproblematik........................................................................... 284

5.3.1.       Vorbemerkung............................................................................. 284

5.3.2.       Reflexionen zu Verstehensproblemen in der
Celan-Philologie........................................................................... 285

5.3.3.       Neuere theoretische Arbeiten zum Verstehen.................................. 292

5.3.3.1.    Einige Bezugspunkte zur Orientierung............................................ 292

5.3.3.1.1. Zur Wittgenstein-Rezeption........................................................... 293

5.3.3.1.2. Zu einer Variante konstruktivistischer Ansätze................................ 295

5.3.3.2.    Verstehen und Interpretieren......................................................... 300

5.3.3.3.    Schriftsprachliche Texte und Verstehen......................................... 307

5.3.3.4.    Subjektivität und Objektivität des Verstehens................................. 313

5.3.3.5.    Zur Rolle von Inferenzen.............................................................. 316

5.3.3.6.    Zum Verständnis von Verständlichkeit........................................... 318

5.3.3.6.1. Exkurs: Verständlichkeitsmaximen................................................. 319

5.3.3.6.2. Exkurs: Konversationsmaximen..................................................... 321

5.3.3.7.    Zu einer Konstruktion spezifisch poetischen
Verstehens................................................................................... 323

 

5.4.          Zusammenfassung........................................................................ 332

 

6.            Interpretieren und Wissen......................................................... 337

 

6.1.          Generelle Vorbemerkung.............................................................. 337

 

6.2.          Zu Fragen der Interpretation.......................................................... 339

6.2.1.       Vorbemerkung............................................................................. 339

6.2.2.       Zur theoretischen Orientierung...................................................... 343

6.2.3.       Exkurs: Weitere Positionen zu
Interpretationsfragen..................................................................... 347

6.2.4.       Stellungnahmen aus der Celan-Philologie....................................... 360

6.2.5.       Resümee und Ausblick................................................................. 370

 

6.3.          Zu Wissensfragen und zur Konzeption eines
Celan-Wörterbuchs...................................................................... 378

6.3.1.       Ausgangspunkte zur Illustration..................................................... 378

6.3.2.       Zur Diskussion um Wissensfragen in der
Celan-Philologie........................................................................... 393

6.3.3.       Wissensfragen unter besonderer Berücksichtigung
neuerer sprachwissenschaftlicher Arbeiten..................................... 408

6.3.3.1.    Einleitende Bemerkungen.............................................................. 408

6.3.2.2.    Zur Differenzierung von Wissenstypen.......................................... 414

6.3.3.3.    Resümee zu Wissensfragen........................................................... 424

6.3.4.       Ein Vorschlag, Ergebnisse zum Werk Celans
lexikographisch zur Verfügung zu stellen....................................... 430

6.3.4.1.    Vorbemerkung............................................................................. 430

6.3.4.2.    Zur Textlexikographie mit Blick auf die Konzeption
eines Bedeutungswörterbuchs....................................................... 433

6.3.4.3.    Skizze eines Bedeutungswörterbuchs zum Werk
Celans......................................................................................... 437

 

6.4.          Schlußbemerkungen..................................................................... 445

 

7.            Literaturverzeichnis................................................................... 449

 

8.            Register...................................................................................... 471

 

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2.      Literarische Texte als Gegenstand von Literatur- und Sprachwissenschaft

 

 

 

2.1.    Vorbemerkung

 

In diesem Kapitel geht es um die Rolle, welche sprachwissenschaftliche Orien­tierungen bei der Bewältigung dichtungsbezogener Sprachfragen spielen kön­nen und in vorliegender Arbeit spielen sollen. Damit betroffene und aus jewei­liger sprachwissenschaftlicher und/oder literaturwissenschaftlicher) Sicht kon­trovers beurteilte Aspekte im Verhältnis der beiden Disziplinen werden hier nur soweit angesprochen, wie dies für die Erläuterung der verfolgten Position nötig ist.

Unter 2.2.1. wird - in Auseinandersetzung mit verschiedenen Stellung­nahmen dazu - auf Fragen der Zuständigkeit für dichterische Texte eingegan­gen. In An­schluß daran wird unter 2.2.2. erläutert, welchen Status die in nach­folgenden Kapiteln durchgeführten Einzeluntersuchungen haben sollen.

Anhand repräsentativer Beispiele aus der Celan-Philologie schließt sich unter 2.3. eine Fallstudie zum Verhältnis sprachwissenschaftlichen und litera­turwis­senschaftlichen Handelns an. Entsprechende Partien dienen zum einen dazu, die vorab (unter 2.2.2.) zu erläuternde Positionsbestimmung mit Blick auf die Ce­lan-Philologie - per gegenseitiger Taxierung von Zugangsweisen - zu verdeutli­chen. Zum anderen kommt diesen Partien die Funktion zu, in einem ersten Schritt und in Vorbereitung auf die in nachfolgenden Kapiteln anstehen­den Er­örterungen exemplarisch einige wesentliche Kontroversen zu erfassen, die in der Celan-Philologie zu grundlegenden Fragen ausgetragen werden.

 

 

2.2.    Sprachfragen im Spannungsfeld sprach- und literaturwissenschaftlicher Zugriffe

 

In vorliegendem Zusammenhang erscheint es nicht als zielführend und frucht­bar, eine grundlegende Auseinandersetzung um das Verhältnis von Sprach- und Literaturwissenschaft zu führen. Bekanntlich ist auf beiden Seiten mit Vorbe­halten bzw. nicht immer berechtigten Vorurteilen zu rechnen. Wollte man nicht abstrakt und pauschal - und lediglich anhand verschiedener schriftlicher Ver­lautbarungen - darüber urteilen, könnten über das Verhältnis der beiden Diszi­plinen nur unter Berücksichtigung von Untersuchungsergebnissen (Daten über Berührungspunkte, so zu Art und Ausmaß gemeinsamer Projekte u.a.m.) gültige Aussgen gemacht werden.

Wenn hier dennoch auch übergreifende Gesichtspunkte angesprochen wer­den, stehen sie ausschließlich in Zusammenhang mit dem in nachfolgendem Abschnitt zu thematisierenden Zuständigkeitsproblem für dichterische Texte.

 

 

2.2.1. Allgemeine Aspekte der Zuständigkeit sprachwissenschaftlicher Untersu­chungen

 

Als grundlegend im Verhältnis von literatur- und sprachwissenschaftlichen Zu­griffsweisen auf dichterische Texte läßt sich eine weithin akzeptierte Zustän­digkeitsverteilung folgender Art feststellen: Die Sprachwissenschaft hat es mit Struktureigenschaften der/einer Sprache auf den verschiedenen (sprachthe-oretisch ausgemachten) Ebenen des Sprachsystems zu tun; als Textlinguistik ist sie vor allem mit Gebrauchstexten befaßt, aus denen entspre­chende Eigenschaften der/einer Sprache abgezogen sind. Die Literatur aber und damit literarische Texte bleiben - jedenfalls so weit es um das "Werk" in seiner Einmaligkeit geht - dem literaturwissenschaftlichen Handeln vorbehalten.

Im einzelnen sind auf der Folie einer solchen Zuständigkeitsverteilung in Theorie und Praxis unterschiedliche Ausrichtungen hervorgetreten. Es handelt sich bekanntlich um einen alten Streitpunkt. Schon Roman Jakobson hat dazu festgestellt, daß es "auch Sprachforscher verschiedener Observanz" gebe, "die von vornherein die Dichter-Sprache aus dem Kreis der die Linguistik interessie­renden Themen ausschließen" (Jakobson 1965/1969, 65). Jakobson und danach z.B. auch Ju. M. Lotman ­haben durch die Hilfskonstruktion einer "poetischen" Sprach­funktion bzw. mittels der Redeweise von "poetischer Sprache" versucht, dichterische Texte in den Zustän­digkeitsbereich der Sprach­wissenschaft hinein­zuho­len (vgl. dazu auch den Exkurs zur textorientierten Poetizitätsforschung unter 4.5.1.4.). Jakobson z.B. stellt in einem Interview fest:

 

"In Rußland hat es eine Trennung von Literatur und Linguistik nie gegeben. Darin zeigt sich zweifellos die noch wirksame Tradition der Romantik. In den USA hingegen, wo die positi­vistische Tradition vorherrscht, erscheine ich als Revolutionär, als 'Radikaler', weil ich diese Verbindung vertrete." (Jakobson 1966/1969, 48).

 

Der Tendenz nach bleibt das, was dieser Theore­tiker und einige andere zum Einbezug litera­rischer Texte in sprachwis­senschaftliche Argumenta­tionshin­sich­ten - einschließlich ihrer konkret durchgeführten Analysen - beige­tragen haben, noch immer beachtenswert und als fruchtbar anzuerkennen; die spracht­heoretischen Parameter, in denen sie ihre Über­legungen vorgetragen haben, können aller­dings mittlerweile nicht mehr diejenige Gültigkeit bean­spruchen, die sie zu ihrer Zeit noch hatten.

Dies gilt auch für Anschlußkommunikationen aus dem Zeitraum von 1970 bis etwa 1974, auf welche an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann; zu einigen Stationen der Annäherungsversuche zwischen Literatur- und Sprach­wissenschaft (im Rahmen der gemeinsamen Rezeption strukturalistischer und formalistischer Konzepte, einer vereinheitlichenden Textsortenklassifikation u.a.m.) sei auf Kasten/Neuland/Schönert (1997, 5ff.) und Breuer (1997, 55ff.) hingewiesen.

Erst wieder in den 80er Jahren scheint - gemessen an der Zahl von Publi­ka­tionen zu diesem Aspekt - die Auseinandersetzung um die Zuständigkeits­frage ausführlicher aufgegriffen worden zu sein. So erfaßt Helmut Arntzen eine Ten­denz der "gegenwärtigen Literaturwissenschaft" unter "Ressortbestimmtheit", für welche die Arbeitsmaxime kennzeichnend ist: "für Sprache ist die Sprach­wissenschaft (oder -philosophie) zuständig; die Litera­turwissenschaft kümmert sich um Dichterbiographie, um Geistes-, Ideen-, Sozialgeschichte, kümmert sich, wenn das hermeneutische Interesse mehr aufs einzelne geht, allenfalls um Stil als Werk- oder Personalstil":

 

"Da von hier aus weder eine Anknüpfung an Linguistik noch eine Auseinandersetzung mit ihr und ihrem ex- wie impliziten Sprachdenken möglich ist, gibt es für diese Tendenzen der Lite­raturwissenschaft keinerlei Berührungen zwischen den aus Zellteilung entstandenen Diszipli­nen mehr." (Arntzen 1983, 54).

 

Arntzen stellt unter gleichem Abschnitt ("Literatur als Sprache und die Litera­turwissenschaft") zum damaligen Stand fest, daß der "Sprachcharakter der Lite­ratur zwar unübersehbar geworden" sei, daß jedoch "die heute dominierenden Sprachauffassungen eher an der eigentlichen Sprachlichkeit der Literatur" (Arntzen 1983, 48) vorbeizielen.

In diesem Zeitraum konstatiert Inger Rosengren, daß Sprach- und Litera­tur­wissenschaft "sich in letzter Zeit wieder nähergerückt" (Rosengren 1983, 53) sind. Der Grund dafür wird "in der Pragmatisierung der Sprachwissenschaft" gesehen und genauer darin, "daß der eigentliche Gegenstand sowohl der Litera­turwissenschaft als nun auch der Sprachwissenschaft der Text ist." (53). Einige Jahre später - nach einem früheren Beitrag, auf den sich Rosengren unter ande­rem beruft - plädiert Gotthard Lerchner in einer größeren Arbeit dafür, "die wis­senschaftliche Diskussion zu diesem Problemkomplex wieder stärker in Gang zu bringen" (Lerchner 1986, 5).

Einen Dialog zwischen Sprach- und Literaturwissenschaftlern hat es sicher immer gegeben; allerdings läßt der Nachdruck, mit dem in unterschiedlichen zeitlichen Abständen stets erneut Zuständigkeitsfragen thematisiert werden, darauf schließen, daß der Dialog zwischen (hypostasierend gesprochen) Sprach- und Literaturwissenschaft bisher nicht in wünschenswerter Kontinuität und Ausführlichkeit zustande gekommen ist.

Nach einer Phase, in der sich auf sprachwissenschaftlicher Seite neuere Richtungen (insbes. der "kognitiven Linguistik" und der Computerlinguistik) konsolidierten und offenbar kaum ein Argumentationsbedarf zu Fragen um Sprache in dichterischen Texten bestand, wird in den letzten Jahren wieder ver­stärkt der Dialog mit der Literaturwissenschaft gesucht. Davon zeugen ver­schiedene neuere Veröffentlichungen, die an dieser Stelle (auch aufgrund des Redaktionsschlusses vorliegender Arbeit) nicht sämtlich berücksichtigt werden können.

So sollte ursprünglich auch der Germanistentag 1998 den Fragen "in dem di­stanzierten, das heißt kommunikationsarmen Verhältnis von Literaturwissen­schaft und Linguistik" gewidmet sein, "um den notwendigen Diskussionen An­stöße und erste Perspektiven zu geben" (Kasten/Neuland/Schönert 1997, 8-9). Da sich dieser Plan nicht verwirklichen ließ, sind die "Mitteilungen des Deut­schen Germanistenverbandes" (44. 1997. H. 3) zum "Forum erster Bestandsauf­nahmen zur gegenwärtigen Situation und möglicher Überlegungen zu weiteren Entwicklungen" (vgl. ebda 9) gemacht worden.

Hervortreten in den Beiträgen des Bandes neben Vorschlägen zur theore­ti­schen Orientierung auch verschiedene didaktische Anliegen, die an Fragen des Verhältnisses von Literatur- und Sprachwissenschaft geknüpft sind.

 

Darauf, daß die "Auseinanderentwicklung von Linguistik und Literaturwissenschaft" negative Auswirkungen auch auf den Deutschunterricht hat, weist insbesondere Kaspar H. Spinner hin, hier insbesondere auf die "Verdrängung von Sprachunterricht" in der gymnasialen Oberstufe (Spinner 1997, 98). Den "gegenwärtigen Zustand" erfaßt er folgendermaßen:

"Man könnte den gegenwärtigen Zustand so beschreiben, daß in der Hochschule eine Ausdif­ferenzierung in Sprach- und Literaturwissenschaft erfolge, in der Schule aber deren Integra­tion unumgänglich sei." (Spinner 1997, 98).

Gemeinsamkeiten im Anliegen können nach Spinner im Konzept des "produktions-orientierten Literaturunterrichts" und in dem des "kreativen Schreibens" am ehe­sten verwirklicht werden. Als Folgerungen leitet Spinner unter anderen die an die Adresse von Didaktiker(inne)n gerich­tete Erwartung ab, "daß sie einen Blick auf das ganze Fach Deutsch behalten und entspre­chend in der Lehre die Verbindung zwischen den Teilbereichen herstellen können." (Spinner 1997, 100).

Jürgen Zeck geht kritisch auf das "Lehrfach Deutsch" ein; entsprechende Studien-Rege­lun­gen "fördern in keiner Weise ein Studium, das Literaturwissenschaft und Linguistik auch nur ansatzweise zusammenführt". Dies steht nach Zeck "in krassem Gegensatz zu dem in den Rahmenplänen für das Schulfach Deutsch geforderten intergrativen Deutschunterricht" (Zeck 1997, 87).

 

In diesem Band charakterisiert Siegfried Grosse das Verhältnis von Literatur­wissenschaft und Linguistik folgendermaßen:

 

"Das Verhältnis von Literaturwissenschaft und Linguistik ist in den vergangenen dreißig Jah­ren weniger zutreffend mit den Stichwörtern 'Konfrontation' oder gar 'Kooperation' als viel­mehr mit 'Gleichgültigkeit' und 'Ignoranz' zu charakterieren. Dazu tritt ein wechselseitiger Hochmut: Der Linguist empfindet die Hermeneutik literaturwissenschaftlicher Interpretatio­nen als beliebig und nicht exakt nachvollziebar; der Literaturwissenschaftler steht der lingu­istischen Formelsprache verständnislos gegenüber und empfindet Sätze wie 'Karlchen fährt Roller' als Textgrundlage für eingehende und wortreiche Analysen als befremdlich. Man weist gegenseitig auf Extrempositionen hin, versteht einander kaum, und, was am schlimmsten ist, nimmt einander nicht mehr ernst, woraus die hochmütige Überheblichkeit resultiert. Zur Zu­sammenarbeit kommt es nicht, ja, weil die Distanz inzwischen zu groß ist, nicht einmal zu Konflikten." (Grosse 1997, 12).

 

Dabei kennt, so Grosse, "der lernende Auslandsgermanistik die Trennung zwi­schen Linguistik und Literaturwissenschaft ebensowenig wie der binnendeut­sche Altgermanist [...]" (13). Grosse spricht sich gegen die "Scheu" der germa­nistischen Linguistik aus, "literarische Texte zu analysieren" (16). Im Anschluß an seinen Beitrag auf der Jahrestagung 1997 des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim stellt er fest, "daß die zeitgenössische Lyrik der letzten dreißig Jahre merkwürdigerweise weder von Linguisten noch von Literaturwissen­schaftlern als gemeinsame Aufgabe einer Analyse entdeckt worden ist". Es ist nach Grosse "bedauerlich", daß man sich "auf diesem Arbeitsfeld noch nicht zusammengefunden hat" (Grosse 1997, 16).

Aus der Menge neuerer Arbeiten, in deren Rahmen auf Gemeinsamkeiten von Literatur- und Sprachwissenschaft gesetzt wird, sei an dieser Stelle auf einen etwas anders nuancierten Beitrag Bezug genommen: Franz Hundsnurscher sieht in seinem Beitrag zu dem Sammelband mit dem Titel "Metapherngebrauch" im metaphorischen Sprechen einen Untersuchungsbereich, "in dem die Gegensätze zwischen literaturwissenschaftlicher und sprachwissenschaftlicher Sicht- und Arbeitsweise besonders deutlich werden." (Hundsnurscher 1993, 7). Zu dem mit der Literaturwissenschaft gesuchten Dialog führt er aus:

 

"In der Literaturwissenschaft wie in der Sprachwissenschaft geht es um das richtige Ver­ständnis von Sprache. In der Folge extern bedingter Bereichsabgrenzungen und divergierender Orientierungen ist eine Situation entstanden, in der die Gemeinsamkeit des Gegenstandes und der Fragestellung in Vergessenheit zu geraten droht und eine Verständigung über die Vorge­hensweise außerhalb jeder Reichweite zu liegen scheint. Die Vergewisserung über den eige­nen Problemhorizont und seine Relativierung aus der Sicht der Gegenseite könnten der Mühe wert sein, wenn man Voraussetzungen für einen neuen Dialog zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft schaffen will." (7).

 

Diese Formulierungen treffen recht genau auch die Argumentationsrichtung der vorliegenden Arbeit, in der Grundfragen der Celan-Philologie aus sprachwis­senschaftlicher Sicht erörtert werden und es nicht primär um die Bereitstellung von Analyseverfahren geht (vgl. die nachfolgenden Ausführungen). Das gilt sowohl für die zu betonende "Gemeinsamkeit des Gegenstandes und der Frage­stellung", als auch für genannte "Voraussetzungen für einen neuen Dialog", nämlich die "Vergewisserung über den eigenen Problemhorizont und seine Re­lativierung aus der Sicht der Gegenseite". Allerdings wird von Hundsnurscher der Eindruck vermittelt, als hätten Sprach- und Literaturwissenschaft einen ge­meinsamen Gegenstand. Eine solche Sichtweise kann nicht als zutreffend ange­sehen werden: Sprach- und Literaturwissenschaft haben lediglich einen gemein­samen  G e g e n s t a n d s b e r e i c h ,  anhand dessen sie ihren je gemeinsa­men Gegenstand unterschiedlich konstituieren.

Bevor auf die "Vergewisserung über den eigenen Problemhorizont und seine Relativierung aus der Sicht der Gegenseite" (Hundsnurscher) an Beispielen aus der Celan-Philologie unter 2.3. genauer eingegangen wird, seien an dieser Stelle einige Gesichtspunkte der in Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft un­terschiedlich aspektierten Rolle sprachwissenschaftlicher Untersuchungen be­rücksichtigt. Unter (1) werden zunächst verschiedene Fragestellungen und An­sprüche erfaßt, die bisher aus sprachwissenschaftlicher Perspektive dazu vorge­tragen worden sind. Sodann wird unter (2) kurz auf Rollenzuweisungen sprachwissenschaftlichen Handelns Bezug genommen, die man aus der "Sicht der Gegenseite" (Hundsnurscher 1993, 7) heraushebt. Stellungnahmen dazu las­sen sich in der Frage zusammenfassen: In welchem Ausmaß sollte man sich mit der Sprachwissenschaft abgeben?

 

(1)     Zu einigen Argumentationshinsichten, vorgebracht aus sprachwissen­schaftlicher Perspektive

 

Wo eine Überwindung "extern bedingter Bereichsabgrenzungen" (Hunds-nurscher 1993, 7) angestrebt wird, thematisiert man aus sprachwissen­schaft-licher Perspektive gewöhnlich Fragen der Rollenzuweisung entsprechen­der Analysebemühungen. Im wesentlichen Fragen werden Fragen des Typs ge­stellt: Kann man den Literaturwissenschaftlern helfen? Wo enden sprachwis­senschaft-liche Zuständigkeiten bzw. wo sollten sie enden? Die von sprachwis­senschaft-licher Seite vorgetragenen Annäherungen an dichterische Texte - durchaus im Sinne der Aufnahme eines Dialogs - begreifen sich meist als Hilfsleistungen, gerichtet an die Adresse der Literaturwissenschaft.

Aus konzeptionellen Gründen sind für die vorliegende Arbeit Fragen dieses Typs kaum von Belang. Einzugehen ist darauf allerdings an dieser Stelle, weil die anzusprechenden Bezugspunkte - im Sinne einer Vorbereitung auf die Aus­führungen in nachfolgenden Kapiteln vorliegender Arbeit - geeignet sind, Un­terschiede in der Zielsetzung zu verdeutlichen.

In engem Zusammenhang mit Fragen der Rollenzuweisung stehen solche nach der Durchführung entsprechender Annäherungen an dichterische Texte. Angesichts "divergierender Orientierungen" (Hundsnurscher 1993, 7) sind hin­sichtlich der Durchführung von Analysen - auf sprach- wie auf literaturwissen­schaftlicher Seite gleichermaßen - Fragen nach der Akzeptanz zugrunde geleg­ter theoretischer Voraussetzungen von erheblichem Gewicht: Ist von einer "poetischen Sprachfunktion" auszugehen? Reicht es aus, auf der strukturalisti­schen (strukturellen) Folie von Langue und Parole in der Saussure-Nachfolge zu argumentieren? Bieten die an strukturalistischen Unterscheidungen orientieren semiotischen Ansätze oder gewisse - nachrichtentheoretisch ausgerichtete - Kommunikationsmodelle eine geeignete Argumentationsbasis? Ist es sinnvoll, alternativ auf frühe Varianten der Chomsky-Theorie zurückzugreifen, in deren Rahmen dichterische Sprachlichkeit unter dem Abweichungsapekt betrachtet wird? Und wenn ein sprachhandlungsbezogener Ansatz bevorzugt wird, stellt sich die Frage, von welchem ausgegangen werden soll: Ist die Bezugnahme auf frühe oder spätere Entwicklungen sprechakttheoretischer Ansätze ausreichend, um fruchtbare Ergebnisse mit Blick auf dichterische Texte erzielen zu können?

Auf all die Fragen wird erst in nachfolgenden Kapitel vorliegender Arbeit eine Antwort gegeben. An dieser Stelle wird darauf Wert gelegt, zunächst Ar­gu­mentationshinsichten solcher Vorgängerarbeiten zu erfassen, die ebenfalls auf Fragen dichterischer Sprachlichkeit gerichtet sind.

Auf einige solcher Fragen wird z.B. in Lerchner (1986) eingegangen. Einbe­zogen sind nachfolgend verschiedene andere Versuche, sprachwissenschaftliche Analyseansätze auf dichterische Texte zu beziehen:

Gotthard Lerchner hebt in einer Arbeit, in der die Rolle der präsentierten sprachwissenschaftlichen Textanalyseverfahren sehr ausführlich begründet wird, hervor, daß durchaus "kein Mangel an linguistischen Zugriffen zum lite­rarischen Gegenstand" bestehe. Allerdings habe sich allzuoft "erwiesen, daß solcher Zugriff zum Würgegriff geworden ist für die Dichtung, das Kunstwerk, das hinter aufwendigen Analysen zu verschwinden drohte oder gar bei der De­monstration von Modellen und Verfahren bewußt außer Betracht blieb." Derar­tige "Mißverständnisse" haben, so Lerchner, "ihrerseits dazu geführt, daß in li­teraturwissenschaftlichen Konzeptionen in der Regel die Sprachform aus dem Blickfeld geraten ist [...]" (Lerchner 1986, 11).

 

Prüft man, so Lerchner, die "verfügbaren linguistischen Regelmodelle daraufhin, wie sich mit ihrer Hilfe Wirkungspotentiale literarischer Texte abbilden lassen, dann fällt das Ergebnis zunächst wenig ermutigend aus"; denn aufgrund "abweichenden Erkenntnisinteresses" lassen sich "linguistische Analysemodelle nicht einfach, sozusagen in umgekehrter Schreibung, als Wirkungsmodelle literarischer Texte in der poetischen Kommunikation lesen". Er führt dazu weiter aus:

"Und wenn die Literaturwissenschaft mit der Linguistik und ihren Methoden in ihrem Be­reich nicht allzuviel im Sinn hat, sie vielleicht sogar mit einem gewissen Mißtrauen betrach­tet, ist sie erst einmal durchaus im Recht. Hier wird die objektive Grenze wirksam, die Sprach- und Literaturwissenschaft auf Grund ihrer diskreten Gegenstände voneinander trennt." (Lerchner 1986, 93).

 

Der von Lerchner verfolgte und hier nicht darzustellende "kommunikative Be­schreibungsansatz" unterscheidet sich erheblich (vgl. 15; vgl. auch 22.) von verschiedenen literaturwissenschaftlich oder linguistisch geprägten struktura­listischen Auffassungen zur Poetizität oder Literarizität ("Potenzen des Sprach­systems", "Abstufungen [...] von Grammatikalität", Annahme einer speziellen künstlerischen Sprache, etc.).

Lerchner begreift die von ihm vorgestellten Analyseverfahren als - subjektiv - ausgewählte "Angebote" (Lerchner 1986, 6; vgl. auch 8 u. 90) von linguisti­scher Seite, um "denjenigen Teil der Literaturkritik, der sich mit Gestaltungs­fragen befaßt, wissenschaftlich sicherer zu machen" (191). Eine Überschätzung der Linguistik ist damit nicht verbunden (vgl. 6). Vor allem wird dafür plädiert, die "Grenzen für linguistische Beschreibungen literarischer Texte" (90) anzuer­kennen:

 

"Grenzziehungen für die Anwendung linguistischer Analysen künstlerisch geformter Texte sind nicht nur ein Gebot methodischer Sauberkeit, der Abgrenzung und nüchternen Beurtei­lung linguistischen Selbstvermögens, sondern zugleich auch eine Herausforderung, ein An-Gebot, über das spezifisch Trennende hinweg das Verbindende [...] auf diese Weise produktiv werden zu lassen." (Lerchner 1986, 90).

 

Die linguistisch zu bewältigende Aufgabe erschöpft sich nach Lerchner im Auf­zeigen der "Sprach- und Textgestaltung"; für die sich "notwendig anschließende ästhetische Bewertung" (zweiter Schritt) kann "die Linguistik mit ihren Mitteln nichts mehr leisten" (79).

 

Als nicht unproblematisch muß angesehen werden, wenn Lerchner das Verhältnis von Litera­tur- und Sprachwissenschaft im Bezugsrahmen von Subjektivem und Objektiven sieht. Lerch­ner geht nämlich davon aus, daß die "auf das Erfassen individueller ästhetischer Produktivität gerichtete Methodik der Literaturwissenschaft in ihrem Ansatz notwendig subjektiv" sein müsse, während "die linguistische Textanalyse von Anfang an auf Objektivität" ziele: "Der Schritt der Literaturwissenschaft zur Objektivierung ihrer Ergebnisse" führe diese "folge-richtig unter anderem auf linguistische Methoden" (Lerchner 1986, 92).

 

In Abhängigkeit vom Erkenntnisinteresse ist der Zugang nach Lerchner "deut-lich linguistisch" dann, wenn es um das "Textverständnis" geht; "besteht das Ziel dagegen im Verständnis des Kunstwerkes, ist er literaturwissenschaft­lich determiniert" (92). "Interdisziplinäres Bemühen von Literatur- und Sprachwissenschaft" kann daher nach Lerchner "nicht in einem bedingungslo­sen Integrationsprozeß der einen in die andere Disziplin bestehen"; der "jeweils spezifische Zugang zu Dichtungstexten" muß "gewahrt, ja betont und dadurch in ein fruchtbares Spannungsverhältnis gebracht" (91/92) werden.

Die Auffassungen Lerchners zur Rolle linguistischer Analysebemühungen scheinen - jedenfalls in zentralen Aspekten - von vielen anderen Sprachwissen­schaftlern geteilt zu werden: Hilfsleistungen, an welche Beteuerungen zur sprachwissenschaftliche Selbstbeschränkung geknüpft sind, finden sich weithin in Arbeiten, in denen es sich um eine weniger umfangreiche (und dem "Angebot" nach weniger reichhaltige) Anwendung sprachwissenschaftlicher Analyseverfahren handelt als in Lerchner (1986).

 

Angeführt seien dazu lediglich Rosengren (1983) und Rupp (1986). In ähnlicher Weise wie Lerchner will Inger Rosengren - ausgehend von zwei Gedichten - "die Möglichkeiten und Grenzen der Sprachwissenschaft bei der Analyse von literarischen Texten exemplifizieren"; sie hebt in dem Zusammenhang hervor:

"Für die Literaturwissenschaft könnte die Sprachwissenschaft deshalb eine Hilfswissen­schaft sein, indem sie die Literaturwissenschaft mit texttheoretisch begründeten Methoden bei der Textanalyse versieht." (Rosengren 1983, 53).

Heinz Rupp hat - im Rahmen der Analyse eines Gedichts von Celan - die Frage gestellt: "Kann der Sprachwissenschaftler, einfa­cher der Grammatiker, dem Literaturwissenschaftler helfen?" (Rupp 1986, 97). Und er hat die Frage so beantwortet:

"Die Linguisten müssen sich beschei­den", aber sie können "dem Literaturwissenschaftler einen sicheren Boden ver­schaffen, auf dem er seine Interpretationen aufbauen kann [...]" (Rupp 1986, 102).

 

Die Akzeptanz sprachwissenschaftlicher Analysebemühungen hängt auf litera­tur- wie auf sprachwissenschaftlicher Seite ganz wesentlich von einer geeigneten sprachwissenschaftlichen Grundorientierung ab; auch zu Diskussionen um diesen Unteraspekt kann auf Ausführungen aus Lerchner (1986) verwiesen werden. Was die literaturwissenschaftliche Seite angeht, ist für die mögliche Akzeptanz allerdings bedeutsamer, ob literaturwissenschaftliche Anschlußkommunikationen (insbesondere interpretative Einordnungen) ermöglicht werden, also die Analyse diesbezüglich erkenntniserweiternd ist und nicht als bloße Demonstration linguistischer Theoriefragmente angesehen werden muß.

Bereits in Arntzen (1983) wird - wie später in Lerchner (1986) - für die Mängel damaliger sprachwissenschaftlicher Ansätze verantwortlich gemacht, was weithin auch in neueren und neuesten Arbeiten nicht als überwunden gelten kann: Zugriff auf dichterische Texte unter dem Abweichungsaspekt, ausgehend von der Annahme eines Ausnahmestatus bzw. einer - unter systemlinguistischen Gesichtspunkten erfaßten - Sonderrolle dichterischer Sprachlichkeit. Unbefriedigend bleiben sprachwissenschaftliche Zugriffsweisen nach Arntzen dann, wenn "Zeugnisse der Literatur" als "relative Abweichungen vom regelhaften System" (49) erfaßt werden. Des weiteren wird in Arntzen (1983) darauf hingewiesen, daß Literatur kein "Sonderfall des Systems Sprache" ist, sondern daß "gerade in der Literatur Sprache als die vermittelte Sprache-Sprechen-Einheit" (50) erscheint. Dem "Denken dieser Einheit", so Arntzen, "nähert sich die moderne Linguistik mühsam, wenn sie anfängt, die Dichotomie von systemorientierten Sprach- und von Sprechakttheorien zu überwinden." (Arntzen 1983, 50).

Peter Sturtz fordert, nicht nur sog. "Gebrauchstexte", sondern auch literarische Texte müßten "auf der Grundlage einer linguistischen Texttheorie analysiert werden" (Sturtz 1993, 184). Betont wird auch hier, im Rahmen einer sehr begrenzten sprechakttheoretischen Bezugnahme auf einen literarischen Text, daß die "Analyse eines literarischen Textes auf der Grundlage einer linguistischen Texttheorie auch ihre natürlichen Grenzen" (205) habe.

 

Auf inhaltliche Aspekte des texttheoretischen Zugriffs kann hier nicht ausführlich eingegangen werden: Hingewiesen sei lediglich darauf, daß der angesetzte "Texttyp" BESCHREIBEN mit den ihm zugeordneten "Informationen" für ein Gedicht von Walter Benjamin - abgesehen von dem geringen Erkenntnisgewinn - aus theoretischer Sicht als äußerst problematisch erscheinen muß. Nicht reflektiert wird, daß entsprechende Sprachhandlungs-Zuschreibungen immer nur (nicht nur mit Blick auf literarische Texte) interpretationsabhängig erfolgen können. Ebenso problematisch ist das für die linguistische Textanalyse ausgemachte Problem, "daß literarische Texte keine sozial-institutiven Zwecke verfolgen und somit einen nicht-verbindlichen Charakter haben." (Sturtz 1993, 205). Dem ist insbesondere mit Blick auf die Ausführungen aus Schmidt (1980/1991) zu widersprechen; vgl. dazu insbes. 3.5.1.

 

Susanne Marten-Cleef geht - im Unterschied zu Lerchner - davon aus, daß es, "abgesehen vom poetischen Strukturalismus", nur wenige Versuche gegeben hat, "neuere linguistische Verfahren auf literarische Texte zu übertragen" (Marten-Cleef 1993, 238). Vorgestellt wird eine sich als "pragmatisch" verstehende Analyse des Gedichts "MÖWENKÜKEN, silbern" (II/185). Diese basiert auf Fiktionalitätsannahmen, auf Annahmen zum Abweichungscharakter dichterischer Texte und darauf, daß Kohärenz sich an Texteigenschaften festmachen lasse.

 

Ausgehend von Fiktionalität - vgl. Marten-Cleef 1993, 241: "Die aller fiktionalen Rede eigene ästhetische Funktion" - wird der Celan-Text als "Realisation des Kompositionsmusters 'Gedicht'" erfaßt (vgl. 243) und werden die "innertextlich vollzogenen Handlungsmuster" zu "überprüfen" (244) versucht. Da entsprechende Zuordnungen nicht klar zu bestimmen sind (z.B. BEHAUPTUNG oder KONSTATIERUNG oder PROPHEZEIHUNG; vgl. 245), gilt das Gedicht als "inkohärentes Gebilde"; "inkohärent" ist das Gedicht aber hiernach auch "in bezug auf den Zusammenhang von sprachlichen Handlungsmustern und Äußerungsformen" (245). Diese Beurteilung wird gemessen an vermeintlichen "Wohlgeformtheitsbedingungen" (245) alltagssprachlicher Texte. Mit Blick auf das Gedicht wird demgegenüber als "Merkmal individueller Stile" u.a. die "Befolgung der stilistischen Regel des Abweichens" (Marten-Cleef 1993, 246) ausgemacht.

 

Durch Bezugnahme auf fragwürdige sprachwissenschaftliche Theoreme zeichnet sich auch die Monographie von Edda Dupke Hodnett mit dem Titel "As-pekte der Sprachgestaltung bei Paul Celan" (Hodnett 1991) aus. In Orientierung an die ältere generative Linguistik soll die "Analyse semantischer Merkmale und die Applikation syntaktisch-semantischer Transformationen als Hilfsmit-tel" (8) dazu dienen, die "verdunkelnden Strategien der Sprache Celans" (13) im Bereich des nominalen Wortbestands aufzuzeigen. Verstöße gegen die Selektionsrestriktionen (in der Version der generativen Grammatik) werden über Celan hinaus "als wesentliche Eigenschaft poetischer Sprache allgemein" (13) angenommen; des weiteren gilt es als "für den Sprachgebrauch Celans aufschlußreich, besonders die Transformationen zu beschreiben, welche zu abweichenden Satzstrukturen führen" (13).

 

Mit der Berufung auf die linguistische Poetik - "in der Nachfolge Jakobsons und Bierwischs" - sowie vor allem auf "Einsichten der transformationellen Grammatik" zur "Erzeugung von grammatisch wohlgeformten Sätzen einer Sprache" (8) ist ein - aus literaturwissenschaftlicher wie aus linguistischer Perspektive - ausführlich als inakzeptabel reflektierter Theorierahmen vorgegeben; vgl. dazu den Exkurs zur poetischen Sonderfunktion in der textorientierten Poetizitätsforschung unter 3.5.1.4.

Die auf dieser Basis durchgeführte syntaktische Analyse nimmt dabei nur einen bescheidenen Umfang an (vgl. die Ausführungen S. 85-107); aufgezeigt wird vor allem die "Übertretung grammatischer Regelmäßigkeiten", durch welche sich "der dunkle Stil moderner Lyrik allgemein, und der Celans besonders" (85) auszeichne. Im wesentlichen werden für sämtliche Gedichtsbände des Werks Merkmalanalysen durchgeführt. Vorteile des Ansatzes werden - entgegen jahrzehntelang geführter Diskussionen dazu - "in ihrer methodischen Neutralität" (8) gesehen; die Merkmale sind nach Hodnett "keine formal-logischen Erstellungen, sondern erklären sich aus der menschlichen Fähigkeit zur Sprache allgemein" (9). Für jeden Gedichtsband werden tabellarisch neun Merkmale (so KON für "konkret", ABS für "abstrakt", MEN für "menschlich", REL für religiöse Ausdrücke, ZEI für zeitliche Ausdrücke etc.) angesetzt; zugeordnete Ziffern bezeichnen die Häufigkeit ihres Vorkommens im untersuchten Wortbestand; Berechnungen zur Gesamtprozentzahl beziehen sich auf die Merkmale KON und ABS. Für die untersuchten Gedichtsbände werden im Sinne des merkmalbezogenen Zugriffs Verletzungen der "semantischen Regeln" aufgezeigt, so auch für angebliche "Meta-phern" wie schwarze Milch der Frühe (vgl. S. 17).

 

In besonderem Maße nachdenklich machen sollte Sprach- und Literaturwissenschaftler(innen) gleichermaßen der im Rahmen vorliegender Arbeit zuletzt zur Kenntnis genommene Beitrag zum Werk Paul Celans, nämlich die 135 Seiten umfassende Dissertation (Freiburg, Sommer 1990) von Alois Keller mit dem Titel "...in eines Anderen Sache. Analysen zu fünf Gedichten Paul Celans" (Keller 1997). Die Arbeit umfaßt an "Theoretische[n] Schriften" gerade zwei Literaturangaben (Lotmann 1972 und Titzmann 1977); sie besteht darin, daß einige (teils verquer erfaßte) linguistische Theoreme auf die vier Gedichttexte angewandt und zu diesen Gedichten jeweilige "Bezugstexte" (von Whorf, Kant, Saussure und Buber) als Gedicht-"Entsprechungen" aufgesucht und aufgefunden werden.

 

Diese, als Dissertation angenommene, Arbeit ist durchaus nicht typisch für die Celan-Philologie, sondern stellt in gewisser Hinsicht einen Extremwert dar. Abgesehen von den durchgeführten Versanalysen (nach Lotman) ist die Bezugnahme auf gewisse linguistische Theoreme in nahezu sämtlichen Details fragwürdig. Nicht nur, daß mit der Aufnahme einiger weniger Termini in das angefügte einseitige "Register" (Keller 1997, 135) potentielle Leser völlig unterschätzt werden (Ausdrücke wie Opposition, Äquivalenz, Inkompatibilität, Polysemie und Wortfeld dürften jedem bekannt sein); die Erläuterungen sind auch nichtssagend bzw. gar abwegig wie für Proposition: "Konsequenz und Folgerung, die aus einer Äußerung gezogen werden kann" (Keller 1997, 135).

Am auffallendsten hebt sich eine eigentümliche Analysehaltung hervor; diese besteht darin, daß auf nicht bzw. nur ansatzweise Untersuchtes verwiesen wird und für das Untersuchte nicht nachvollziehbare "Entsprechungen" veranschlagt werden; vgl.:

"Für die anderen untersuchten, aber hier nicht besprochenen Gedichte gilt, daß mein jetziges Wissen über das kulturelle Wissen zu klein ist, um eine befriedigende Analyse zu liefern. Doch stellt sich eben heraus, daß das benötigte kulturelle Wissen sehr speziell ist. Die vier unten analysierten Gedichte zeigen, daß für jedes der vier Gedichte offensichtlich ein und nur ein Text das nötige kulturelle Wissen liefert." (Keller 1997, 34).

Für das Gedicht MIT ALLEN GEDANKEN (I/221) wird "das nötige kulturelle Wissen" in einem Aufsatz von B. L. Whorf gesehen ("Sprache, Geist und Wirklichkeit"). B. L. Whorf gilt Keller als "Sprachwissenschaftler", dessen Thesen zur "Arupa-Welt" und anderen Mystifikationen als "wissenschaftlich" bezeichnet werden (um das zu betonen, wird der Ausdruck wissenschaftlich von Keller fett hervorgehoben). Offenbar inspiriert von diesem Typ der Wissenschaftlichkeit, bereichert Keller seine Darlegungen um verschiedene suggestive Skizzen (zu "Arupa", "Mana", "Kama" und "Nama-Rupa"; vgl. S. 41). Das Hauptproblem ist aber, daß sich bei Whorf und in Celans Gedicht zwar ein paar übereinstimmende sprachliche Ausdrücke finden (die auch für andere "Bezugstexte" aufgefunden werden könnten), daß aber die angeblichen Entsprechungen völlig an den Haaren herbeigezogen sind. Hier wie in sonstigen Partien des Beitrags von Keller tritt ein bedenklicher Grad an Verstiegenheit hervor, wie man ihn in Texten dieser Textsorte nicht gewohnt ist vorzufinden.

In der Umschlagseite des Bandes stellt sich das allerdings ganz anders dar, nämlich folgendermaßen:

"Alois Kellers Untersuchung basiert auf einer Analyse von 38 Gedichten Paul Celans aus den Bänden Die Niemandsrose und Atemwende. Anders als in der Sekundärliteratur sonst üblich, versucht der Autor nicht, einzelne Metaphern und thematische Aspekte zu erhellen. Er beweist anhand einer Schritt für Schritt vorgeführten Analyse von fünf exemplarisch ausgewählten Gedichten seine Hypothese, dass verschiedenen Celan-Gedichten konkrete Schriften von Sprachtheoretikern und Philosophen als Bezugstexte zugrunde liegen. Diese Textanalysen, die auf der Strukturalen Textanalyse von Manfred Titzmann basieren, bedeuten mit ihrem neuen Typus von Intertextualität einen Durchbruch in der Celan-Forschung. Die anspruchsvolle Lektüre wird leserfreundlich erleichtert durch den einfachen, präzisen Schreibstil ohne Fussnoten, durch die ausfaltbaren Texte der fünf interpretierten Gedichte, ein Register der verwendeten speziellen Termini und durch die zahlreichen, übersichtlich gestalteten Schemata im Text."

 

 

(2)     Zu einigen Argumentationshinsichten, vorgebracht aus literaturwissenschaftlicher Perspektive:

 

Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive scheinen Stellungnahmen zur Rolle sprachwissenschaftlicher Untersuchungen nicht sehr ausgeprägt zu sein. Orientierungen an anderen Wissenschaften, hier der Linguistik, werden als problematische Anleihen dann erfaßt, wenn sie den Besonderheiten literarischer Texte nicht gerecht werden. Einige der Gründe für das nicht immer unberechtigte Mißtrauen, mit dem sprachwissenschaftliche Untersuchungen begleitet werden, finden sich in Lerchner (1986, 93 et passim); für Spezifika aus der Celan-Philologie sei auf 2.3.2. verwiesen.

In Arnzten (1983) wird neben der bereits angesprochenen Tendenz, die sich durch "Ressortbestimmtheit" auszeichnet, eine Tendenz genannt, die "durch den genauen Gegensatz zur Indolenz der ersten gegenüber der Linguistik und ihren 'Grundwissenschaften' gekennzeichnet" ist, nämlich "durch einen Identifikationshang":

 

"Dem Wunsch nach wissenschaftstheoretischer Rechtfertigung des eigenen Tuns wird hier bis zur Aufgabe des eigenen Erkenntnisbereichs und -anspruchs nachgegeben." (Arntzen 1983, 54).

 

Einen solchen "Identifikationshang" sieht Arntzen in zahlreichen einführenden Schriften zur Literaturwissenschaft vertreten, "die sich nicht etwa aufgrund theoretischer und kritischer Erwägungen mit der Linguistik und ihrem Sprachdenken auseinandersetzen und nach seiner Nähe oder Ferne zum (eigenen) Literaturbegriff fragen, sondern als Einübung in Kommunikationstheorie, Text-theorie und Semiotik auftreten, die dann lediglich für den kaum noch abgrenzbaren Bereich der Literatur aufbereitet werden" (Arntzen 1983, 55).

Die Problematik literaturwissenschaftlicher Anleihen an die Linguistik wird in Gabriel (1991) aus philosophischer Sicht unter dem Stichpunkt "Flucht in die Linguistik" erfaßt. Gottfried Gabriel konstruiert ein "Dilemma" der Literaturwissenschaft, das m. E. so überhaupt nicht gegeben ist; es bestehe darin: "Mit dem Herzen ist sie Kunst und mit dem Verstand Wissenschaft" (Gabriel 1991, 111). Entscheidet sie sich für ersteres, werde sie "ihrer ursprünglichen Aufgabe gerecht", stelle aber "ihren Charakter als Wissenschaft" in Frage. Wenn sie "Verstand ohne Herz" ist, so Gabriel, dann "beweist sie ihren Charakter als Wissenschaft, verliert aber ihren Gegenstand und eigentlichen Zweck aus den Augen". Auf der einen Seite gebe es dann die "Flucht in die Linguistik als Wissenschaft, auf der anderen Seite den Rückzug in das Bekenntnis zur Subjektivität"; auf der einen Seite stehe der "linguistisch geschulte Literaturwissenschaftler", auf der anderen der "pädagogisch ausgebildete Literaturkundler" (111). Aus diesem "Dilemma" gibt es nach Gabriel keinen Ausweg durch "Philologie, Rezep­tionsgeschichte, Literatursoziologie und Textlin­guistik" (Gabriel 1991, 111).

 

Als Begründung dafür, warum das nicht mög­lich sein soll, wird angegeben, der "primäre Leser" sei erstgenannten Disziplinen verlorengegangen: Literarische Texte seien nicht für so genannte "ex officio-Leser" verfaßt. Und weil sich literarische Texte eben nicht an Leser-Fachleute richteten, seien die genannten Disziplinen - einschließlich der Text­linguistik - nicht geeignet, "aus dem Dilemma her­auszuführen". Begründet wird dies des weiteren damit, daß entsprechende Disziplinen "bereits auf einer Seite, nämlich derjenigen der Wissen­schaft stehen" (129); die Adressaten literarischer Texte sind sie nach Gabriel nicht. Wie diese Disziplinen nimmt auch "die Linguistik" nach Gabriel einen "Meta-Standpunkt" ein, "wenn sie z.B. als Textlinguistik versucht, die Strukturen litera­rischer Texte zu bestimmen" (Gabriel 1991, 112).

 

Hingewiesen sei schließlich auf den ausführlichen und auf Vielseitigkeit der Perspektiven angelegten Grundkurs "Literaturwissenschaft" (Brackert/Stückrath Hrsg. 1995). Dort wird zur möglichen Rolle sprachwissenschaftlicher Untersuchungen - "Ressortbestimmtheit", Anleihen, oder gar "Flucht in die Linguistik" im Sinne eines "Identifikationshangs" - nicht explizit Stellung genommen. Im Nachwort des weithin benutzten Grundkurses wird in Auseinandersetzung mit dem pessimistischen "Krisendiskurs" und dem optimistischen "Reformulier-ungsdiskurs" für eine "bescheidenere und selbstbewußtere Literaturwissenschaft" plädiert: Literaturwissenschaft "als Reflexion subjektiv bedeutsamer Erfahrung" sollte "ein kommunikativer Prozeß" sein (Brackert/Stückrath 1995, 711). Den sich anschließenden Ausführungen zu einer solchen Zielsetzung kann uneingeschränkt zugestimmt werden; ihnen dürfte auch von anderer sprachwissenschaftlicher Seite - von der aus sicher zu bedauern wäre, daß in dem gesamten Band linguistische "Angebote" unbeachtet bleiben - insgesamt nicht widersprochen werden:

 

"Und diesem Ziel nähern sich die Literaturwissenschaftler nur dann an, wenn sie nicht nur Interpretationsergebnisse liefern, sondern zugleich Begriffe und Verfahren der Texterschließung vermitteln; wenn sie nicht nur Typologien und Theorien entwerfen, sondern auch zeigen, wie diese aufgebaut sind; wenn sie nicht nur Konzepte anderer Wissenschaften in den literaturwissenschaftlichen Kommentar einbringen, sondern im selben Zusammenhang vermitteln können, wie diese strukturiert sind und was sie in der Auseinandersetzung mit den Erfahrungswelten der Literatur leisten bzw. nicht leisten." (Brackert/Stückrath 1995, 712).

 

 

2.2.2. Zur Positionsbestimmung vorliegender Untersuchungen

 

Wie bereits betont, sind die in vorausgehendem Abschnitt angesprochenen Zuständigkeitsfragen in derjenigen Version, nach der Hilfsleistungen angeboten werden, aus konzeptuellen Gründen für vorliegende Arbeit kaum von Belang. Denn vor allem nur dort, wo der angestrebte Dialog mit der literaturwissenschaftlichen Seite auf die Präsentation linguistischer Analyseverfahren hinausläuft, sind Zuständigkeiten abzuklären und - z.B. in Form der Selbstbeschränkung auf vermeintlich ausschließlich sprachwissenschaftliche Aufgaben - zu rechtfertigen.

In diesem Kontext ist zu sehen, daß auf literaturwissenschaftlicher Seite ein ganz diffuses Bild von linguistischen Analysebemühungen entstanden ist, das sich in einem insgesamt negativen Linguistik-Stereotyp verdichtet hat.

In der vorliegenden Arbeit geht es hingegen nicht um punktuelle Hilfsleistungen an die Adresse der Literaturwissenschaft, sondern um die Klärung sehr unterschiedlicher Sachprobleme.

 

Einige Ausgangspunkte für Analysestrategien werden im sechsten Kapitel skizziert; favorisiert werden dort solche Verfahren, die vielseitig sind und aufgrund geringen Theorieaufwands einen weitgehend barrierenfreien Nachvollzug ermöglichen. Grundsätzlich ist allerdings jedes Analyseverfahren willkommen, das sprachwissenschaftlich fundiert ist und erkenntniserweiternde Ergebnisse erzielt.

 

Die zu behandelnden Probleme fallen aufgrund ihrer Struktur in den sachlichen Verantwortungsbereich von Sprach- und Literaturwissenschaft gleichermaßen; insofern kann die entlang "extern bedingter Bereichsabgrenzungen" (Hunds-nurscher 1993, 7) gestellte Zuständigkeitsfrage als entschärft gelten. Mit der Bezugnahme auf Fragestellungen im Umkreis von Bedeutung, Referenz, Verstehen und Interpretieren ist insofern allerdings eine ausführliche Zurkenntnisnahme literaturwissenschaftlicher Positionen unumgänglich, als Fragen folgenden Typs zu beantworten sind: Muß zur Bewältigung der "inhaltlichen Dimensionen" dichterischer Sprachlichkeit eine spezifisch "literarische Semantik" (vgl. Brackert/Stückrath 1995, 702) erarbeitet werden? Ist es sinnvoll, ein spezifisches poetisches Verstehen anzusetzen? Ist für dichterische Sprachlichkeit von einem besonderen referenz- und zeichentheoretischen Zuschnitt z.B. im Sinne einer hermetischen Zeichenhaftigkeit auszugehen?

Im einzelnen sind es ganz unterschiedliche und sich überschneidende Sprachfragen, die aufgeworfen werden. Bereits ihrer Formulierung gemäß (!) heben sich die in der Celan-Philologie gestellten Fragen in ganz gravierender Weise davon ab, wie diese Fragen in nachfolgenden Kapiteln vorliegender Arbeit gefaßt und zu bewältigen versucht werden. Unter einer Perspektive, welche die je einzeln in Arbeiten gefaßten Ausführungen hierzu unberücksichtigt läßt, können die für typisch anzusehenden Fragestellungen folgendermaßen unter (a) bis (c) gefaßt werden:

 

 

(a)     Zeichenbegriff, Referenz, Sprache und Wirklichkeit:

 

In der Celan-Philologie werden Fragen des Typs gestellt: Worauf "beziehen sich" die Zeichen? Wird in diesen Gedichten überhaupt "auf etwas in der Welt referiert"? "Fallen" nicht Wort bzw. Name und Ding "zusammen"? Wird in den Gedichten "Wirklichkeit repräsentiert", oder wird sprachliche "Eigenwirk-lichkeit geschaffen"?

 

 

(b)     Bedeutungsbegriff:

 

In der Celan-Philologie werden hierzu - aus extrakommunikativer Perspektive mit Blick auf entsprechende Formulierungsresultate betrachtet - Fragen des Typs erörtert: "Entstehen Bedeutungen" erst im "Kontext"? Welche "Bedeu-tungen" werden im Gedicht "transportiert"? Sind die Bedeutungen im Gedicht "eigentliche" Bedeutungen oder "uneigentliche" bzw. "metaphorische" Bedeutungen?

 

 

(c)     Textbegriff (einschließlich Fragen der Textverdichtung, Kohärenz u.a.m.):

 

Hierzu werden - gleichfalls aus extrakommunikativer Perspektive erfaßt - mit Blick auf entsprechende Formulierungsresultate ganz unzulängliche Fragestellungen des Typs aufgeworfen: Welche Bedeutungen "transportiert" der Dichter? Welche "Eigenschaften der poetischen Funktion" sind anzunehmen? Wie lassen sich "Ästhetizität", Literarizität und "Fiktionalität" am Text "festmachen"? In welcher Weise "verdichet" Dichtung? Sind "dichterische Texte" dieses Typs "köhärent"?

 

 

(d)     Verstehen, Wissen, Hermetik, Interpretation:

 

Zu diesem Komplex, der nicht unabhängig von den Fragestellungen zu sehen ist, welche vorstehend angesprochen worden sind, werden gleichfalls ganz gravierende Fragestellungen aufgeworfen: Die Einordnung entsprechender Argumentationshinsichten aus der Celan-Philologie wird allerdings nicht nur dadurch erschwert, daß auf eingespielte Muster der Auseinandersetzung mit moderner Lyrik (z. B. "hermetische Dichtung" im Anschluß an Mallarmé) Bezug genommen wird, sondern vor allem dadurch, daß bereits die dazu formulierten Fragen erkennen lassen, in welcher Weise - abseits jeder Berücksichtigung neuerer Ansätze zu Problemen im Umkreis von Verstehen und Wissen - argumentiert wird: Wieviel muß man wissen, um "hermetische Dichtung" diesen Typs "entschlüsseln" und zumindest bis zu einem gewissen Grad verstehen zu können? Kann man diese Gedichte ohne Zurkenntnisnahme historischer, religionsgeschichtlicher und sonstiger Daten verstehen? Ist dazu "Spezialwissen" überhaupt zu veranschlagen? In wieweit kann ein weit gefächertes "Wissen" eine geeignete Interpretation begründen?

Zur Beantwortung dieser und zahlreicher anderer Fragen sind in nachfolgenden Kapiteln teils ausführliche Theoriewahldiskurse zu führen, da - anders als für einen sich auf die Präsentation von Analyseverfahren beschränkenden Zugriff - ein mehr oder weniger apodiktisch erfolgender Theoriestart nicht infrage kommen kann.

Dies ist sowohl aufgrund der Vielfalt aufzuwerfender (und in der Celan-Philologie aufgeworfener) Sprachfragen notwendig, als auch wegen ihrer Verflochtenheit mit bereits in der Celan-Philologie eingespielten Frage- und Antworttypen. Was von Hundsnurscher als "Voraussetzungen für einen neueren Dialog zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft" genannt wird, nämlich die "Vergewisserung über den eigenen Problemhorizont und seine Relativierung aus der Sicht der Gegenseite" (Hundsnurscher 1993, 7), wird im Rahmen vorliegender Arbeit mit Blick auf sämtliche der zu behandelnden Probleme durchzuhalten versucht. Soweit es für notwendig erachtet wird, auf spezifisch literaturwissenschaftliche Fragestellungen einzugehen, wie es z.B. diejenigen zur Hermetik sind (vgl. 5.2.), stehen entsprechende Ausführungen gleichwohl im Dienste solcher Sachfragen, die auch sprachwissenschaftlich besehen von Belang sind.

Wenn somit auch hier eine Überwindung "extern bedingter Bereichsabgrenzungen" (Hundsnurscher 1993, 7) durchaus angestrebt wird, sind die Zielsetzungen in vorliegender Arbeit dennoch andere, als sie im Rahmen punktueller Bezugnahmen auf dichterische Texte - qua Präsentation gewisser linguistischer Ergebnisdarstellungen - üblicherweise zu veranschlagen sind:

 

- Es wird davon ausgegangen, daß eine ausführliche Auseinandersetzung mit dichterischen (resp. literarischen) Texten und Gegebenheiten ihrer Rezeption in nicht-sprachwissenschaftlichen - eben in literaturwissenschaftlichen - Diskursen geeignet ist, für verschiedene, als genuin linguistisch anerkannte, Forschungsfelder neue Perspektiven zu gewinnen, so zu Fragen der Textlinguistik (Text-verdichtung, Kohärenzprobleme) und auch zu Detailfragen aus Semantik- und Zeichentheorie. Gerade auch in der neueren Fachsprachenforschung (vgl. die "Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft", hier "Fach-sprache") wird im Rahmen vorliegender Arbeit ein ganz verwandtes Forschungsfeld erkannt, wozu bereits in Wolski (1997), (1998b) und (1998f) entsprechende Bezüge hergestellt worden sind: Die Beschäftigung mit Fragen dichterischer Sprachlichkeit kann den Blick dafür schärfen, daß für Fachsprachen mit ganz vergleichbaren Absatzbewegungen von alltagssprachlichen Bezeichnungs- resp. Nominationsverhältnissen zu rechnen ist, wie diese von dichterischen Texten stets vorausgesetzt werden. Daß im Rahmen der neueren Fachsprachenforschung die Fachsprachenspezifik von Texten nahezu durchweg nur im Kontrast zur Alltags- bzw. Gemeinsprache erfaßt wird, läßt sich als eines ihrer gravierenden Defizite erfassen (Wolski 1998b); auch soweit man glaubt, generelle Eigenschaften einer "Wissenschaftssprache" ausmachen zu können, ist der erste Schritt gewöhnlich derjenige, dichterische Sprachlichkeit auszublenden (vgl. dazu Wolski 1998f). Die Problematik entsprechender Ansätze wird hier insbesondere darin gesehen, daß die Ausgrenzung dichterischer bzw. literarischer Texte im wesentlichen über theoretische Konstruktionen wie Fiktionalität, Literarizität, Ästhetizität und Emotionalität geleistet wird (vgl. Wolski 1997).

Um diesbezüglich zu einer befriedigenden Lösung zu gelangen, bedarf es eines sprachtheoretisch fundierten Ansatzes, in dessen Rahmen die Grenzen zwischen dichterischer Sprachlichkeit einerseits und gemeinsprachlichen sowie fachsprachenspezifischen Gegebenheiten andererseits nicht verwischt werden, aber zur Begründung entsprechender Differenzqualitäten über die üblicherweise veranschlagten Bezugspunkte theoretischer Art hinausgegangen wird; vgl. dazu insbesondere die Ausführungen unter 3.2., 3.3., 3.5.1. vorliegenden Beitrags.

 

- Auf literaturwissenschaftlicher Seite können gegebenenfalls für sämtliche der in der Celan-Philologie diskutierten Fragen Argumentationshinsichten gewonnen werden, die bisher nicht einmal in den Blick geraten sind. Insofern handelt es sich auch bei vorliegenden Ausführungen durchaus um ein "Angebot" (vgl. Lerchner 1986, 6) an die literaturwissenschaftliche Seite. Dies Angebot ist allerdings nicht in jenem, unter 2.2.1. dargestellten, Sinne als "Hilfsleistung" zu begreifen, wonach entsprechende Hilfsleistungen auf der Folie vorab separierter - und gegebenenfalls am Ende zusammengeführter - Zuständigkeitsbereiche zustande kommen. Auch sind die aus literaturwissenschaftlicher Perspektive angeführten, in Richtung "Flucht in die Linguistik" (Gabriel 1991, 111) oder "Identifikationshang" (Arntzen 1983, 54) gehenden, Bedenken in vorliegendem Zusammenhang insofern hinfällig, als in sämtlichen einschlägigen literaturwissenschaftlichen Arbeiten - der Sache nach jedenfalls - die gleichen Sprachfragen aufgeworfen werden, die auch zentraler Gegenstand ausführlicher sprachwissenschaftlicher und sprachphilosophischer Diskurse sind.

 

Im Rahmen der skizzierten Ausrichtung vorliegender Arbeit bedarf es einer theoretischen Orientierung, welche auf sprachwissenschaftlicher Seite eine Anschlußkommunikation an die mit Blick auf dichterische Texte gewonnenen Aspekte sicherstellt, die aber ebenso auch den literaturwissenschaftlich zu bewältigenden Sprachfragen eine plausible Grundlage bietet. Dazu wird von einem sprachhandlungstheoretischen Ansatz ausgegangen, der den sprachtheoretischen Prämissen nach fundiert und sprachphilosophisch abgesichert ist, und der eine einheitliche Bewältigung der in Sprach- und Literaturwissenschaft aufgeworfenen Sprachfragen ermöglicht. Dem Ausdruck einheitliche Bewältigung kommt im Rahmen nachfolgender Erörterungen (vgl. die sich anschließenden Kapitel) ein derart großes Gewicht zu, daß mit Blick auf zahlreiche theoretische Details immer wieder darauf abzuheben sein wird. Der Grundorientierung dient hier der - nicht nur im Rahmen vorliegender Arbeit als am weitesten entwickelt angesehene - sprachhandlungstheoretische Ansatz, welcher von Herbert Ernst Wiegand in zahlreichen Arbeiten vorgelegt worden ist (Wiegand 1985, 1987, 1989); vgl. dazu 3.3.

Zusätzlich wird - in der Rolle eines Orientierungsrahmens - für spezifische textlinguistische Fragen dichterischer Sprachlichkeit auf den damit kompatiblen Ansatz aus Schmidt (1991) zurückgegriffen (zuerst 1980; zitiert hier als Schmidt 1980/1991; vgl. dazu 3.5.1.). Dieser Ansatz kann insofern als "integrativ" bezeichnet werden, als er sprach- und literaturwissenschaftlichen Argumentationshinsichten gleichermaßen gerecht wird. Wenngleich in verschiedenen Ausführungen vorliegender Arbeit die in Schmidt (1980/1991) entwickelten Positionen wiederholt zu Worte kommen, beinhaltet dies nicht eine Anlehnung an die "empirische" Literaturwissenschaft, worauf zur Vermeidung von Mitßverständnissen in aller Deutlichkeit hingewiesen sei. Denn es kann aufgrund der sprachwissenschaftlichen Ausrichtung nachfolgender Untersuchungen überhaupt nicht darum gehen, sich ausschließlich an der einen oder anderen literaturwissenschaftlichen Theorievariante zu orientieren.

Und auch wenn im Rahmen vorliegender Arbeit konstruktivistische Positionen als erkenntniserweiternd begriffen werden (vgl. 4.2.2.), um Fragen im Umkreis von Sprache und Wirklichkeit auf dem heute erreichten Argumentationsstand einzubeziehen, ist damit keine vorbehaltlose Anlehnung an entsprechende Theoreme verbunden.

Die zu behandelnden Sprachfragen sind in jeder Hinsicht in Sprach- und Literaturwissenschaft kontrovers erörtert worden. Manche der mittlerweile überwunden geglaubten Kontroversen - z.B. zu merkmaltheoretischen Ansätzen, zu einem angenommenen Nahverhältnis von Sprache und Wirklichkeit u.a.m. - leben aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungssysteme (im Sinne von Schmidt 1980/1991, 71) immer wieder auf, dürften aber auch angesichts argumentativ ausufernder Gegenargumentationen nicht als überwindbar anzusehen sein. Auch darin zeigen sich - über institutionell zu verzeichnende Grenzen hinweg - Gemeinsamkeiten in den verwandten, auf Sprachliches (!) gerichteten, Disziplinen.

 

 

2.3.    Zum Verhältnis von Sprach- und Literaturwissenschaft in der Celan-Philologie

 

2.3.1. Vorbemerkungen

 

Die beiden Abschnitte 2.3.2. und 2.3.3. haben nicht den Charakter einer Einführung in das Werk; auch handelt es sich nicht um einen eigentlichen Forschungsbericht, der eine systematische Präsentation sämtlicher Stationen der bisherigen Celan-Philologie beinhalten müßte. Die Ausführungen stehen vielmehr im Zusammenhang der in vorliegendem Kapitel angesprochenen sprachwissenschaftlichen Bezugnahmen auf dichterische Texte: In repräsentativer Auswahl wird unter 3.2.2. aufgezeigt, welche sprachwissenschaftlichen Argumentationshinsichten einen nachhaltigen Einfluß auf die Celan-Philologie ausgeübt haben und wie sie auf weiterreichende interpretative Gesichtspunkte hin perspektiviert worden sind. Insgesamt treten dabei sehr kontroverse Beurteilungen zur Rolle sprachwissenschaftlicher Ansätze hervor. In einem Exkurs wird eine Arbeit berücksichtigt, die nicht zur Celan-Philologie zählt, auf die aber unter anderen Gesichtspunkten manchmal auch in der Celan-Philologie zurückgegriffen wird.

In dem sich anschließenden Abschnitt 3.2.3. werden einige Gesichtspunkte literaturwissenschaftlicher Zugriffe angesprochen, wie sie aus literaturwissenschaftlicher Perspektive kritisch thematisiert worden sind. Vor allem gerät dabei die Problematik von Interpretationen in den Blick, auf die aber an dieser Stelle nicht ausführlich einzugehen ist.

 

 

2.3.2.   Zum Status sprachwissenschaftlicher Ansätze;
aus literaturwissenschaftlicher Perspektive

 

Mit Blick auf das Werk Celans ist die sachliche Notwendigkeit, ganz unterschiedliche sprachwissenschaftliche Argumentationshinsichten einzubeziehen, aufgrund des von allen Theoretikern/Theoretikerinnen anerkannten Umstands gegeben, daß der Autor nicht nur in schriftlichen und mündlich bezeugten Äußerungen, sondern auch in vielen Gedichten mit großer Deutlichkeit grundlegende Sprachfragen reflektiert hat.

Es entstehen durch den Charakter des Werks bedingte (durch dieses evozierte) Fragestellungen, die sonst in Hinblick auf lyrische Texte kaum diskutiert zu werden brauchten: Kann es möglich sein, fragt z. B. Beda Allemann, daß im Werk Celans, "gleichsam poetisch verbrämt, linguistische Aussagen gemacht werden"? - und er weist dies mit guten Gründen zurück (vgl. Allemann 1970, 270). - Wiederholt ist auch die Frage diskutiert worden, die hier nach Winfried Menninghaus zitiert sei, "ob Celans Gedichte nur dem exklusiven Zirkel linguistisch versierter Literaturwissenschaftler zugänglich sind, die mikrologische Wirkungszusammenhänge sprachlicher Formative zu analysieren vermögen, oder ob die Synthesis solchen Sprechens auch auf eine weniger spezialisierte Art in die Unmittelbarkeit von Lesern eingehen kann". (Menninghaus 1980, 253).

Nachfolgend wird auf verschiedene Arbeiten eingegangen, die unabhängig von bestehenden Kontinuitäten jeweiliger Argumentationshinsichten oder anderer Gesichtspunkte ausschließlich aus Darstellungsgründen zeitlich folgendermaßen nach (1) und (2) gruppiert sind: Einer ersten Phase sprachwissenschaftlicher Bezugnahmen auf das Werk - und damit auch ganz unterschiedlich ausgerichteter Reaktionen auf die in ihrem Rahmen artikulierten Geltungsanspruche - zugerechnet werden Arbeiten, die dem Entstehungsdatum nach in den Zeitraum etwa von (vor) 1970 bis 1980 (und etwas darüber hinaus) fallen. Einer zweiten Phase sind Arbeiten aus dem sich anschließenden Zeitraum zugeordnet. Bei der schwerpunktmäßigen Sichtung von Arbeiten, die vor 1990 bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt erschienen sind, bleiben einige kleinere Darstellungen zum Werk P. Celans unberücksichtigt. Ausgenommen werden hier auch Detailanalysen von Gedichten, in deren Rahmen unterschiedliche linguistische Orientierungen hervortreten.

 

 

(1)     Zur ersten Phase der Auseinandersetzung mit dem Werk Paul Celans:

 

In der Celan-Philologie sind sprachtheoretische Erörterungen - im Für und Wider der Argumentationen - bis in die Gegenwart hinein an jenem theoretischen Rahmen ausgerichtet, den (abgesehen von der Berücksichtigung älterer Richtungen) schon in den 60er und 70er Jahren nur das sprachwissenschaftliche Paradigma der Saussure-Nachfolge abgeben konnte. Im wesentlichen sind es Arbeiten von Harald Wein­rich, und daneben auch Ausführungen aus Szondi (1972), zu denen in fast jeder Darstel­lung zum Werk Celans Stellung bezogen wird; mit Blick auf sie gibt es eine Kontinuität mehr oder weniger kritischer Rezeption sprachwissenschaftlicher Aspekte - orientiert vor allem an gewissen griffig gefaßten Stellungnahmen zum Wirklichkeitsbezug des Werks und zu einigen der ins Spiel gebrachten Termini. Die Kritik an systemlinguistischen Ausführungen, die am deutlichsten in Menninghaus (1980) gefaßt wird, ist vergleichsweise wenig beachtet worden.

Weinrich hat mit Blick auf die moderne Lyrik seit Mallarmé festgehalten: "Es geht um die Sprache, vielleicht nur noch um die Sprache" (Weinrich 1968a/-1986, 134; zitiert wird hier nach "Literatur für Leser" aus 1986). Am Beispiel Baudelaires zeigt Weinrich skizzenhaft auf, "wie sich die moderne Lyrik ihrer linguistischen Dimension bewußt wird" (135). Zugleich wendet er sich gegen die Rede von der Sprachmagie, die von Hugo Friedrich ("Die Struktur der modernen Lyrik"; zuerst 1956, zitiert hier nach der 9. Aufl. als Friedrich 1956/-1966) in die Diskussion gebracht worden ist (vgl. dazu Weinrich 1968a/1986, 135). Zentrale Ausdrücke in Weinrichs Theorierahmen sind "Metapoesie" ("Ge-dichte über Gedichte") und "Metasprache", nämlich "Sprache über Sprache" (134). Weinrich stellt zudem fest, "daß die Lyriker nicht die schlechtesten Linguisten gewesen sind" (143). So rechnet Weinrich denn auch u.a. Paul Valéry "zu den großen Linguisten" (139); bei seinen Schriften handele es sich um "linguistische Reflexion", er sei "sich der linguistischen und näherhin semantischen Bedingungen der Dichtung bewußt" (138).

Zum Entstehungsdatum der genannten und anderer Arbeiten von Weinrich hatte die durchgehende Betonung des "Linguistischen" sicherlich die Funktion, bekannte Aversionen gegen die Linguistik abzubauen, wie sie auf literaturwissenschaftlicher Seite anzunehmen waren.

 

Der sorglose Umgang mit den Ausdrücken linguistisch und Linguisten scheint von hierher erklärlich. Denn wer sollte sich der Linguistik verschließen, wenn hier nicht lediglich ein Linguist (Weinrich) sich mit der modernen Lyrik befaßt, sondern wenn sogar die hochverehrten Literaten selbst gute "Linguisten" sind und sie "linguistische Reflexionen" zum Gegenstand von Gedichten machen? - Allerdings ist dasjenige, was als linguistisch bezeichnet wird, durchweg sachgerechter als sprachreflexiv zu erfassen.

 

Als Überzeugungsarbeit ist auch die folgende Passage zum Verhältnis von Ästhetik und Linguistik zu werten:

 

"Was die moderne Lyrik in dieser bestimmten Richtung betrifft, so kann eine Ästhetik ohne Linguistik nicht mehr als adäquate Grundlage des Geschmacksurteils angesehen werden. Die meisten dieser Lyriker kennen ja Humboldt, Saussure und Wittgenstein. Wenigstens diese Linguisten, manche kennen mehr. Die literarische Kritik kann daher nicht hinter der Linguistik der Autoren zurückbleiben. Sie sollte sie vielleicht sogar überholen." (Weinrich 1968a/1986, 147).

 

Weder Wilhelm von Humboldt noch Ludwig Wittgenstein sind Linguisten wie Ferdinand de Saussure, an dem - bzw. an Fragmenten aus Arbeiten zu dessen Wirkungsgeschichte - Literaturwissenschaftler zumeist ihr Linguistik-Stereotyp entwickelt haben dürften. Aber erstere werden F. de Saussure zur Seite gestellt, wie auch die Autoren-Linguisten. Die Autoren sind den Literaturwissenschaftlern bekannt - wenn auch nicht als Linguisten. Gleiches ist für Humboldt anzunehmen; ihn hinzuzugesellen ist sicherlich als vertrauensbildende Maßnahme in besonderem Maße dazu angetan, für die - in den Augen vieler - recht apodiktische Formulierung um Verständnis zu werben, "eine Ästhetik ohne Linguistik" sei nunmehr als rückständig anzusehen.

In die deutsche Literatur ist, so Weinrich, "die linguistische Reflexion erst spät, mit der Verspätung zweier Generationen, in die Lyrik eingegangen" (141). Angeführt werden Helmut Heißenbüttel und sodann Paul Celan. Die "seman-tische Reflexion" hat Paul Celan, so Weinrich, "erstmalig" in dem Gedichtband "Von Schwelle zu Schwelle" (1955) entdeckt; sie wird "beherrschendes Motiv in dem Band Sprachgitter und verschwindet bis zu seinem Tode nicht mehr aus seinen Gedichten" (141). Es folgt darauf die Bemerkung, welche anschließend in kaum einer Arbeit zu Celan ausgelassen wird:

 

"Es ist im linguistischen Sinne folgerichtig, daß diese Gedichte von Band zu Band weniger welthaltig werden. Sie verzichten darauf, welthaltig zu sein, weil sie worthaltig sein wollen. Das eben meint der Titel Sprachgitter." (Weinrich 1968a/1986, 142).

Seinen Ausführungen "zu den Beziehungen von Lyrik und Linguistik" fügt Weinrich die ähnlich beachtete Bemerkung an, "daß auch der Zweifel und die Verzweiflung an der Zeichenkraft der Sprache genuine Möglichkeiten der linguistischen Reflexion sind" (143).

 

Auf die Celan-Philologie haben bezeichnenderweise - anders als der öfters kritisch rezipierte linguistische Geltungsanspruch - Formulierungen wie welthaltig und worthaltig erheblichen Einfluß ausgeübt (Die Rede von der Lyrik als der "am wenigsten welthaltigen Kunst" soll übrigens auf W. Kayser zurückgehen; vgl. Waldvogel 1978, 96).

 

So hat sich z.B. Klaus Vos­winckel (vgl. Voswinckel 1974, 117) wie viele andere Celan-Interpreten diese These Weinrichs zu eigen gemacht. In dem Band mit dem Titel "Über Paul Celan" kritisiert die Herausgeberin, Dietlind Meinecke immerhin, Weinrich lasse in dem dort abgedruckten Beitrag (Weinrich 1968) "die Unterscheidung von Reali­tät und Wirklichkeit [...] unerörtert"; und sie fährt fort:

"Seine etwas verwirrend globale Aussage muß jedoch von seinem linguistischen Konzept her gesehen werden" (Meinecke 1973, 17).

Ausführlich eingegangen wird in Meinecke (1973) auf Weinrichs Äußerungen zur Ableh-nung ei­ner Weltbildthese nach Humboldt, Sapir, Whorf und Weisgeber und darauf, daß in "einer Textlinguistik" sich "alles ganz anders" darstelle (vgl. Meinecke 1973, 17).

 

Kritisch wird schon von Peter Horst Neumann (Neumann 1968, geringfügig erweiterte Neufassung 1990) zu gewissen, von Weinrich ins Spiel ge­brachten, Termini Stellung genommen, hier insbeson­dere zu der "Meta"-Rede­weise. Weinrich hatte zu dem Ausdruck Tiefimschnee aus dem Gedicht KEINE SANDUHR MEHR (II/39) in einem Beitrag aus 1968 (wieder abgedruckt in Meinecke Hrsg. 1973) ver­merkt:

 

"Wir befinden uns nicht mehr in der Dimension der planen Sprache (Sprache über Sachen, z.B. über 'Schnee'), sondern der Metasprache ('Sprache über Sprache', z.B. das Wort 'Schnee'). Das Gedicht zeigt an sich selber die Unzuläng­lichkeit seiner eigenen Sprache". (Weinrich 1968/1973, 225).

 

Neumann stellt die im Kern zutreffende und zum dama­ligen Argumentationsstand bemerkenswerte Frage, "ob eine Bezeichnung, die gemeinhin zur Be­nennung theoretischen Sprechens von Sprache dient, einer Dichtung gerecht werden kann, die von Sprache nicht anders als in poetischer Weise redet" (Neumann 1968, 98, Anm. 2). - Als noch "fragwürdiger" erscheint Neumann die "Bezeichnung der Celanschen Dichtung als 'Metapoesie'". Der Ausdruck besage hier nichts - "jedenfalls", so Neumann, "bezeichnet er nichts spezifisch Celansches" (Neumann 1968, 98, Anm. 2). Auf der Basis der problematischen Annahme, "Dichtung und Dich­tersprache" seien als "nahezu identisch" aufzufassen ("jede ist in der anderen und durch sie"), leitet er fol­gende Teilzuständigkeit der Linguistik ab:

 

"Diese Beinahe-Identität weist auf die Grenze einer rein linguistischen Betrachtung des Dichterwortes. Der Versuch, seine Gestalt zu beschreiben, kann seiner Deutung nicht entraten. "(Neumann 1990, 10).

 

In ähnlicher Weise wie Neumann geht später Jean Bol­lack (Bollack 1988) kritisch auf Weinrichs Stellungnahmen zu Celans Werk ein. Bollack stellt mit Blick auch auf andere Arbeiten fest, daß diese "dem Deskriptiven verhaftet" geblieben seien, "worunter einige, wie die von Weinrich, gewiß prinzipiell zutreffender sind als andere" (Bollack 1988, 293). Weinrich war ver­schiedenen Ausdrüc­ken wie Auge, Stein, Sand - in Stellungnahmen zu dem Band "Von Schwelle zu Schwelle" - nachgegangen, die er, wie Bollack dazu vermerkt, "als Vokabeln jener 'Metasprache'" auf­faßt, "die sich auch für ihn in den Texten konsti­tuiert". Bollack schließt daran die Bemerkungen an:

 

"Vom Standpunkt der 'Linguisten' her hätte die se­mantische Entzifferung Lektüre statt einer bloßen Beschreibung erfor­dert, und so eine angemessenere und 'freiere' hermeneuti­sche Interpretation er­laubt, gerade weil sie sich mit Recht von dem hei­deggerschen oder von anderen Prämissen abgesetzt hatte" (Bollack 1988, 294).

 

Die Argumentation läuft also auch hier - wie bei Neu­mann - darauf hinaus, daß bloße Deskription bzw. "semantische Entzifferung" nicht ausreichend sei, um Spezifika des Werks zu erfassen; verlangt wird ein Weg, der über die Lektüre kommt und die Deutung ein­schließt.

 

Daß es gewissen Celan-Interpreten sogar gelingt, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf H. Weinrich die Ausdrücke Metapoesie und Metasprache umzudeuten, zeigt die Arbeit von Dieter Schlesak (Schlesak 1990). Schlesak stellt die Frage:

"Ob es eine Metasprache gibt? Es gibt sie. Allerdings wird sie in den Deutungen nur marginal berührt; es ist weder Benjamin Lee Whorfs Hopisprache und schon garnicht die deutsche Sprache, sondern das Hebräisch der Thora und dessen 'Partitur'. Denn vieles in Celans Metapoesie wirkt wie eine paradoxale Verschränkung des Deutschen mit jenem Ur-Text [...]." (Schlesak 1990, 336).

Man muß nach Schlesak wissen, was ein Ausdruck wie z.B. Auge "in jenem metasprachlichen Kontext der erwähnten Partitur bedeutet", sonst bleibe die Deutung "nur ein Rätselraten". Empfohlen wird von Schlesak, "Germanisten sollten bei Scholem nachschlagen, aber auch bei Friedrich Weinreb [...], bevor sie sich an ihre Interpretationskünste heranwagen" (Schlesak 1990, 337).

 

Auf die linguistischen Vorentscheidungen, wie sie Weinrich für Werke der modernen Lyrik annimmt, und die sich daraus ergebenden Vermittlungsschwierigkeiten geht Holger Pausch (Pausch 1981) ein: Der theoretisch unbelastete Lyrikfreund sei "wenig glücklich über dergleichen Voraussetzungen, die ihm den Zugang zum Werk Paul Celans verstellen", denn die sprachphilosophische Tradition der modernen Lyrik "ist abseits des Fachmanns der breiten Leserschicht, an die sich Lyrik ja hauptsächlich wendet, wohl kaum verfügbar" (Pausch 1981, 7). Was literaturwissenschaftliche Arbeiten angeht, beklagt Pausch, daß die entsprechende Theoriebildung als "verstehensnotwendige linguistische Vorentscheidung" (15) oft nicht reflektiert werde. Die Hilflosigkeit, die sich in die Frage fassen lasse, "Was 'eigentlich' mit diesen Texten tun?", sei aber "auch heute trotz linguistischem Strukturalismus und konkreter Poesie noch nicht überstanden" (33). Im wesentlichen wird im Anschluß an Weinrich das dichterische Werk als Verwirklichung einer linguistischen Orientierung erfaßt. So stellt Pausch zu dem Gedicht ANABASIS (1/256) fest: "Sichtbares und Hörbares amalgamieren zu einer neuen Sprache, chiffriert in dem 'freiwerdende [n] Zeltwort: Mitsammen'". Und er führt dazu aus:

 

"Dieses nicht unberechtigt als idealistisch zu bezeichnende linguistische Programm Paul Celans wird in allen ihm zugänglichen Sprachbereichen aktiviert, neu umschrieben, mit Wortneubildungen sprachlich modifiziert" (Pausch 1981, 76).

 

Demgegenüber haben sich andere Celan-Interpreten gegen die einseitige Orientierung an einer linguistischen Deutung des Werks gewandt. So gehört es z. B. nach Rainer Nägele "zu den häufigsten Unbedachtheiten in der Literaturkritik, linguistische Reflexion im Gedicht zu privilegieren, als wären derartige Elemente im Gegensatz zu philosophischen, religiösen, psychologischen usw. schon an sich poetisch gerechtfertigt". Die "poetische Funktion" ist nach Nägele "der linguistischen nicht näher als jeder anderen Art von Rede" (Nägele 1987, 263).

Schließlich sei darauf hingewiesen, daß die Auseinandersetzung mit lingui­stischen Überlegungen eine bekannte Vorgeschichte hat, die insbesondere mit dem Namen Roman Jakobson ver­knüpft ist, und welche bei der Einschätzung der in Arbeiten Weinrichs hervortretenden linguistischen Perspektivierung des Werks von Celan nicht unbedacht geblieben sein dürfte. Erwähnt sei aus der Fülle von Bezugnah­men eine Notiz von Leif Ludwig Albertsen (Albertsen 1973), wo auf den für wesentlich gehaltenen Umstand hingewiesen wird, ein literarischer Text sei ein "abundant" struktu­rierter Text, "innerhalb dessen die formalen Be­züge Aussa­gecharakter erhalten", was wiederum zur "bekannten Polyin­terpretabilität des künstlerischen Gebildes" führt. Albert­sen stellt dazu fest:

 

"Es beruhigt gleichsam den Literaturhistoriker, daß auch der Linguist trotz mancher primitiver Kurz­schlüsse hier wieder zu dieser Erkenntnis kommt, so z.B. Roman Jakobson in On Translation, hrsg. v. R.A. Brower, Cambridge (Mass.) 1958, 4." (Albertsen 1973, 12).

 

In anderen Arbeiten finden sich Vorurteile, die von nicht näher bezeichneten sprachwissenschaftlichen Orientierungen abgeleitet sind. So stellt z.B. Heinz Michael Krämer in einer um den Einbezug Ce­lan'scher Lyrik in die religiöse Verkündigung ori­entierten Arbeit (Krämer 1979) in dem Kapitel "Die Be­deutung der Lyrik für die Sprache der Verkündi­gung" fest:

 

"Im Unterschied zu linguistischen Untersuchungen, die immer nur Forderungen erheben können in An­schluß an eine kriti­sche Analyse, ist die Literatur selbst bereits Sprachpra­xis: Sie steht also auf der gleichen Ebene wie die Verkün­digung. Konkret sind Celans Gedichte selbst bereits Bei­spiel für das, was theoretisch gefordert wird, z.B.: zu sprechen in eines anderen Namen, Gespräch zu sein und der mitgegebenen Daten eingedenk zu bleiben" (Krämer 1979, 185).

 

Neben den Arbeiten Weinrichs und gelegentlich Roman Jakobsons ist nur noch den "Celan-Studien" des Philologen Peter Szondi (Szondi 1972) eine vergleichbare Aufmerksamkeit in litera­turwissenschaftlichen Arbeiten zu Celan zuteil geworden, motiviert wohl ebenso durch dessen anregenden Zugriff auf dieses Werk wie da­durch, daß ihn persönliche Freundschaft mit diesem verband und er im Abschluß seiner Lebensplanung mit Celan übereingekommen ist.

 

Durch Vermittlung Szondis soll Celan wiederum 1969 mit Jaques Derrida bekannt gemacht worden sein (vgl. Sevenich 1985, 48). Angesichts einer bei Celan vermerkten Mehrdeutigkeit, die "beides, signifié und signifiant, umfaßt", hat Szondi es z.B. unter Verweis auf Derrida für "unangemessen" erklärt, "das Saussuresche Modell des Zeichens beizubehalten" (Szondi 1972, 93).

 

Szondi wendet sich gegen "personalisierte, also zufällige Assoziationen" und "ungefähre Hypothesen" (Szondi 1972, 91), ohne daß me­thodisch "auf Interpretationen verzichtet" werden soll; "auf sie zu verzichten, ist", so Szondi, "nicht möglich" (65).

Wesentlicher Bezugspunkt für Anschlußkommunikationen sind Szondis Ausführungen zu dem Gedicht mit dem Titel ENGFÜHRUNG (I/195), hier insbesondere Feststellungen wie die, das Gedicht sei "nicht Repräsen­tation einer Wirklichkeit, sondern selbst Realität" (77); vgl. dazu auch die Ausführungen unter 4.3.2. Nach Menninghaus hat Szondi "als er­ster die entscheidende dichtungstheoretische Bedeutung und die methodischen Probleme von Benjamins Begriff der Inten­tion auf die Sprache erkannt, er hat ihn auch als erster zum erklärten Ausgangs- und Zielpunkt einer Celan-Interpre­tation gemacht" (Men-ninghaus 1980, 13; Bezug ist Szondi 1972, 18).

Im einzelnen dürften allerdings die Bezugnahmen Szondis auf Benjamin und insbesondere auch auf Derrida als bedeutender Fehlgriff zu beurteilen sein, welcher der Celan-Philologie leider allzu oft eine sprachmystizistische Ausrichtung vorgezeichnet hat, die abseits sachbezogener Klärungsversuche von Sprachsachverhalten liegt.

 

EXKURS: Wenn man den näheren Umkreis der Bezugnahmen durch Celan und derer, welche über die Rezeption seines Werks vermittelt sind, einigermaßen ausführlich zur Kenntnis nimmt, dann wird insgesamt deutlich, daß Celan in einen ähnlichen Argumentationskreis des Geisteslebens seiner Zeit eingebunden ist, wie er auch für Benjamin ausgemacht werden kann. Benjamin stand in Kontakt zu Adorno und zu dem Religionsphilosophen Gershon Scholem, so daß sich hier ganz und gar verwickelte Berührungspunkte zumindest über die gegenseitige Zurkenntnisnahme von Schriften verschiedener Art ergeben, die in Einzelheiten noch nicht genau aufgearbeitet zu sein scheinen.

Einiges ist der Arbeit von Hans Mayer mit dem Titel "Der Zeitgenosse Walter Benjamin" (Mayer 1992) zu entnehmen. Hingewiesen wird auf den Briefwechsel Benjamins mit Adorno, auf den Kontakt zu Bertolt Brecht (welcher zwei Gedichte über den Tod Benjamins verfaßt hat; vgl. 79) und an dessen "Freundschaft" Benjamin geglaubt habe (14). Des weiteren zeigt Mayer die Beziehungen Benjamins zu dem Theologen und Philologen Gerhard (später: "Gershom") Scholem auf, der ihm der "engste Vertraute" gewesen sei (15), sowie auf Kontakte Benjamins mit Klaus Mann (vgl. 27) und Ernst Bloch (vgl. 28). Mayer hebt hervor, daß Peter Szondi in einer "sehr tiefgründigen Studie über Walter Benjamin" von "einer 'Hoffnung im Vergangenen' gesprochen" (76; vgl. auch 79) habe; und er stellt dazu fest:

"In einem bewundernswerten und traurigen Sinne muß man bei Szondi von 'Nachfolge Walter Benjamins' sprechen. Er hat das große Vorbild nicht mehr erlebt; als Nachgeborener aber lernte er den Dichter Paul Celan kennen, mit dem er vertrauten Umgang hatte. Sie alle schauten zurück auf ihre Zeit mit dem Blick des Angelus Novus. Benjamin konnte nicht wissen oder nur ahnen, daß es sich um eine Welt des Holocaust gehandelt hat. Celan und Szondi haben es gewußt und erfahren." (Mayer 1992, 76).

Das von Mayer angesprochene Bild von Paul Klee, das Angelus Novus heißt, stellt einen Engel dar, "der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt" (74). Mayer nimmt das Bild als Aufhänger, um die personellen Beziehungen zu skizzieren: Das Bild sei zu Adorno gelangt, "der es weitergab an Gerhard Scholem in Jerusalem, dem es bereits im Jahre 1932 testamentarisch vermacht worden war" (75). Und Walter Benjamin habe, so Mayer, das Bild gedeutet als "Engel der Geschichte" (73).

Was die Beziehung Celans zu Benjamin angeht, so wird meist der Einfluß gewisser sprachphilosophischer Überlegungen Benjamins hervorgehoben, die dieser in einem frühen Aufsatz mit dem Titel "Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" (Benjamin 1916) angestellt hat. Von dem Aufsatz Benjamins ausgehend gab es, so Menninghaus, eine Fortsetzung von Sprachmystika in das weitere Werk Benjamins; dabei haben sich Benjamin und Scholem gegenseitig beeinflußt (vgl. Menninghaus 1980, 22). Die Redeweise Benjamins von der "Intention auf den Namen", worauf von Szondi zuerst hingewiesen wurde, stellt Menninghaus in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen zu Celans Sprachreflexion; Menninghaus sieht diese in zahlreichen Gedichten verwirklicht, in denen die Rede vom "Namen" ist, und er bezeichnet diese Reflexionen als "metapoetische Sprachreflexion". Noch 1984 stellt z.B. Horst Turk fest, "daß die Lyrik Celans eine Intention auf die Sprache durchaus im Sinn des Benjaminschen Messianismus besitzt" (Turk 1984, 91). Was der Ausdruck Name (hergeleitet von Benjamins Schriften und im Werk Celans wiedererkannt) in den Gedichten besagt, bleibt bei Benjamin, aber auch in der Rezeption durch Menninghaus - gelinde gesagt - ein wenig im Dunkel: Der "Name" ist nach Menninghaus "Inbegriff eines 'Versenkens' der quasi vertikal übereinandergelagerten semiologischen Differenzen in eine horizontal 'schwimmende' In-Differenz von magischer Präsenz" (Menninghaus 1980, 251). Was Menninghaus in seiner Sprache hier - unter Einbezug von Ausdrücken aus Gedichttexten - zu erläutern versucht, ist nicht minder schwer zu verstehen als manch ein Gedicht Celans. Gemeint ist wohl, daß in Celans Gedichten - in Anschluß an gewisse magische und mystische Auffassungen Benjamins - sprachzeichentheoretische Konstruktionen nach F. de Saussure (bzw. auch solcher anderer Ausrichtung) unterlaufen werden.

Die zur Zeit ihrer Abfassung bereits durchaus unzeitgemäßen sprachmystischen Spekulationen um "Name", "reine Sprache", "Ideen", "Sein der Wahrheit" etc. hat Benjamin in verschiedenen Schriften entfaltet. Diese Schriften sind jetzt im Neuabdruck aus den gesammelten Schriften (Tiedemann Hrsg. 1992) bei Reclam unter dem Titel "Sprache und Geschichte. Philosophische Essays" erschienen (bedauerlicherweise ohne Angaben zu den Erscheinungsdaten der Originaltexte!). Es handelt sich entgegen der knappen Erläuterung des Herausgebers bei dem, was Benjamin entwickelt hat, durchaus nicht um eine "Sprachtheorie" (174) in einem wissenschaftlichen Sinne des Gebrauchs dieses Ausdrucks, auch wenn Benjamin diesen Ausdruck offenbar selbst verwendet hat.

In dem frühen, religiös geprägten, Aufsatz, in dem nicht von ungefähr auf den Mystiker Johann Georg Hamann zweimal Bezug genommen wird, gilt der "Name" als "das innerste Wesen der Sprache selbst" (34):

"Gottes Schöpfung vollendet sich, indem die Dinge ihren Namen vom Menschen erhalten, aus dem im Namen die Sprache allein spricht" (35).

In dem Aufsatz "Die Aufgabe des Übersetzers" ist "die reine Sprache" etwas, das die "überhistorische Verwandtschaft der Sprachen" begründet und darin besteht, daß "es in keiner einzelnen verwirklicht ist, sondern nur der Allheit ihrer einander ergänzenden Intentionen erreichbar ist" (55). Die Stelle, auf die sich die Ausführungen u.a. Menninghaus' zur "Intention auf die Sprache" bzw. zur wichtigen Rolle des "Namens" stützen, findet sich in diesem Aufsatz, in dem Benjamin die Aufgabe des Übersetzers so bestimmt:

"Sie besteht darin, diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus in ihr das Echo des Originals erweckt wird" (58).

Die "reine Sprache" nun ist bei Benjamin "als ausdrucksloses und schöpferisches Wort das in allen Sprachen Gemeinte" (62). Es wäre nun verfehlt, hier als Sprachwissenschaftler zum Beispiel mit Blick auf die Verwendung des Ausdrucks Name ältere namentheoretische Erörterungen zu assoziieren; und ebenso würde es an dem vorbeigehen, was bei Benjamin möglicherweise gemeint ist, hier intentionalistische sprachzeichentheoretische Aspekte oder solche zu einem als übereinzelsprachlich gefaßten Begriff bzw. auch zu Universalien angesprochen zu sehen. Benjamins sprachspekulative Ausführungen stehen vielmehr im Zusammenhang vor allem der jüdischen Mystik. Mit dieser wurde er früh durch Gershom Scholem vertraut gemacht, sowie auch mit verschiedenen volkstümlichen Geschichten des osteuropäischen Judentums (aus der kabbalistischen Überlieferung); diese haben - vermittelt durch Jakob Grimm - bereits im 19. Jh. in die Literatur Eingang gefunden (vgl. dazu Neumann 1968, 44). Auf die Arbeiten des jüdischen Religionsphilosophen Scholem soll nun auch Celan wiederholt hingewiesen haben (vgl. Meinecke 1973). Axel Gellhaus stellt fest, daß die Beschäftigung Celans mit Scholem "nachweislich in den 50er Jahren" beginnt (Gellhaus 1993, 49). Nicht durch die Lektüre der authentischen alten Texte, sondern auf dem Umweg über die Lektüre von Scholems und Benjamins kabbalistischen Sprachspekulationen sind, wie Menninghaus feststellt, ältere mystische Überlegungen in Celans Werk eingegangen (vgl. Menninghaus 1980). Benjamin hat, worauf Adorno in dem bekannten (in genannter Textfassung bei Reclam wieder abgedrucken) Beitrag feststellt, "an der Kabbala seinen Begriff des heiligen Textes" entwickelt; "der Sprache, als der Kristallisationspunkt des 'Namens'", so Adorno, "schrieb er höheres Recht zu als das des Bedeutungs- und selbst Ausdrucksträgers" (162).

In dem Zusammenhang sei auf ein Interview von Cord Barkhausen mit Moshe Barash hingewiesen, wo auf "das Motiv des Namens" eingegangen wird. Mit diesem Ausdruck (nämlich Name) würden "keine neuen Bildräume, Bilderwelten" eröffnet, "auch durch eine paradoxe Verschränkung der Wörter, die ja meist keine Metaphern mehr sind bei ihm" (Barkhausen 1985, 101). Hingewiesen wird darauf, "daß im jüdischen religiös-kulturellen Erbe die Metapher für Gott 'Name' ist":

"Jeder fromme Jude sagt, anstelle 'Gott' zu sagen 'Hashem' - der 'Name'. Der 'Name' ist Realität, und zwar ist der 'Name' Realität nicht nur in dem Sinne, daß er magisch irgendetwas hervorbringt, sondern er selber ist es, es ist eine irgendwie direkte Bezeichnung, die, wenigstens der Intention nach, gar nichts anderes mehr bedeuten soll." (Barkhausen 1985, 101).

Sicherlich schließt Benjamin an Hamann (den "Magus des Nordens") an, wie sich auch in der Arbeitsweise Celans diesbezügliche Gemeinsamkeiten aufzutun scheinen, ohne daß derartige Aspekte bisher klar genug erhellt sind. Benjamins Sprachauffassungen in eine Linie auch mit W. v. Humboldt zu stellen, wie der Herausgeber Rolf Tiedemann mit Scholems dahingehender Einschätzung konstatiert, scheint kaum plausibel gemacht werden zu können. Was Celan angeht, so ist mehrfach belegt, daß er Benjamins Schriften gekannt hat. Allerdings ist der Bezugnahme auf Benjamin offenbar öfters größeres Gewicht beigemessen worden, als es dem Werk Celans insgesamt zukommt und sich anhand der Analyse von Gedichtestexten tatsächlich ausweisen läßt. Dazu stehen die sprach-klarsichtigen Reflexionen Celans - in seinen Äußerungen zu Sprachfragen ebenso wie in sprachreflexiven Stellungnahmen in Gedichten - nämlich in einem zu offenbaren Mißverhältnis zu jenen kaum interpretierbaren Spekulationen zur Sprache, die der diesbezüglich mit Sicherheit überschätzte Benjamin angestellt hat.

Neben Benjamin und Scholem sei schließlich auf Martin Buber hingewiesen, dessen chassidische Geschichten von Celan in der Bremer Rede erwähnt werden; mit ihm und seinen Geschichten wurde Celan bereits in jungen Jahren konfrontiert.

Zu dem Sprachmythos der Kabbala sei an dieser Stelle lediglich auf die sehr erhellende Arbeit von Andreas B. Kilcher hingewiesen, die im Zusammenhang mit seiner geplanten Dissertation steht (Kilcher 1993).

Kilcher geht im Zusammenhang mit Grundfragen der Interpretation der Kabbala in Literatur- und Sprachtheorie unter anderem auch auf Benjamin, Adorno, Scholem und die poststrukturalistische Position von Derrida ein.

Im wesentlichen wird von Kilcher (sprachlich meist leider recht eigenartig) aufgezeigt, daß die Unterschiede zwischen dem, was ursprünglich mit der Kabbala gemeint gewesen sein mag, und deren Rezeption durch Interpreten verwischt worden sind, sodaß eine "Unterscheidung zwischen Original und Kopie, zwischen Mythos und Mythenrezeption hinfällig" (Kilcher 1993, 239) wird. Die "Rezeption der Kabbala im Raum der ästhetischen Moderne" weise, so Kilcher, "die Struktur der tropologischen Transformationsarbeit am Mythos" (240) auf. Die Gründe dafür liegen in der "Unbestimmtheit und Dunkelheit des Begriffs 'Kabbala' und kabbalistischer Begriffe" (241), die der Autor kurz erläutert. In der poststrukturalistischen Sprach- und Literaturtheorie besteht nach Kircher die Funktion der Kabbala in "der Legitimation einer 'häretischen' Negierung aller traditioneller Legitimität" (242). Die Kabbala erscheint hier als "Figur des Bruchs mit einer (religiösen) Tradition und ihrer Metaphorik, als Trope der Negativität und der Absenz von Inhalt überhaupt"; und als solche "avanciert sie zu einem Paradigma der Dekonstruktion" (242). Mit Blick auf Hamachers Celan-Aufsatz (Hamacher 1988) stellt Kilcher treffend fest, daß Celans Sprache "in mystische Unübersichtlichkeit potenzierter Negativität" betrachtet und die Kabbala mißverstanden werde (242). Deutlich darauf hingewiesen wird von Kilcher, daß man - wie wohl meist mit Blick auf die Kabbala-Bezüge in der Celan-Philologie - von Bezugnahmen aus zweiter Hand reden muß. Denn Kabbala steht dort nicht für ein historisches Phänomen, das nach ersten frühen Entwicklungen und einem Aufschwung im 16. Jh. schließlich "fortgelebt hat in den messianischen Bewegungen im 17. und 18. Jahrhundert und in den chassidischen Bewegungen Osteuropas im 19. Jahrhundert":

"Einzig der Anschein der Historizität wird erweckt durch den Verweis auf Gershom Scholems Schriften zur Kabbala. Dabei werden diese als Inbegriff nicht nur dessen verstanden, was überhaupt zur Kabbala gesagt werden kann, sondern was Kabbala selbst ist." (242-243).

Man "erspart" sich damit natürlich "den Rückgang auf die Texte der Kabbala"; ersichtlich daraus wird aber nur "die literatur- und sozialgeschichtliche Rolle von Scholems Interpretation und Darstellung der Kabbala [...], denn Scholems wissenschaftliche Schriften sind in der Rezeption "zu kabbalistischen Texten mythologisiert" (243) worden. Es handelt sich also dabei um "eine ahistorische und metaphorische Interpretation der Kabbala", um das, was Menninghaus als "zweite Kabbala" bezeichnet und auf Benjamin bezogen hat (vgl. 243). Auf die Rezeption der Kabbala in der Vorromantik und dann in der Romantik eingehend, stellt Klicher fest, daß die Kabbala in der Romantik "sekularisiert" werde und dann als eine "geheime Wissenschaft von der semiotischen Struktur des Kosmos, in welchem alle Dinge zeichenhaft aufeinander bezogen sind", erscheint. Angeführt wird Novalis und vor allem Friedrich Schlegel, wo die Kabbala im Zusammenhang mit einer "säkularen, ästhetischen Adaption der mystischen Sprachtheorie" interpretiert wird, sie also "mit dem identitätsphilosophischen Theorem einer poetischen Sprache, das Unendliche im Endlichen darzustellen" (248), korreliert. Auf dem Wege der Abkehr von Sprachauffassungen, nach denen Sprache als Instrument zur "Repräsentation einer außersprachlichen Wirklichkeit" dient, rückt so die Sprache als "'abge-fallene' Sprache" in die Nähe "des Konzepts einer metaphysischen, 'reinen' oder 'absoluten' Sprache 'vor dem Fall'" (249). Romantik und heutiger Poststrukturalismus - auf die Variante von Derrida geht Kilcher ausführlich ein - zeichnen sich "als ästhetische Gegenkonstellation" durch "Mystifizierung der Sprache, der Schrift, des Namens und der Buchstaben" (Kilcher 1993, 249) aus. - Ende des EXKURSES -

 

Die Arbeit von Menninghaus ist die ausführlich­ste Darstellung zu Paul Celan, in der mit Blick auf verschiedene Aspekte lingui­stisch argumentiert wird. Seine Kritik richtet sich vor allem gegen die Rezeption (strukturalistischer) systemlinguistischer Auffassungen, wie dies z.B. aus Stellungnahmen zu Szondi (1972) hervorgeht:

 

"Dabei ist ganz unverkennbar, daß Szondis Elimina­tion der Geschichte aus der Theorie der sprachli­chen Form-Intention Celans sich von einer wohl zu distanzlosen Faszination an bestimmten 'Konzeptionen der neueren Linguistik' [...] herschreibt. Vor allem an der Verlängerung der Pro­bleme des strukturalistischen Begriffs vom Sprach­system in einen zweideutigen Begriff von Gedicht-'Realität' läßt sich förmlich mit Händen greifen, wie eng der Ausfall historischer Reflexion mit der Verabsolutierung eines linguistischen Po­sitivismus zusammenhängt." (Menninghaus 1980, 15).

 

In einer Anmerkung kritisiert Menninghaus des weiteren, daß Szondis "begrifflicher Rekurs auf Benjamin und be­stimmte 'Konzeptionen der neueren Linguistik' (Jakobson, Derrida, Foucault) in sich noch zu unreflektiert, zu unaus­gegoren, ist und sich in einer Mischung aus kritikloser Faszination und produktiver Experimentalität gegen die Pra­xis des Philologen Szondi verselbstständigt" (Menninghaus 1980, 259, Anm. 20). Insbesondere, so Menninghaus, gehe ein Widerspruch zwischen Anspruch und Durchführung bei Szondi selbst eben daraus hervor, daß er auf "Interpretation" nicht ganz "verzichten" zu können meint, sowie aus den "prototypischen Floskeln der Textauslegung" wie be­zeichnet, meint, will sagen, also aus derartigen, eine "Repräsentation implizierende Wendungen" (Menninghaus 1980, 259, Anm. 20).

Daraus geht ein sprachkritischer, den Wortlaut hinterfragender, Zugriff hervor. Weiter bemängelt Menninghaus an dem "linguistisch-sprachphilosophi-schen Programm" Szondis, daß dort "in der kon­kreten 'Lektüre' immer wieder Sätze [begegnen], die sich in nichts von der verpönten 'Textauslegung' unterscheiden" (Menninghaus 198o, 259, Anm. 20). Betont wird aller­dings ausdrücklich, daß Szondis Celan-Lektüre "in ihrer disziplinierten Selbst-Beschrän-kung um vieles produktiver ist als die linguistisch undiszipli­nierte Leichtfertigkeit fast aller anderen Celan-'Ausleger'" (16).

Zu Auffassungen, die selbst noch beim Versuch der Überwindung der Saussure­schen Zweitei­lung argumentativ im Umkreis von Signifikat/Signifikant-Ar­gumentationen befangen blei­ben, so insbesondere zu den mit Blick auf Derrida gegebenen Hinweisen Szondis, "das Saussuresche Modell des Zeichens" könne nicht beibehalten werden (Szondi 1972, 93), wird von Menninghaus nicht klar genug Stellung genommen. Im Aufmerksamkeitsbereich stehen in Menninghaus (1980) vorwiegend Fragen im Umkreis von Ben­jamins "Intention auf den Namen" und Sprachmagie sowie Sprachmystik. Seine sprachtheoretischen Ausführungen fallen - trotz treffender Kritik an gewissen sprachtheoretischen Positionen - insgesamt nicht überzeugend aus, weil es an einer profilierten und für sämtliche Sprachfragen durchgehalten alternativen Orientierung mangelt. Men-ninghaus versteigt sich gelegentlich sprachschöpferisch in verschiedene Formulierungen, von denen die zu Celans "metapoetischer Linguistik" (179) noch die unauffälligste ist; vgl.:

 

"Schon diese allgemeinste und vergleichende Charakteristik gibt mithin das metaphorische 'atmen' der signification als ein - zumal für die kleinen Formen der Lyrik - besonders geeignetes Mittel (Medium) eines Umfangs mit (in) der Sprache zu erkennen, der sich selbst als kabbalistische Linguistik bzw. linguistische Kabbala, als motiviert-motivierende Permutation und Neu-Kombination der vorgefundenen Einheiten der Sprache versteht." (Menninghaus 1980, 168); vgl. dazu den vorstehenden Exkurs zu Walter Benjamin und zur Kabbalistik.

 

Am weitesten ist Menninghaus dort gekommen, wo es um Probleme der Metapher geht. Er polemisiert gegen die "langue-Semantik" bzw. gegen Auffassungen von einer "vergegenständlichten Lan­gue" und zurecht auch gegen eine "durchweg jenseits einer linguistischen 'Einsicht' [...] verbleibenden Metaphernbetrachtung" (132) in gewissen literaturwissenschaftlichen Arbeiten. Kri­tische Argumente bezieht Menninghaus vor allem aus Arbei­ten Wein­richs zur Metapher (vor allem aus Weinrich 1967); vgl. dazu auch die Ausführungen unter 3.4.5.

Festgehalten werden kann an dieser Stelle, daß in der deutschsprachigen Sekundärliteratur zu Celan kaum andere als die genannten Arbeiten eine Rolle zur Bewältigung von Sprachsachverhalten gespielt haben. In den 70er und 80er Jahren und darüber hinaus hielt man sich an bekannte Autoritäten (vor allem Weinrich, daneben Szondi), deren sprachwissenschaftliche und sprachphilosophische Stellungnahmen - qua griffiger Formulierungen und verschiedener ins Spiel gebrachter Termini - eine Schneise sachbezogener Auseinandersetzung in überwiegend wirre Sprachreflexionen geschlagen haben.

 

Hingewiesen sei auf die von bemerkenswerter sprachlicher Verwahrlosung zeugenden Belege, die Ulrich Michael Konietzny aus älteren Rezensionen zum Werk Celans zusammengetragen und aufgelistet hat (Konietzny 1987).

 

 

(2)     Zur zweiten Phase der Auseinandersetzung mit dem Werk Paul Celans:

 

In die hier so bezeichnete zweite Phase fallen verschiedene Arbeiten, in denen sprachwissenschaftliche Argumentationen durchaus ebenfalls eine Rolle spielen: Im Rahmen kritischer Bezugnahmen auf konkurrierende Ansätze (wie schon in Menninghaus 1980), mit zum Ausdruck gebrachter Distanz zu jeglicher Art linguistischer Einflußnahmen auf das Werk, oder auch als individualistische Ausdeutung gewisser linguistischer Theoreme. Allerdings ist nicht erkennbar, daß in der Celan-Philologie noch einmal in vergleichbar markanter Weise, wie dies für die erste Phase - insbesondere mit Blick auf die Arbeiten Weinrichs - zu konstatieren ist, sprachwissenschaftliche Bezugspunkte des Werks aufgezeigt und dadurch verschiedene Anschlußkommunikationen ausgelöst worden sind.

Für viele kleinere Arbeiten aus dem Zeitraum von 1980 bis vor 1990 ist ein - anhand welcher Beispiele auch immer entwickeltes - Linguistik-Stereotyp rekonstruierbar, in dessen Rahmen linguistisches Handeln in die Nähe von Mathematik und Naturwissenschaften gerückt wird.

 

So stellt Christoph Perels in dem Sammelband "Paul Celan" in seinem Beitrag zu den "Materialstudien" des "Lettrismus und der konkreten Poesie" fest:

"Im Gegensatz zum hier gesuchten Anschluß an die Denkweise der Mathematik, Physik und Linguistik besteht Celans Poetik sowohl wie Poesie auf der historischen Erfahrung nicht nur des schreibenden Ich, sondern eines Ich, 'das aller unserer Daten eingedenk' unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit spricht'." (Perels 1988, 135).

 

Nachfolgend sind in vorliegendem Zusammenhang vor allem einige Monographien zu berücksichtigen, die unter den hier hervorzuhebenden Gesichtspunkten in der Celan-Philologie bisher völlig unbeachtet geblieben sind:

Wie schon Menninghaus übt Ralf Zschachlitz (Zschachlitz 1990) Kritik an Aspekten systemlinguistischer Sprachauffassung und deren Rezeption in der Celan-Philologie. In dem Zusammenhang deutet er auch verschiedene Passagen aus Gedichten Celans als kritische Stellungnahmen zu einem verdinglichten Sprachbegriff; so stellt er zu dem Gedicht

 

DIE ABGEWRACKTEN TABUS,

und die Grenzgängerei zwischen ihnen,

weltennaß, auf

Bedeutungsjagd, auf Bedeutungs-

flucht. (II/168)

 

fest: Die "abgewrackten Tabus" können "eine entzauberte Sprache meinen, eine Sprache der Versachlichung, die ihrer kreativen Qualitäten beraubt auf den repräsentativen Zeichenbegriff beschränkt ist". Anschließend schließt Zschachlitz den Kreis zur "modernen Linguistik" folgendermaßen:

 

"Es ist dies die Sprache, auf die sie durch weite Teile der modernen Linguistik reduziert worden ist." (Zschachlitz 1990, 91).

 

In der Interpretation durch Zschachlitz erhalten gewisse Gedichte Celans den Status einer sprachtheoretischen Ausführung; angeschlossen wird damit - unter Berücksichtigung von Ausführungen aus Menninghaus (1980), die leider nicht immer erkennbar gemacht sind - an die von Weinrich vertretene Position, die diesbezüglich in der Celan-Philologie von Anfang an umstritten war (vgl. Allemann 1970, 270). Wie Zschachlitz u.a. feststellt, werde mit dem "dialektischen Hin und Her von Bedeutungsflucht und Bedeutungsjagd" von der Kunst "ein Sprachbegriff gegen den der Verdinglichung gesetzt" (95).

 

Infrage gestellt werde damit die Vorstellung von "starren, sich auf unveränderte außersprachliche Verhältnisse beziehenden Bedeutungen" (95). Wie Zschachlitz anhand auch anderer Gedichte ableitet, "wendet sich Celan zunächst auf sprachtheoretischer Ebene gegen die zeitgenössische Tendenz, Sprache auf ihre pure Urteilsfunktion zu reduzieren, sie nur noch als Unterscheidungsvermögen zu betrachten und auf ihre Bezeichnungsfunktion zu reduzieren" (94). Denn das "dialektische Verschwimmen von Hell und Dunkel, Ja und Nein richtet sich gegen den reduzierten Sprachbegriff der einfachen Oppositionen [...]" (94). Zschachlitz führt dazu weiter aus:

"Die aus einem unkritischen Wahrheitsbegriff resultierende Betrachtung der Sprache als reines Bezeichnungsvermögen, der Konventionalismus, im 20. Jahrhundert vor allem gestützt durch eine vulgarisierende Interpretation von Saussures Begriffspaar 'Signifiant' und 'signifié', sieht Sprache auf den Aussagesatz, auf das Urteil beschränkt." (Zschachlitz 1990, 94).

 

Von hierher übt Zschachlitz - offenbar mit Blick auf die Ausführungen aus Menninghaus (1980) - heftige Kritik an Deutungen des Werks, in deren Rahmen die Arbitrarität des Zeichens im Sinne "mystisch-magischer Unmittelbarkeit" als überwunden angesehen wird:

 

"Es gibt nach dem vollzogenen sprachlichen Sündenfall, nach der Erkenntnis des Zeichencharakters der Sprache keinen Weg zurück in die mystisch-magische Unmittelbarkeit. Eine Linguistik oder Ästhetik, die dies ernsthaft fordern würde, würde damit einen erreichten Bewußtseinsstand aufgeben, gäbe sich mit solcher Art des Mystizismus und Irrationalismus der Lächerlichkeit preis. Die erfolgte Erkenntnis der Trennung von Signifiant und Signifié kann nicht in neuen, aber überholten magischen Beschwörungsformeln rückgängig gemacht werden, einer auf mystifizierende und transzendente Motive reduzierten Lyrik würde damit nur ihre Aussagelosigkeit bescheinigt werden." (Zschachlitz 1990, 116).

 

Weitere Arbeiten, die in diesen Zeitraum fallen und in vorliegendem Zusammenhang berücksichtigt werden sollen, sind: Luther (1987) und Burger (1989). Auf die Arbeit von Thomas Sparr (Sparr 1989), in der es um einen sprachwissenschaftlichen Ansatz zur Hermetikfrage geht, wird an dieser Stelle nicht eingegangen (vgl. dazu unter 5.2.2.5).

Von verschiedenen Mißverständnissen linguistischer Theoreme zeugen vor allem Luther (1987) und Burger (1989). In Luther (1978) werden insbesondere ungewöhnliche Verbindungen zwischen F. de Saussure und älteren spekulativen philosophischen Positionen hergestellt; in Burger (1989) finden sich eigenwillige Deutungen von Termini, die auf F. de Saussure zurückgehen.

Ob es zutreffend ist, wie Andreas Luther feststellt, daß Celan, "durch sein Studium bedingt" begonnen habe, "sich intensiv mit Ferdinand de Saussures Cours de linguistique général auseinanderzusetzen" (Luther 1987, 59), kann hier nicht überprüft werden; in der Celan-Philologie wird dies durchaus nicht als gesichert betrachtet (vgl. Kohler-Luginbühl 1986, 170 u. 188 dazu). Als äußerst problematisch muß zum heutigen Stand der Celan-Philologie eine Parallelisierung Saussures mit sprachmystischen Spekulationen Benjamins angesehen werden, wie sie Luther vornimmt:

 

"Diese Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft wurden für Celan zu den Grundfragen seiner Lyrik, zumal sie parallelisierbar zu Walter Benjamins Sprachphilosophie sind, als sie in der Dichotomie von synchronischer und diachronischer Sprachebene ebenfalls die Idee der Sprache von der sich jeweils im Geschichtsprozeß entwickelnden Sprache unterscheiden." (Luther 1987, 59).

 

Mißverstanden wird Saussure, wenn Luther feststellt, es sei das "Verdienst" Saussures, die "Differenzierung zwischen Sprache des Menschen und Sprache überhaupt in die Sprachwissenschaft eingeführt zu haben" (116); bei ihm - wie bei Johann Georg Hamann, Mallarmé und Benjamin - wird eine "Präferierung der magischen Seite der Sprache" (110) festgestellt; Luther führt dazu aus:

 

"Dieser Umstand hat seit Hamann - Mallarmé - Saussure - Benjamin in wachsendem Maße zur Sehnsucht nach der Anamnesis der reinen Sprache geführt [...]. Entscheidend an diesem Anliegen ist der Gedanke, daß der Gehalt der Sprache sich nicht in der Semantik einzelner Worte, sondern in ihrer Konstellation offenbart [...]" (110).

Schon Hamann (1730-1788) hat nach Luther die Sprache "als Organon der Offenbarung" (110) betrachtet. Bei Benjamin wie bei Hamann werde "die reine, offenbarende Sprache als eine, die durchs profane Sprachgebaren durchschimmert, erhofft" (114). Weiter stellt Luther fest:

"Die sprachphilosophische Geschichte von Hamann bis Saussure hat auf unterschiedliche Weise den Zugang zur 'reinen Sprache', zur 'Sprache überhaupt' ermöglicht und damit im Eingedenken der jüdischen Tradition dem Gedicht nach Auschwitz den Horizont eröffnet, vor dem es überhaupt erst beginnen kann, durch Sprache 'Wirklichkeit' zu entwerfen." (Luther 1987, 118).

 

Hermann Burger hält es in "Paul Celan. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache" (Burger 1989) im Zusammenhang mit Gedankengängen um das "Verschwiegene" und "Schweigen" für "nicht unangebracht, ein paar linguistische Termini zu Rate zu ziehen, allein schon um dem Philologen Paul Celan gerecht zu werden" (Burger 1989, 92).

 

Zwar "scheint", wie Burger an die Adresse seiner Leser hinzufügt - die auf andere Kost eingestimmt sind -, die Bezugnahme auf F. de Saussure's Unterscheidung von "la langue" und "la parole" wohl "weit hergeholt zu sein"; aber "wenn wir", so Burger, "das Schweigen nicht bloß als Fehlen von Sprache, sondern als nicht aktualisierte Sprache betrachten", sei das ein "fruchtbarer Ausgangspunkt" (Burger 1989, 92).

 

Burger verfährt für seine Improvisationen über Saussure-Theoreme nicht anders als für seine Interpretationen von Gedichten Celans. Das gilt für die Auffassung von der "langue" ebenso wie für seine eigenartigen Differenzierungen zur "Bisemie" von Arten der "Motivierung" (99).

 

So schreibt er, die "langue" nach Saussure "wäre zu definieren als ein System von 'Engrammen', die im Bewußtsein der Sprecher und Hörer gespeichert sind"; und seiner Meinung nach "kann man sagen, daß das Engramm als Symbol für das Bezeichnete und die Bezeichnung potentiell jede mögliche Bedeutungsnuance eines Wortes enthält" (92). Burger vollzieht nachfolgend unter anderem den Schluß, daß in dem Gedicht MIT WECHSELNDEN SCHLÜS-SELN (I/112) "mit dem Wort, 'das treiben darf mit den Flocken' nur das Engramm aus der 'langue'" gemeint sein "kann". Und er führt dazu aus:

"Wie kommt es, linguistisch betrachtet, daß das Schweigen auf einen Meister des Wortes eine solche Faszinationskraft ausüben kann?" (93).

Die Angelegenheit "linguistisch" zu betrachten, heißt hier: der Schweigende verzichtet auf sprachliche "Aktualisierung", doch "er verfügt so gut über die 'langue' wie der Sprechende, nur kombiniert er nicht mit Lautsymbolen, sondern mit Engrammen" (93).

Eine weitere Passage, in der Burger linguistisch wird, ist diejenige zum Problem der Motivierung. Burger macht sich auf, "zwei Arten von Motivierung" zu "unterscheiden: eine innere und eine äußere oder eine primäre und eine sekundäre", und führt anschließend aus:

"Die Legitimation einer Bisemie und die Bildung von Onomatopoetika sind Beweise dafür, daß der Dichter seine Sprache beherrscht, daß er ihre Mängel durchschaut und bewußt auszunutzen versteht. Sie dokumentieren das handwerkliche Können." (99).

 

Damit aber wird Burger kein besserer Sprachwissenschaftler als diejenigen, welchen er am Ende eine Zuständigkeit in Fragen des "erschwiegenen Worts" kategorisch abspricht:

 

"Es ist kein Zufall, daß Celan und mit ihm viele andere Lyriker in Gedichtform vom Prozeß der inneren Motivierung sprechen. Denn letztlich entzieht sich dieses Problem allen linguistischen Annäherungsversuchen. Mit der Frage nach den Gesetzen des Wachstums dichterischer Sprache rühren wir an das Geheimnis der Poesie, das nur die Poesie selber, indem sie es als solches erscheinen läßt, 'darstellen' kann. Die Hilfskonstruktionen mit ein paar Grundbegriffen aus der strukturellen Semantik können uns nicht weiterführen als bis zu dieser Grenze." (Burger 1989, 99).

 

Schließlich sei erwähnt, daß sich eine der neuesten Arbeit zu Celan von den beiden zuletzt angesprochenen Arbeiten gravierend unterscheidet: Petra Leutner bleibt in ihrer Dissertation "Wege durch die Zeichen-Zone. Stéphane Mallarmé und Paul Celan" (Leutner 1994), in Bezugnahmen auf Arbitrarität des Zeichens, Signifikant und Signifikat u.a.m. terminologisch an weitgehend abgesicherten Ergebnissen orientiert.

 

Neben den genannten Aspekten wird beispielsweise die Isotopieanalyse nach Rastier, welche an die "Textlinguistik von Greimas" anschließt, an einem Beispiel ausführlich referiert (vgl. 93-95). Im Zusammenhang damit werden "linguistische Tatsachen" wie "Allgemeinheit der Wortbedeutungen und die Homonymie" (95) angesprochen; anschließend geht Leutner auf die "essentielle Mehrdeutigkeit" nach Aristoteles und auf das Homonymie- und Polysemie-Problem ein; auch dabei kommen kaum problematische Argumentationshinsichten ins Spiel. Die erfaßten Theoreme werden gleichsam als Gemeingut jenseits einer Separierung nach Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft begriffen. Wo über den gängigen Argumentationsstand (F. de Saussure; Isotopie nach Greimas) hinausgegangen wird, läßt sich Leutner auf keinerlei Aspekte ein, die unüberschaubare Zusatzprobleme aufwerfen könnten.

 

EXKURS: Diesen Abschnitt beschließend sei ein Blick auf eine Arbeit geworfen, die nicht zur Celan-Philologie zählt, aber dem engeren Umkreis zuzurechnen ist, nämlich Steiner (1990).

 

Die Arbeit von Georg Steiner mit dem Titel "Von realer Gegenwart" (Steiner 1990) steht der Celan-Philologie insofern nahe, als die Wertschätzung Celans durchweg im Sinne eines "systematischen Zwischen-den Zeilen-Lesens" nach Polenz (1985) verspürt werden kann; gleichwohl wird nicht von Celan gehandelt - explizite Bezugnahmen auf Celan finden sich nur in den Schlußpassagen (Steiner 1990, 237ff.) -, sondern von der literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung und von den geistesgeschichtlichen Grundlagen moderner Literatur:

Steiner setzt sich in einem Abschnitt mit experimentellen Untersuchungen zur Wirkung eines Gedichts und mit der Rolle von Quantifizierungen in den Sozialwissenschaften auseinander. Er stellt dazu fest:

"Es dürfte als gesichert erscheinen, daß sich die Kriterien und Praktiken von Quantifizierung, von symbolischer Darstellung und Formalisierung, die der Lebensnerv des Theoretischen sind, für die Interpretation und Einschätzung von Literatur und Kunst nicht eignen, nicht eignen können." (Steiner 1990, 109).

Der nachfolgende Abschnitt dürfte vieles von dem treffen, was auch sonst in der Literaturwissenschaft - für die Celan-Philologie gilt das ganz und gar - zur opinio communis gehört, wenn es um die Einschätzung der Rolle sprachwissenschaftlichen Handelns geht. Für Steiner stellen nämlich eine "weitaus größere Herausforderung für das antitheoretische Argument" die "Ansprüche relativ jüngeren Datums dar, die von Semiotikern hinsichtlich der Ästhetik als ganzer und von Linguisten hinsichtlich der Textualität aller Literatur aufgestellt werden" (111).

Diese Ansprüche führt Steiner "vereinfacht" zurück auf Sprachauffassungen von F. de Saussure und der Moskauer wie der Prager Schule: Sprache als System aufeinander bezogener Zeichen, Sprache als "Gesetzen" unterliegendes "freies Spiel formaler Unterschiede" mit "Re-gelbeschränkungen", zugänglich formalen wie statistischen Untersuchungen (vgl. 112). Als "fraglos" erscheint es Steiner, daß es "exakte Aspekte der systematischen linguistischen Untersuchung von gesprochener und geschriebener Sprache" gibt. Und Steiner hält es auch für "legitim", den Sprech-oder Schreibakt "als Encodierung" anzusehen.

Unter Bezugnahme auf Varianten der Linguistik, in deren Rahmen die Erschließung von "Textualität" mit Hilfe von "mathematischen oder meta-mathematischen (logisch-formalen) Ansätzen" erstrebt wird, hebt Steiner hervor:

"Solche Ansätze versagen dort auf absolut entscheidende Weise, wo sie Bedeutung zu formalisieren suchen, wo sie über die phonetische, lexikalische und grammatische Ebene hinausgehen und sich an die der Semantik und der Ästhetik vorwagen. Es ist dieser Schritt, den kein analytisch-linguistisches Verfahren, wie stolz systematisch es auch immer daherkommt, wie abstrus auch immer seine Bestrebungen sein mögen, je überzeugend hat machen können." (113).

Der Sache nach ist die von Steiner diesbezüglich zum Ausdruck gebrachte Skepsis sicher nicht minder treffend als andere Ausführungen, in denen er einen Bogen schlägt von den scholastischen Grammatiktheorien bis hin zu den "ultramaterialistischen Thesen, die während der anfänglichen Erfolge von Leninismus und kognitiver Psychologie Mode waren, denen zufolge Bedeutung sich dereinst als neuro-physiologisches, ja als chemisches Quantum erweisen würde" (113).

Steiner beugt schließlich möglichen Mißverständnissen vor, indem er die Frage stellt, ob das alles heiße, "daß 'die Linguistik zum Verständnis von Literatur nichts beizutragen hat', wie Leavis befand?" - Er beantwortet die Frage mit einem "Keineswegs" und fügt hinzu, daß ein "kundiger Blick" für das sprachliche "Instrumentarium eines Textes" die Qualität von Interpretationen "diszipliniert und bereichert". Verwiesen wird von Steiner vor allem darauf, daß man im Sinne von Roman Jakobson "die Poesie der Grammatik kennen und erkennen" müsse. Gleichsam zusammenfassend erläutert Steiner, was seine Skepsis begründet:

"Kein Leser kann je zuviel über Knochengerüst und Nervensystem der Sprache wissen. Doch sind diese Mittel des Zugangs ein lebenswichtiger Teil der Philologie und waren es von jeher. Es ist ihr aus jüngerer Zeit stammender Anspruch auf wissenschaftlich-theoretischen Status, der zur Skepsis Anlaß gibt. Auf philologischem Gebiet, einem Wahrnehmungsansatz, den ich als essentiell definieren möchte, erfreut sich die Linguistik als Werkzeug einer gesicherten Stellung." (Steiner 1990, 116).

Wie an anderer Stelle noch deutlicher wird, geht es Steiner um eine Art "philologischer Rezeption", welche Ergebnisse der Linguistik einschließt. Den ersten "Schritt in der Philologie" bildet die "lexikalische cortesia"; sie ist nach Steiner "das, was uns in den großen Wörterbüchern verweilen läßt, sowohl denen des allgemeinen Sprachgebrauchs wie denen spezieller Gebiete" (208). Auf der zweiten Stufe "verlangt" diese Rezeption "genaues Feingefühl für die Syntax, für die Grammatik, die den Lebensnerv artikulierter Gebilde ausmacht" (209). Steiner beklagt in diesem Zusammenhang, daß viele "einen normalen Satz nicht mehr grammatisch zerlegen, geschweige denn die Funktion von Redeteilen zerlegen" können, "was einst zum Standardlehrstoff der Schule zählte" (209).

Es ist dies also indirekt doch wieder ein Plädoyer für (unter dem Titel "Philologie" geführte) linguistische Analysen und gegen wildes Herumphantasieren am literarischen Text - ein Plädoyer jedenfalls für linguistische Analysen im Sinne von Roman Jakobson. Denn wenn es um Dichtung geht, um "Sprache in ihrer ausdrucksvollsten Gestalt", ist Steiner "ein natürliches Willkommen gegenüber der Grammatik höchst fruchtbar und eine Unfähigkeit zu einem solchen Willkommen höchst verheerend":

"Roman Jakobsons Diktum behält seine Geltung: die Poesie der Grammatik ist die Grammatik der Poesie" (Steiner 1990, 213).

 

 

2.3.3.   Zum Status literaturwissenschaftlicher Ansätze;
aus literaturwissenschaftlicher Perspektive

 

In der Celan-Philologie werden gravierende Probleme sprachlicher Zugangsfindung zu dichterischen Texten nicht minder ausführlich diskutiert als auch sonst in der Literaturwissenschaft. Dabei gerät vor allem die Kommentarsprache jeweiliger Interpretationsangebote kritisch in den Blick. Aufgeworfen werden generelle Fragen nach dem Grad der Wissenschaftlichkeit interpretativer Diskurse ebenso wie stationäre Fragen, welche auf Details ihrer sprachlichen Verfaßtheit ausgerichtet sind.

In vorliegendem Zusammenhang kann es nicht darum gehen, mit Klärungsversuchen in brisante und von literaturwissenschaftlicher Seite schulen- und individuenspezifisch unterschiedlich perspektivierte Diskussionen einzugreifen. Unter einem ersten Aspekt (1) werden einige Gesichtspunkte übergreifenden Charakters angesprochen, die der Sache nach auch in der Celan-Philologie wiederholt thematisiert worden sind. Unter einem zweitem Aspekt (2) kommen einige repräsentative Stellungnahmen aus der Celan-Philologie zu Wort, welche gleichfalls vor allem Fragen im Umkreis der Interpretationsproblematik berühren.

 

 

(1)     Zu übergreifenden Gesichtspunkten geisteswissenschaftlicher
Sprachlichkeit:

 

Die hier anzusprechende Problematik wird in beiderlei Hinsicht - Wissenschaftlichkeit sowie damit im Zusammenhang stehende Gegebenheiten sprachlicher Verfaßtheit - auch mit Blick auf bevorzugte Einordnungsversuche bereits deutlich bei einer Sichtung von Titelgebungen literaturwissenschaftlicher Arbeiten.

 

Das nachfolgende Arrangement bietet in komprimierter Form fast alles, was Rezipienten erwartet, die mit Hilfe der Sekundärliteratur eine Orientierung zum Werk Paul Celans suchen (zitierte, in Anführungszeichen gesetzte, Passagen sind nicht ausgewiesen, können aber über das Literaturverzeichnis erschlossen werden):

In Erfahrung gebracht wird von entsprechenden Rezipienten, daß es sich um eine "hermetische Lyrik" handelt, aufgefaßt als "Sprache in Person", um das "lyrische Sprechen" eines "Dichters des Ungewissen", dessen "pneumatisches Judentum" ihn im Rahmen einer "Poetik des Dialogs" auf die "Suche" nach einer "verlorenen Sprache" führt, einer "Sprache des Leidens", angesiedelt irgendwo "an der Grenze zum Verstummen", "durchgründet vom Nichts"; es handelt sich um einen "Versuch" bzw. eine "Sinnsuche am Rande der Wirklichkeit", welche "das Andere" propagiert, ausgehend von der "Unlesbarkeit der Welt", einer Art "Totengedächtnis" aus dem Bereich der "Holocaust-Lyrik", dabei aber auch um eine "Poesie des inneren Exils" mit "Verweigerung der Poetisierung der Welt", gleichwohl wirksamer "Ummittelbarkeit im Gegenwort", um "kritische" Poetik "im Lichte der Utopie" mit "Magie der Form", "absoluten Metaphern" sowie "metaphysischen Spekulationen" und "mystischen Motiven" - um eine Sprache, welche sich irgendwo am "Rande des Schweigens" behauptet.

 

Bereits von hierher läßt sich - ohne Beachtung jeweils durchgeführter Einzelinterpretationen - die manchmal grundsätzlich gestellte Frage aufwerfen, wie es um die "notorische Unterbestimmtheit geisteswissenschaftlicher Grundbegriffe" bzw. "geisteswissenschaftlicher Fachsprachlichkeit" (Knobloch 1989, 113) bestellt ist. Einbegriffen ist in diese Frage, zu der es bisher keine ausführlichen Untersuchungen gibt (vgl. dazu auch die Bemerkungen aus Gardt 1998, 1357), die "Mehrzahl der Humanwissenschaften", deren Terminologie "unvollkom-men, vorläufig und sporadisch ist" (Knobloch 1987, 56). Als "Instrument alltagssprachlicher Typisierung" vertragen viele Ausdrücke, wie Knobloch mit Blick auf den linguistischen Grundbegriff Text hervorhebt, allerdings durchaus "sehr viel semantische Unklarheit und ungeordnete Aspekt- und Merkmalsvielfalt" (Knobloch 1989, 116):

 

"Denn die praktische Einbindung der Alltagssprache in den gesellschaftlichen Verkehr macht deren Vagheiten beherrschbar und weitgehend unschädlich. Die Unschärfe solcher Ausdrücke hingegen bleibt im fach- und bildungssprachlichen Diskurs unkontrolliert. Sie vernebeln die Köpfe und spielen Erkenntnis, wo nicht einmal Orientierung vorhanden ist." (Knobloch 1987, 63).

 

Mit Blick auf gewisse literaturwissenschaftliche Darstellungen war schon die frühe Kritik Roman Jakobsons - mit "causerie"-Vorwurf und Hinweisen auf den Mangel an "exakter" Terminologie - vernichtend:

 

"Literaturgeschichte war 'keine Wissenschaft, sondern causerie'. Sie folgte allen Gesetzen der causerie. Gewandt sprang sie von Thema zu Thema, von lyrischen Wortergüssen über die Schönheit der Form zu Anekdoten aus dem Leben des Künstlers, von psychologischen Binsenwahrheiten zur Frage nach dem philosophischen Gehalt und dem sozialen Milieu. [...] Die causerie kennt keine exakte Terminologie." (Jakobson 1921/1969, 75).

 

Unter ganz ähnlichen Gesichtspunkten ist in literaturwissenschaftlichen Arbeiten immer wieder zu Problemen der Wissenschaftlichkeit literaturwissenschaftlicher Diskurse kritisch Stellung genommen worden, wie sie insbesondere im Rahmen von Interpretationen offenbar wird. So hat z.B. Arntzen den Aspekt hervorgekehrt, wonach der "Anspruch auf eine eigene Reflexion" nur erhoben werden könne, "wenn die Literaturwissenschaft ihre geläufigen Reflexionsweisen und Darstellungsverfahren überdächte":

 

"Solange sie vernarrt bleibt in Jargons, die ihre Wissenschaftlichkeit ausweisen sollen, kann sie das sicher nicht. Vielmehr hätte sie selbst einen Diskurs auszubilden, der von der Umgangssprache, in der, wenn auch borniert, die Universalität der Sprache sich zeigt, sich wieder hochmütig entfernte, noch die Widerstände und Schwierigkeiten, die in der Literatur zur Sprache kommen, in populärem Geplauder kaschierte. Sie hätte einen Diskurs auszubilden, der sich nicht scheuen dürfte, das heutige wissenschaftliche Sprechen explizit und durch die Weise seines eigenen Sprechens in Frage zu stellen. Denn nirgendwo sonst als in einer Wissenschaft von der Literatur als Sprache könnten die Aporien einer institutionalistischen Wissenschaftssprache kenntlich gemacht werden." (Arntzen 1983, 51).

 

Auf Fragen der möglichen Einlösung eines solchen - weitgespannten - Anspruchs kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Die Andeutungen aus Arntzen (1983) zur Notwendigkeit einer gegenseitigen Perspektivierung von Sprache in manchmal so bezeichneten "hard sciences" und geisteswissenschaftlicher (speziell: literaturwissenschaftlicher) Fachsprachlichkeit verweisen allerdings in eine Richtung, die weiterzuverfolgen für durchaus sinnvoll erachtet werden muß:

 

"Umgekehrt hätte sich vielmehr Wissenschaft, sofern sie auch nur vermöge ihrer Teilhabe an Sprache, also nur als Sprache vorhanden ist, vor Literatur zu rechtfertigen, insofern diese die Universalität von Sprache uneingeschränkt erscheinen läßt." (Arntzen 1983, 52).

 

Dietrich Naumann merkt in dem Beitrag "Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen der Texterschließung" - aus dem bereits unter 2.2.1. erwähnten einschlägigen literaturwissenschaftlichen Grundkurs neueren Datums - an, daß der "Ist-Zustand" des "Gebiets" (der "sich durch neue Produktionen oder neue Genres - deren Formuierung selbst ein begriffliches Problem ist - ständig ändert") es bedingt, daß sich die "literaturwissenschaftliche Terminologie in einem durch Etablierung und Trägheit verzögerten ständigen Anpassungsprozeß" (Naumann 1995, 471) befindet. Die Literaturwissenschaft "und als ihr zentraler Bestandteil die Interpretation", so Naumann, "spricht - möglichst buchstäblich und genau - über Literatur" (466); ihre "Begriffe" sind "Elemente eines metasprachlichen Systems" (471); vgl. auch:

 

"Jedes interpretatorische Modell ist eine Idealisierung [...], deren Genauigkeit abhängig ist von der Vollständigkeit der Erfassung der spezifischen Eigenschaften des Textes und der Differenziertheit des zu dieser Erfassung zur Verfügung stehenden Vokabulars." (Naumann 1995, 469).

 

Damit werden Bedingungen "geisteswissenschaftlicher Fachsprachlichkeit" (Ausdruck nach Knobloch 1989, 113) genannt, an denen Interpreten sicherlich aus individuenspezifischer Perspektive orientiert sind; aus Beobachterperspektive verbleibt allerdings die Aufgabe, die im Rahmen von Interpretationen präsentierten Formulierungsresultate an entsprechenden Zielvorgaben zu messen. Dies ist Gegenstand sämtlicher kritischer Stellungnahmen zur sprachlichen Ver-faßtheit von Interpretationen, wie sie innerhalb und außerhalb der Celan-Philo-logie permanent vorgetragen werden. Zu diesem Komplex sei auch auf die Aus-führungen unter 6.2. verwiesen.

Aus konstruktivistischer Perspektive wird "Wissenschaft" und "wissen-schaftliche Erkenntnis" als "radikal kognitionsdependent zu denkende konstruktive Tätigkeit" (de Berg/Hoogeveen 1995, 189) erfaßt, wobei in Einzelheiten die Schwerpunkte in den verschiedenen theoretischen Varianten ("System-theorie", "Radikaler Konstruktivismus", Konstruktivismus im Sinne einer "em-pirischen Literaturwissenschaft") gänzlich unterschiedlich gesetzt werden; vgl. dazu die Beiträge aus de Berg/Prangel (Hrsg.) 1995 und die Darstellung unter 4.2.2.1. der vorliegenden Arbeit.

 

Aus systemtheoretischer Sicht ist "wissenschaftliche Erkenntnis [...] nicht etwa bloß subjektiv eingefärbt, sondern voll und ganz subjektabhängig". Festgestellt wird dazu des weiteren: "Insofern läßt sich der Konstruktivismus als eine Art radikalisierte Hermeneutik verstehen." (de Berg/Hoogeveen 1995, 189); vgl. auch:

"Aus systemtheoretischer Sicht bestimmen sich kommunikative Erfolgs-Chancen nicht so sehr über die Einhaltung bestimmter Codes oder den Gebrauch vermeintlich eindeutiger Formulierungen [...] als vielmehr über die Schärfe der angewandten Differenz. [...] Damit rückt auch das Verstehen von Texten aus dem Bereich der hard sciences in ein anderes Licht. Auch naturwissenschaftliche Begriffe wie Empirie, Hypothesenbildung und Falsifikation haben immer eine kommunikativ-temporal begrenzte Bedeutung. Kommt doch naturwissenschaftliche Kommunikation genauso wie Kommunikation allgemein nicht ohne Sinndifferenzen aus. [...]. Damit fällt zugleich die Trennung zwischen Normalsprache und parasitärem Sprachgebrauch." (de Berg/Hoogeveen 1995, 195).

 

Im Theorierahmen von Siegfried J. Schmidt geraten nicht nur Texte über Literatur - und in dem Zusammenhang zu bemängelnde Formulierungs-Defizite - in den Blick, sondern sind "Text-Aktant-Kontext-Syndrome zum (empirisch zu bearbeitenden) Untersuchungsbereich zu wählen" (Schmidt 1995, 230). Der Ansatz von Schmidt hebt sich damit von vielen anderen Positionen ab, darunter auch von der Position Luhmanns (vgl. z.B. Luhmann 1990) und seiner Schüler:

 

"Die Attraktivität der Luhmannschen Entscheidung, nur Kommunikationen als Komponenten literarischer Systeme zuzulassen, liegt gerade für Literaturwissenschaftler vermutlich darin, daß sie sich aufgrund dieser Entscheidung weiterhin auf Texte und auf nichts als auf Texte [...] sowie auf Interpretation als literaturwissenschaftliche Hauptaufgaben konzentrieren können. [...]" (Schmidt 1995, 230).


Im Rahmen der Konzeption von Schmidt, auf die in nachfolgenden Kapiteln mehrfach Bezug genommen wird, wären Differenzen zwischen "Experten- und Laienkommunikation bis hin zur Ausdifferenzierung dieser beiden Kommunikationstypen nach verschiedenen Gesichtspunkten - wie zum Beispiel nach dem Grad der Institutionalisierung und Professionalisierung; nach dem Öffentlichkeitsgrad literarischer Kommunikationsprozesse [...]" - zu erfassen. Es wären auch Fragen zu erörtern, "wie die Abnahme von Kommunikationsofferten geregelt ist, welche Arten von Anschlußkommunikationen und Anschlußhandlungen im Rahmen von Vorverständnissen erwartet werden und wie hoch die Akzeptanz solcher Kommunikationen ist"; damit würde sich auch die Frage nach "Macht- und Einflußverhältnissen im Rahmen sozialstruktureller Ordnungen" stellen (Schmidt 1995, 233).

Damit werden Aspekte literaturwissenschaftlichen Handelns auf eine wesentlich breitere und (empirisch) zu erforschende Basis gestellt, als dies im Rahmen zahlreicher kritischer (z.B. Artzen 1983) und weniger kritischer (Naumann 1995) Bezugnahmen auf literaturwissenschaftliche Diskurse für nötig befunden wird. Auch in vorliegendem Abschnitt können nur wenige der in Schmidt (1995) angesprochenen Gesichtspunkte berücksichtigt werden; manche der weiterreichenden Fragestellungen werden erst in nachfolgenden Kapiteln behandelt.

 

 

(2)     Zu problematischen Aspekten sprachlicher Bezugnahmen
auf das Werk Celans:

 

Die in der Celan-Philologie hervortretenden Kontroversen zum Status literaturwissenschaftlicher Zugriffe werden hier nur ausschnittweise erfaßt. Jede kleinere und größere Neuerscheinung zum Werk Celans ist geprägt durch den jeweils bevorzugten literaturwissenschaftlichen Ansatz, sodaß sich das insgesamt präsentierende Netz von Rede und Widerrede, von mehr oder weniger gerechtfertigten Stellungnahmen zu konkurrierenden Auffassungen und Methoden, kaum noch überschauen läßt. Reiner Marx stellt durchaus nicht unzutreffend fest:

 

"Jeder, der sich mit Celans Lyrik befaßt, weiß, daß mehr als Fußnoten nicht möglich sind. Jede Interpretation eines Celan-Gedichts zieht unweigerlich weitere Interpretationen nach sich, eine neue Erkenntnis setzt sofort weitere damit vernetzte Erkenntnismöglichkeiten frei. Nirgends hat der narzißtische Universalitäts- oder Totalitätsanspruch des Interpreten weniger eine Chance auf Realisierung." (Marx 1993, 54).

 

Trotz "der verständlichen Decodierungswünsche des Philologen" solle man die "im voraus die Vergeblichkeit solcher Bemächtigungsphantasien" (54) zur Kenntnis nehmen und anerkennen, daß lediglich "Lesarten, Annäherungen, Decodierungspartikel" erreichbar sind, "von denen aus andere Deutungsvarianten abzweigen können" (54/55). Zum Ausgangspunkt genommen werden kann an dieser Stelle für die nachfolgende Perspektivierung kritischer Stellungnahmen (insbesondere) zur Interpretationsproblematik, was Reiner Marx zur bisherigen Celan-Forschung feststellt:

 

"In der Geschichte der Celan-Forschung zeigt sich deutlich die Tendenz, phasenweise bestimmte Paradigmata zu exponieren, die als dominante Richtung die wissenschaftliche Beschäftigung mit Celan bestimmten. Immer wenn man jedoch glaubte, den Schlüssel zum 'Arkanum' gefunden zu haben, wurde die eben vorherrschende Exegese von einer neuen abgelöst, die mit ähnlichen Ansprüchen auftrat. [...] So haben die Einordnungsversuche Celans in die literarische Tradition von der Romantik bis zur Moderne, die Bestimmungen als existentialistischer oder jüdischer Autor, die Zuweisungen zu philosophischen Schulen (Heidegger, Adorno u.a.), die biographischen Erklärungen mit Schwerpunkt auf Celans bukowiner Herkunft und die politischen Interpretationen, die den Dichter als engagierten Autor begreifen, inzwischen ihren vorübergehend behaupteten Alleinvertretungsanspruch verloren, bleiben aber ein unverzichtbarer Wissenszusammenhang für jede aktuelle Beschäftigung mit Celan." (Marx 1993, 56/57).

 

In diesem Sinne kann es nicht darum gehen, kritische Reflexionen zu jeweiligen "Alleinvertretungsansprüchen" anzuschließen. Die gegebene Vielseitigkeit von Deutungshinsichten (Chassidismus, Kabbala, existentialistische Philosophie etc.) ist mit Marx (1993) durchaus nicht als Negativum der Celan-Philologie zu begreifen, zumal die bislang hervorgehobenen Aspekte durchaus nicht aus der Luft gegriffen sind, sondern sich anhand von Daten - in Orientierung an jeweiligen Textstellen - entwickeln lassen.

Als ganz bedenkliches Negativum muß allerdings angesehen werden, worauf Georg-Michael Schulz kürzlich anhand mehrerer Beispiele hingewiesen hat, nämlich auf das nicht kenntlich gemachte Paraphrasieren von Passagen aus Vorgänger-Arbeiten. Angesichts einer Flut von Veröffentlichungen hängt es "immer mehr vom Zufall" ab, wie Schulz schreibt, "ob ein interessierter Leser mehrere der thematisch gleich oder ähnlich gerichteten Publikationen kennt und so in der Lage ist, den Fortgang oder auch Stillstand der Forschung zu beurteilen." (Schulz 1995, 234).

Abtrennbar von Aspekten dieses Typs ist die durchgängig in der Celan-Philologie geführte Debatte um Besonderheiten sprachreflexiver Bezugnahmen auf das Werk. Daß die im Rahmen ganz unterschiedlicher Deutungsver­suche zu einzelnen Gedichten (und zu anderen Texten des Autors) durchgeführten Untersuchungen sprachlich gesehen problematisch sind, läßt sich mit Blick auf außerordentlich viele Interpretationsversuche belegen. Dies hebt sich vor allem dort hervor, wo man sich - im Jargon der Eigentlichkeit, oder auch dem der chas­sidischen Mystik und Kabbalistik befangen - nun selbst sprachlich in dichterische Höhen hineinstei­gert und das, was man sich erdichtet hat, in Gedichttexten am Ende als vertreten ansieht. Von hierher läßt sich auch anhand der Celan-Philologie bestätigen, was Jakobson als "causerie" bezeichnet hat (Jakob-son 1921/1969, 75), oder was Gabriel an Varianten literaturwissenschaftlicher Kommentarsprache kritisiert, nämlich daß sich manche Interpreten "in einer falsch verstan­denen Sympathie sprachlich ihrem Autor annä­hern" (160), wobei es sich oftmals um "assoziative Stimmungs­musik" (Gabriel 1991, 124) handele.

Der Spott über derartige Formulierungsresultate ist leicht zu haben. Was man aber nicht vergessen sollte, ist, daß es extreme Erfahrungs-Bereiche gibt, die sich schwer sprachlich fassen lassen und zu deren sprachlicher Bewältigung ein vieljähriges Training im Schreiben vonnöten ist, welches zumindest vor den gröbsten Fehlschlägen bewahrt; schließlich besteht bei sprachlicher Bezugnahme auf entlegene Erfahrungsbereiche immer die Gefahr, daß Tiefsinniges schnell in Komik umschlägt. Nach einem schönen Vergleich, der sich in der Arbeit von Steiner findet, ergeht es verschiedenen Interpreten wie "Tiefsee-tauchern", die ab einer bestimmten Tiefe die Illusion haben, "natürliches Atmen sei wieder möglich" (Steiner 1990, 65); man vgl. beispielsweise:

 

"Wenn das Ich sich am tiefsten erkennt, stößt es auf das göttliche 'Du', dringt in sein 'Er', vermag selbst bis ins 'Nichts' zu gelangen - diese kabba­listische Lehre hat wohl auf vielfachen Wegen Celan erreicht" (Baumann 1970, 281).

 

Wie hier treten auch in neueren Arbeiten zu Aspekten der Dialogizität (Ich-Du-Beziehung im Gedicht) bemerkenswerte Formulierungsresultate hervor, die kryptischer sind als alles, was gemeinhin für das Werk Celans in Anspruch genommen wird; vgl. z.B.:

 

"Ich (als Du) heißt, daß das Gedicht zum Ort der Selbstansprache wird. Das Ich ist 'da' als Du und nicht als Ich; ein Ich wäre das Ich nur für ein Du, da es aber als Du 'da' ist, ist es allein, ohne Gegenüber, ohne ein Du. Das Du, das Du für ein Ich (durch ein Ich) ist, ist das Du eines im Gedicht abwesenden Ich. Es ist das Du dieses Ich, und zwar so, daß das Ich pronominal nicht 'da' ist; eigentlich nicht 'da' seiend ist aber dieses Du selbst, dem das Ich bloß seine Stimme 'leiht', es sprechen läßt [...]" (Jakob 1993, 287).

 

Und Sieghild Bogumil resümiert Celans Werk so:

 

"Die ungeahnte Tiefe, in die ihn der Weg der Sprachgeschichte führt, ist der unbekannte Innenraum des Menschen - des Menschen überhaupt, und nicht jener Celans allein." (Bogumil 1993, 135).

In Bogumil (1994) heißt es, daß "das Gedicht sich in die Tiefe des Welt-Innenraums [...] des Dichters verzweigt, wodurch sich zugleich ein Regreß in die Tiefe der Zeit vollzieht, während sich die Bilder dennoch zu einem einzigen, ganzen, neuen Bild von Mensch, Welt und Schrift verbinden". Die "vielen Namen, auf die der Leser im Gedicht trifft", sind nach Bogumil "verschiedene Ansichten desselben Menschen, die ihn aber zu einem jeweilig Anderen werden lassen". Welchen Typs die hier hervortretende esoterische Weltauffassung ist, läßt sich weder daraus erschließen noch aus der Feststellung Bogumils, der Leser werde "letztlich sogar zur eigenen Schwester" (Bogumil 1994, 33).

 

Man könnte das ganze Buch von Harald Burger anführen, um Merkwürdigkeiten einer frei phantasierenden Interpretationskunst zu illustrieren; ein kleiner Ausschnitt seiner Stellungnahme zu dem "Gespräch im Gebirg" mag genügen:

 

"Das Leben des Künstlers ist eine wechselnde Folge von Toden und Neugeburten. Alte Empfindungen vermodern, Denkschablonen werden verworfen, einmal gefundene Formen zerbrechen. Für keinen, der diese Krise durchmacht, ist sie ungefährlich, niemals wird sie zum Routineakt. Die Möglichkeit des totalen Zusammenbruchs ist nie ganz ausgeschlossen. Der sterbende Dichter ist nackter als nackt, keine erbrachte Leistung gibt ihm Sicherheit." (Burger 1989, 65).

 

Am schärfsten argumentieren diejenigen Theoretiker, welche Spezialkenntnisse - insbesondere gewisse linguistische Kenntnisse - gegen einen anders ausgerichteten literaturwissenschaftlichen Bezugsrah­men ausspielen. Hingewiesen sei auf die mehrfach erwähnte Arbeit von Menninghaus, wo in äußerst scharfem Ton auf gewisse Metaphernauf­fassungen Bezug genommen wird und dazu vor allem der Vor­wurf der "linguistischen Unkenntnis" wiederholt vorgetragen wird (vgl. Menninghaus 1980, 151, 155, 159). Sehr ausführlich fällt in Menninghaus (1980) die Kri­tik an anderen literaturwissenschaftlichen Arbeiten aus: Dort wird z.B. zu der Arbeit von Diet­lind Meinecke mit dem Titel "Wort und Name bei Paul Celan" (Meinecke 1970) folgendermaßen kritisch Stellung genommen:

 

"Die Gedichtsanalysen beschränken sich auf ein oberfläch­lich paraphrasierendes und gegen sich selbst völlig unkri­tisches 'essentielles' Gerede, das um so ärgerlicher wird, je mehr Gedichte Meinecke auf ihrem Durchmarsch antippt. Auch die sprachphilosophischen Interpretationskategorien versinken dabei [...] in einen ganz und gar unprä­zisen Ur­sprungs-, existenz- und heilsontologischen Sprachbrei." (Menninghaus 1980, 261, Anm. 12).

 

Und in der Arbeit von Marlies Janz (Janz 1976) sieht Menninghaus ein "Schulbeispiel für die von Szondi verpönte assoziative Inhalts-Auslegung, des­sen Grund vor allem in Janz' Versuchen liegt, mög­lichst alle Gedichte eines Gedichtsbandes auf eine griffige Formel und überdies auch noch auf eine In­halts-(Thema-)Formel zu bringen" (Menninghaus 1980, 274, Anm. 34).

Janz hat sich ihrerseits in ihrer Arbeit gegen den Ver­such gewisser Inter­preten gewandt, "die einen ästhetischen Text Celans wegen entstehungsgeschichtlicher Reminiszenzen gleichsam als persönliches Eigentum reklamieren" (Janz 1976, 13), womit der "Traum der Literaturwis­senschaft von ihrer unmittelbaren Relevanz für die Kunst in Erfüllung zu gehen scheint" (14). Sie kritisiert u.a. "eine ontologisierende Auslegung", auch eine solche "mit ungewollten Kari­katuren von Heideggers Sprache", womit "Celans Re­zeptionsgeschichte reich bestückt" sei:

 

“Weder die existentialistische Feier des 'Nichts' noch der Vorwurf eines wirklichkeitsflüchtigen For­malismus trifft den Gehalt der Gedichte." (Janz 1976, 63).

 

Auch Thomas Sparr macht eine "babylonische Sprachverwirrung" aus, was die theoretische Fassung von Bedeutung, Sinn, Refe­renz u.a.m. angeht (vgl. Sparr 1989, 59), ohne daß dort allerdings entsprechende Sprachprobleme in einer Weise gelöst werden - ebenso wenig übrigens wie von Menninghaus -, die relativ zu einer ande­ren sprachwissenschaftlichen Orientierung (vgl. dazu 5.2.2.5.) als zu­friedenstellend betrachtet werden kann.

Werden Mängel des interpretatorischen Zugriffs und dessen Stringenz beklagt, so geraten meist alte Kontroversen um die Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer und an diese - bzw. auch an Martin Heidegger - sich orientierende Ansätze in den Blick. Esther Cameron stellt zu zwei Arbeiten, von denen die eine Buhr (1976) ist, fest:

 

"Zweitens fällt es an den beiden Arbeiten, besonders an der von Buhr, auf, daß sie schwerer zu lesen sind als 'Der Meridian' selber. Es ist jene 'Hermeneutik', die sich allzu häufig mit 'Hermetik' verwechselt. Wenn der Interpret Celans Bitte nachkommen will, 'mit Jedermannshänden' gelesen zu werden, muß er um eine Sprache ringen - auch hier ist es ein Ringen gewesen -, die etwas 'heller' wäre als das Original." (Cameron 1987, 167).

George Gutu bemängelt an Buhr (1976) eine "teufelskreisartige interpretatorische Bewegung", welche das Problem der "Verstehbarkeit von Interpretationen" aufwerfe; was in Buhr (1976) anklinge, sei die "Meta-Interpretation"; weitere, allzug drastische Bemerkungen, die mit unnötigem sprachlichen Aufwand betrieben werden und zudem auch ungerecht sind (vgl. Gutu 1990, 41), werden hier übergangen.

Gerhard Buhr hatte seinerzeit unter anderem festgestellt, er verstehe die Interpretation "nicht als eine bestimmte Methode, sondern als eine Disziplin der Literaturwissenschaft" (Buhr 1976, 8). Zur Abfassungszeit seiner Arbeit - und in dem ihm damals zur Verfügung stehenden Theorierahmen, welcher die daran geknüpfte Redeweise bedingt - hat Buhr verschiedene Aspekte angesprochen, die man heute im Kontext von Wissensbasiertheit, Frames, Scripts, Plans u.a.m. anders fassen würde:

"Grenzt die Interpretation, um der jeweiligen Einzelheit des Texts, um seiner Reflexion-in-sich und des ausgedrückten, dargestellten Sinns willen, die texttranszendenten Bedingungszusammenhänge aus, werden im Folgenden mithin kultur-, philosophie- und religionshistorische sowie literarhistorische und biographische, psychologische, soziologische und politische Einflüsse und Abhängigkeiten, Wirkungen und Bedeutsamkeiten der beiden genannten Texte Celans bis auf wenige Hinweise ausgespart, so wird die Möglichkeit der Interpretation selbst fragwürdig: gerade der reflexiv in sich abgeschlossene Text scheint, soll er verstanden und interpretiert werden können, einer seiner Abgeschlossenheit aufschließenden Vermittlung zu bedürfen, und dies um so mehr, wenn wie hier die Texte poetisch-literarisch sind und doch wissenschaftlich-begrifflich dargestellt werden sollen. Diese unvermittelte Vermittlung könnte vielleicht das Verstehen selbst sein, und das Verstehen selbst könnte vielleicht auch die Interpretation ermöglichen." (Buhr 1976, 9).

Hingewiesen sei zur Klärung der hier angesprochenen Fragen auf Kap. 6. vorliegener Arbeit: "Interpretieren und Wissen".

Herstellen läßt sich von hierher ein Bezug außerhalb der Celan-Philologie: In anderer, modernerer Redeweise könnte man in zuletzt zitierten Ausführungen dasjenige sehen, was Albrecht Schöne die "komprehensive Exegese" nennt, die sich nicht "mit den Verfahrenstechniken 'immanenter' Interpretation" begnügen will, sondern "welche den Text als das Ensemble seiner Entstehungsbedingungen und Wirkungsmöglichkeiten versteht". Die sich, so Schöne, "hier angebotenen Leseübungen" bedienen sich "eines umfangreichen literaturwissenschaftlichen Instrumentariums"; sie "bemühen sich also darum, die lebensgeschichtlichen, geistes- und kulturgeschichtlichen Engramme kenntlich zu machen, die diesen Dichtungen eingeschrieben sind" (Schöne 1993, 9-10).

 

Eine Mängelliste stellt z.B. Henriette Beese auf, die ihrem Lehrer Szondi verpflichtet ist und die außerdem noch die Arbeiten von Allemann und Weinrich akzeptieren kann; die darüber hinausgehende Sekundärliteratur dient ihr nurmehr der "Demonstration der Gefahren, in denen sich jeder Interpret Celans befindet" (Beese 1976, 12):

Die "erste Gefahr" ist nach Beese die "der privaten Assoziationen, die sich für gemeingültig hält". Als Beispiel dafür führt sie die "Realinterpretation" nach Hans Georg Gadamer an, welche als "private Assoziation" allzu "unreflektiert" sei (Beese 1976, 110).

 

Man vgl. folgende Ausführungen aus Gadamer (1973), zitiert hier nach der Ausgabe von 1986: "Wessen der Leser bedarf" ist nach Gadamer nicht, "eine kritische Beurteilung, die feststellt, daß man nicht mehr versteht, sondern dort anzusetzen, wo man zum Verständnis vorzudringen vermag, und dann zu sagen, was man versteht":

"In guten alten Zeiten nannte man das ganz schlicht 'Realinterpretation'. Man sollte deren Recht und Möglichkeit nicht leichtfertig preisgeben am allerwenigsten bei einem so traditionsbewußten Dichter wie Celan war." (Gadamer 1973/1986, 112).

 

Das Ergebnis der "zweiten Gefahr" sieht Beese in solchen Arbeiten, "die sich lesen, als entstammten sie nicht der Germanistik, sondern dem 'Wort zum Sonntag'" (14).

 

Diese schließen, so Beese, daran an, daß Celan ebenso von der "artistischen Lyrik" entfernt sei wie von "mitteilend weltanschaulicher Lyrik", und daß er immer habe "durchblicken" lassen, seine Lyrik habe "eine - wenn auch häufig schwer entzifferbare - Bedeutung, und diese Bedeutung sei - auch in höchst ironischen Gedichten - sehr ernst" (14). Dies wiederum verleite zu "Kurzschlüssen", von welchen zwei von Beese als "besonders suggestiv" eingeschätzt werden. Der erste Kurzschluß bestehe "im Rahmen der Parallelstellenmethode in einer Orientierung an dem Heidegger-Jargon"; der zweite Kurzschluß bestehe in einer Umdeutung ins Gegenteil, nämlich indem man "Abwesenheit in ein Symbol der Anwesenheit" (vgl. 15) umdeute. Dieser "Vulgärdialektik" (in Dissertationen und Deutschunterricht gleichermaßen) gehe Gadamer mit seiner Realinterpretation "voran" (Beese 1976, 15).

 

Als "dritte Gefahr" wird von Beese die Interpretationsrichtung im Sinne einer "Wiedergutmachungs- und Kollektivschuld-Sentimentalität" (Beese 1976, 16) angesehen.

Am deutlichsten scheint Beda Allemann das Grundpro­blem ei­nes literaturwissenschaftlichen Zugangs zu lyrischen Texten gefaßt zu haben, der feststellt:

 

"Es ist methodisch bedenklich, die Wörter eines ly­rischen Textes als Vokabeln und Begriffe des lite­raturkritischen Sprechens über den Text zu verwen­den. Nolens volens greift die Kritik immer wieder zu dieser streng genommen unerlaub­ten Abkürzung des Verfahrens. Der Grund dafür liegt darin, daß sie über keine Metasprache verfügt und verfügen kann, in der sich über Gedichte sprechen ließe." (Allemann 197o, 270).

In vergleichbarer Weise hat Alfred Kelletat darauf hingewie­sen, der die Analyse von Gedichten aus dem Band "Sprachgitter" mit der Feststellung versieht: Ob­wohl manches habe er­hellt werden können, "[...] so mangelt es doch sehr an ei­nem sicheren hermeneuti­schen Geleit bei den Annäherungsver­suchen ans Ge­dicht" (Kelletat 1973, 113).

 

Zur Lösung des Problems der Bezugnahme auf das Werk kann man sich nicht, worauf Allemann nachdrücklich und zu­recht hinweist, die "populäre und resig-nierte Auffas­sung" zu eigen zu machen, "daß man über Gedichte besser schweigt, weil man mit kritischen Mitteln doch nicht über eine hinter dem poetischen Wortlaut immer zurück­bleibende Paraphrase hinauskommt" (Allemann 1970, 270).

 

Allemann weist auch darauf hin, daß auch Celan, der den Inter­preten seiner Gedichte immer sehr skeptisch gegenüberstand, dies gesehen habe:

"Er sah deutlich die Gefahr, daß das moderne Ge­dicht einem Gespinst von Schlagworten zum Opfer fallen könnte, mit denen man seiner habhaft zu wer­den glaubte." (Allemann 1970, 267).

 

Bei genauerer Sichtung des von Allemann angesprochenen Sachverhalts zeigt sich: Im Rahmen der kommentierenden und interpre­tierenden Bezugnahme auf einen jeweiligen Gegenstand spielen Bruchstücke aus den verschiedenen Re­den Celans und/oder Ausdrücke aus seinem dichterischen Werk gleichermaßen die Rolle des Kommentierungsvokabulars; hinzu treten solche Formulierungsbestandteile, die aus anderen Quellen bezogen werden.

Im einzelnen spielen Passagen aus den Gedichten - sowie aus verschiedenen schriftlichen und mündlichen Äußerungen Celans, insbesondere solche zur Poetik und zur Sprache - in der Sekundärliteratur in mehrfacher Weise eine Rolle:

 

- Zum einen sind sie Gegenstand manchmal ausführlicher Untersuchungen, so in der erwähnten Arbeit von Buhr, in der die Büchnerpreis-Rede als Einzeltext "zur Interpretation" ansteht (Buhr 1976, 181).

 

- Zum anderen sind sie aber auch Bestandteil der kommentierenden und interpretierenden Bezugnahmen auf das Werk. Hier bilden dann Textsegmente aus den verschiedenen Schriften und mündlichen Äußerungen Celans - als Kommentierungsvokabular - eine Schicht der Kommentarsprache jeweiliger Interpreten; als sprachliche Ausdrücke von Wortrang oder als Syntagmen sind sie in diese syntaktisch eingebunden. Man greift aufgrund einer gewissen Ausdrucksnot auf Äußerungen Celans zurück und legitimiert die eigenen - fragmentarischen - Stellungnahmen dadurch, daß man derartige Versatzstücke syntaktisch einbindet. Soweit diese wenigstens als Zitat gekennzeichnet sind, bleibt lediglich eine unschöne Mischung des Kommentierungsvokabulars zu konstatieren. Als bedenklich muß angesehen werden, wenn auch noch Textsegmente aus erschiedenen Gedichten eine Schicht der Kommentarsprache bilden, weil diesen damit der gleiche Status zugebilligt wird wie den theoretischen Reflexionen Celans (z.B. in seinen Reden).

 

- Von dem Einbau einzelner Ausdrücke aus ganz unterschiedlichen Gedichten in die eigene Kommentarsprache ist zu unterscheiden: die Herausfilterung einer Sprachauffassung aus den Gedichten, indem Ausdrücke wie Name, Bedeutungsflucht, schwimmendes Wort als "metapoetische" Ausdrücke einer sprach-theoretischen Einordnung zugeführt werden. In dieser Weise ist Menninghaus verfahren, der - anknüpfend an Verwendungsinstanzen des Ausdrucks Name aus verschiedenen Gedichtestexten - sprachmystische und magische Aspekte im Werk Celans ausgemacht hat, welche auf Benjamins Auffassungen basieren sollen (vgl. Menninghaus 1980).

 

Würde man die Kommentarsprache der Celan-Interpreten genauer untersuchen - worin in vorliegendem Zusammenhang kein Sinn erblickt werden kann -, dann ließen sich weitere Schichten erfassen: Entlehnungen aus philosophischen Schriften (insbes. denen Heideggers), Formulierungsversatzstücke aus ganz unterschiedlichen literaturwissenschaftlichen Arbeiten, aus älteren sprachwissenschaftlichen Texten, aus Schriften Benjamins, aus Kabbalistik und Mystik u.a.m.

Eine solche Untersuchung würde, aus der Perspektive der Celan-Philologie, die Vielschichtigkeit sprachreflexiver - traditionell als "metasprachlich" ausgegebener - Bezugnahmen literaturwissenschaftlicher Diskurse aufweisen: Mit Blick auf die weitgefächerte Wiederverwendung vorgefertigter Formulierungsbestandteile, die Texten ganz unterschiedlicher Textsortenzugehörigkeit entstammen, würde es sich um eine intertextuelle Analyse handeln; zugleich wäre dies ein Beitrag zu geisteswissenschaftlicher Fachsprachlichkeit unter dem bisher nicht behandelten Aspekt der Fachsprachen-Phraseologie.

 

 

2.4.    Nachbemerkungen

 

In diesem Kapitel geht es darum, den Rahmen der Argumentationsrichtung vorliegender Arbeit abzustecken. Dazu wird an Auseinandersetzungen um Zuständigkeitsfragen für dichterische Texte angeschlossen. Unter Rückgriff auf ausgewählte ältere und neuere Arbeiten zu diesem Komplex werden zunächst Etappen der Auseinandersetzung um einen immer wieder versuchten Dialog zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft aufgezeigt. In dem Zusammenhang wird zu verdeutlichen versucht, daß die Untersuchungen vorliegender Arbeiten nicht an gängigen Perspektiven orientiert sind, die im wesentlichen auf punktuelle Hilfsleistungen an die literaturwissenschaftliche Adresse hinauslaufen. Zugleich wird im Rahmen einer kritischen Sichtung verschiedener, auf dichterische Texte bezogener, sprachwissenschaftlicher Analyseansätze ansatzweise aufgezeigt, in welche Richtung - der sprachwissenschaftlichen Orientierung nach - die Untersuchung von Sprachfragen in vorliegender Arbeit nicht verlaufen wird. In dem Abschnitt zur Positionsbestimmung werden die in Frage kommenden Aspekte zusammengestellt, die in nachfolgenden Kapiteln auszuarbeiten sind. Hingewiesen wird insbesondere darauf, daß eine einheitliche Bewältigung der anzusprechenden Sprachfragen angestrebt wird, wozu im dritten Kapitel erste Grundlagen gelegt werden. Die einheitliche Bewältigung von Sprachfragen beinhaltet in dieser Arbeit, daß für keine der zu behandelnden Detailfragen dichterischer Sprachlichkeit theoretische Sonderkonstruktionen vorgesehen sind.

Der Zugang zur Celan-Philologie wird in diesem Kapitel nicht in der Weise eröffnet, daß hier ein eigentlicher Forschungsbericht vorangestellt ist; vielmehr wird so vorgegangen, daß sprach- und literaturwissenschaftliche Probleme und Fragestellungen aus jeweiliger Perspektive erfaßt werden. Eingegangen wird dazu auf zwei Phasen der Auseinandersetzung mit dem Werk Celans: Aufgezeigt werden repräsentative Argumentationshinsichten, die Einfluß auf die Celan-Philologie gewonnen haben, sowie kontroverse Beurteilungen der Rolle sprachwissenschaftlicher Ansätze.

Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive geraten vor allem Kontroversen zu Interpretationsfragen in den Blick, die aber an dieser Stelle nur in wesentlichen Bezugspunkten aufgezeigt, aber noch nicht behandelt werden (vgl. dazu 6.2.). Unter Bezugnahme auf kritische Stellungnahmen aus der Celan-Philologie wird schließlich auf einige Aspekte geisteswissenschaftlicher Fach-Sprachlich-keit eingegangen; daran schließen sich Ausführungen zu kommentarsprachlichen Spezifika von Diskursen aus der Celan-Philologie an.

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6.      Interpretieren und Wissen

 

 

 

6.1.    Generelle Vorbemerkung

 

Die an dieser Stelle zu behandelnden Fragen schließen unmittelbar an die im vorausgehenden Kapitel für fruchtbar erkannte Unterscheidung zwischen Verstehen im Sinne eines sich einstellenden Ereignisses und Interpretieren als Deutungsprozeß (unter Einschaltung gegebenenfalls professioneller Deuter bzw. Textausleger) an; vgl. die Ausführungen unter 5.3.3.2.

Die unter 5.3.3.6. exemplarisch durchgeführte Untersuchung zur Frage "poetischen Verstehens" verdeutlicht, daß nicht nur Verstehen und Interpretieren, sondern auch Interpretieren und Analysieren in einem problematischen Verhältnis zueinander stehen: In der Konzeption aus Begemann (1991) steuern u.a. "Erwartungsnormen" und "Metastrategien" die Rezeption, ohne daß dabei zwischen Verstehen und Interpretieren differenziert wird: Der sich an "Verstehensstrategien" ("Leserstrategien") orientierte "Strategieapparat" aus Begemann (1991) hat sich in seiner Anwendung auf drei Gedichte unterschiedlichen Typs deuten lassen als Anweisung, um im Rahmen von Analysestrategien zum Verstehen im Sinne eines Resultats von Interpretationen gelangen zu können. Hinweise wie die, daß die "Beispielanalysen" den "Nachweis erhärten" sollen, "daß in der Anwendung des Strategieapparats auf Gesamttexte inhaltlich überzeugende (denkbare) Gedichtinterpretationen resultieren" (Begemann 1991, 336), scheinen eine solche Einschätzung zu bestätigen.

Des weiteren läßt sich für die nachfolgend nach Schmidt (1980/1991) so bezeichnete "L-Interpretation" (literarische Interpretation) an die Ausführungen unter 2.3.3. angeschließen: Dort ist im Rahmen der Sichtung sprachkritischer, von literaturwissenschaftlicher Seite vorgetragener, Stellungnahmen herausgestellt worden, daß meist als besonders problematisch dasjenige der Wissenschaftlichkeit interpretativer Diskurse angesehen wird. Allerdings wird in diesem Kapitel - der Argumentationsrichtung vorliegender Arbeit entsprechend - nicht der Versuch unternommen, unter den Vorzeichen vermeintlicher Wissenschaftlichkeit des Vorgehens das eine oder andere Gedicht Celans zu interpretieren bzw. die "Interpretion" gegen eine sprachwissenschaftliche "Analyse" auszuspielen und gegebenenfalls gar dafür zu plädieren, erstere zugunsten letzterer aufzugeben. Es geht vielmehr lediglich darum, aus Einsichten in den Status von "Interpretation" (im Sinne von "Textinterpretation" und "L-Interpreta-tion") Ansatzpunkte für eine Vorgehensweise zu gewinnen, welche in der Lage ist, die in der Celan-Philologie wie in der sonstigen Literaturwissenschaft immer wieder monierte Unkontrolliertheit interpretativer Diskurse überwinden zu können. Die Ausführungen münden denn auch nicht in einem vermeintlichen Patentrezept sprach- und/oder literaturwissenschaftlicher Art, sondern in Vorschlägen im Sinne einer Kursbestimmung.

Die sich anschließenden Fragen zum "Wissen" können als nicht minder komplex angesehen werden als die, welche in neueren und älteren Arbeiten zur Interpretation aufgeworfen worden sind. Besonders kontrovers beurteilt werden in der Celan-Philologie Wissens-Fragen mit Blick auf Verstehen im Sinne des Resultats von Interpretationsbemühungen: Auf welches Wissen darf bzw. muß bei der Interpretation zurückgegriffen werden? Sollte die Interpretation ohne Veranschlagung von Spezialkenntnissen aus verschiedenen Fachdisziplinen auskommen? Aber auch das ganz unproblematisch, ohne Einschaltung eines professionellen Deuters, sich einstellende Verstehen wird in gleiche Richtung gehend problematisiert. Allerdings ist im Umkreis der Celan-Philologie weder im Zusammenhang mit Fragen der L-Interpretation, noch zu solchen des Wissens auf neuere Untersuchungen Bezug genommen wird, unter deren Berücksichtigung die aufgeworfenen Probleme zumindest differenzierter hätten perspektiviert werden können.

Der Verweis auf neuere Untersuchungen zu diesem Komplex hat im Rahmen des Argumentationsgangs vorliegender Arbeit nicht die Funktion eines belehrenden Nachhilfeunterricht in Sachen Interpretations- und Wissenstheorie, sondern ist unter der generellen Maxime der Herstellung von Vielseitigkeit der Argumentationshinsichten darauf gerichtet, im Rahmen vorliegender Arbeit die Brücke zu dem einzig hier ins Auge gefaßten Praxisbezug zu schlagen: Aus Fragen des Interpretierens wie aus denjenigen des bei der Rezeption des Werks zu veranschlagenden Wissens kann nur der Schluß gezogenen werden, das bisher in der Celan-Philologie zur Verfügung gestellte Wissen zu Interpretationszwecken zu nutzen, auch um den - mittlerweile - unendlich erscheinenden Progress immer gleicher Argumentationsgänge und immer wieder rekapitulierter Wissensdetails heterogener Herkunft, welche zu dem einen oder anderen Gedicht zusammengetragen worden sind, zumindest zu einem vorläufigen Zwischenergebnis zu verhelfen. In diesem Sinne wird unter 6.3.4. das bislang noch wenig ausgearbeitete Konzept eines Bedeutungswörterbuchs zum Werk Paul Celans vorgetragen. Für die lexikographische Praxis wird dabei von Prinzipien ausgegangen, die in deutlichem Gegensatz zu allen bekannten Vorschlägen aus dem Bereich der Autorenlexikographie stehen.

 

 

6.2.    Zu Fragen der Interpretation

 

6.2.1. Vorbemerkung

 

Es geht in diesem Abschnitt nicht um den Versuch einer theoretisch befriedigenden Bestimmung des bildungssprachlich und fachsprachlich gleichermaßen schlechtbestimmten Ausdrucks interpretieren bzw. des zugehörigen nominalen Ausdrucks Interpretation, der zudem Akt-Resultat-Mehrdeutigkeit aufweist. Es geht auch nicht darum, Methoden der literarischen Interpretation ("L-Interpre-tation" nach Schmidt 1980/1991) gegeneinander abzuwägen oder deren Defizite zu beklagen.

 

Holger Pausch hat schon 1981 von einer "frappierenden Interpretationsbreite" in der Celan-Philologie gesprochen und von "einem mangel- und fehlerhaften Textverständnis, das in der Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft sicherlich zu den Ausnahmen zählt" (Pausch 1981, 8).

 

Auch beinhaltet der Abschnitt nicht die Darstellung zur Hermeneutik. Dazu sei auf die Ausführungen von Kurt Wuchterl in dem Artikel "Die hermeneutische Position" (in dem Handbuch "Sprachphilosophie") verwiesen, der zur traditionellen Hermeneutik als Kunstlehre der Interpretation festhält:

 

"Der Ursprung der Hermeneutik liegt in der Theologie. [...]. Das Erklären des nicht unmittelbar verständlichen oder in einer anderen Sprache abgefaßten Textes kann zum existentiellen Anliegen werden. Besonders in der jüdisch-christlichen Tradition hängt das Heil des einzelnen Gläubigen und die Existenzfähigkeit der Gemeinschaft (Volk Gottes, Kirche) weitgehend von der richtigen Interpretation der 'Heiligen Schriften' ab. Zur Bewältigung dieser folgenreichen Aufgabe entwickelten Schriftgelehrte umfangreiche Methoden der Auslegung, die später für andere Bereiche vorbildlich wurden. Die so entstandene Interpretationskunst hatte nicht nur den Zweck, die Kluft zwischen der göttlichen Offenbarung und dem menschlichen Auffassungsvermögen zu überbrücken, sondern sie mußte zugleich das Problem des historischen Zeitabstands lösen." (Wuchterl 1992, 638-639).

 

Vielmehr werden Bezugspunkte einer bisher - jedenfalls in der Celan-Philologie - offenbar überhaupt nicht geführten Auseinandersetzung mit neueren Überlegungen zu Fragen der L-Interpretation unter dem Blickwinkel betrachtet, welche Schlüsse daraus für einen Zugang zu dichterischen Texten (und nicht nur zu diesen) zu ziehen sind: Kann ein patentierter linguistischer Ansatz oder ein konstruktiv-kognitivistisches Analyseprogramm die L-Interpretation ersetzen? Welchen theoretischen Status hat die L-Interpretation? - Dazu werden neben Ausführungen aus Schmidt (1980/1991) auch repräsentative Stellungnahmen anderer Theoretiker und solche aus der Celan-Philologie in die Untersuchung einbezogen (vgl. 6.2.3. und 6.2.4.).

Angeschlossen sei dazu an dieser Stelle an die zeichentheoretischen Überlegungen Rudi Kellers (vgl. dazu 3.4.2.), wonach "unser Leben vollständig zeichenimprägniert" ist und es "kein Entrinnen aus der Interpretierbarkeit" (Keller 1995, 14-15) gibt. Die dort so gefaßte "semiotische Kompetenz" (vgl. dazu den Abschnitt 3.4.2.) ist unter Rückgriff auf Schmidt (1980/1991) als Fähigkeit erfaßt worden, Wahrnehmungsangebote resp. Medienangebote resp. Kommunikatbasen unterschiedlicher Provenienz (einschließlich nichtsprachlicher "Inter-pretationsvorlagen") deuten zu können. Entsprechende Deutungen können inter-subjektiv nicht anders als nur sprachlich in den Blick geraten, nämlich indem Texte produziert werden. Formulierungsresultate dieser Texte lassen sich in Wiedergabeäußerungen ihres propositionalen Gehalts ("daß" dies und jenes der Fall ist), mithin aus Beobachterperspektive, als eine Art von "Wissen" ausweisen, nämlich daß dies oder jenes gewußt wird. (Dabei können die aus Fremd- und Eigenperspektive vorgetragenen "Interpretationen" konfligieren). Dies ist die Normalsituation im Hinblick auf sämtliche Kommunikatbasen - einschließlich solcher, die eigentlich überhaupt nicht problematisch erscheinen. Deshalb ist unter 3.4.2. auf Interpretation in diesem Sinne mit dem Ausdruck bodenstän-dige Interpretation Bezug genommen worden; ihr Geltungsbereich ist nicht beschränkt. Allerdings wurde unter Berücksichtigung solcher sprachlich (und ihrer theoretischen Behandlung nach) äußerst schwer zu umreißender Gegenstände, wie es die Partikeln sind, zu bedenken gegeben, ob die von Keller vorgeschlagene Formel "Bedeutungen sind Interpretationsschlüsse" (Keller 1995, 113) als "laxe Formel" nicht in eine falsche Richtung weist, da die aus je bewußtseinseigener Perspektive vorgetragenen "Interpretationen" nicht zur Erfassung von Bedeutungsspezifika solcher Einheiten führen können, sondern nur Konstruktionen, die aus der Analyse von Satz- bzw. Textäußerungen resultieren: Der Konstruktion von Bedeutungen geht mit Blick auf sämtliche ausschließlich sprachbezogene Ausdrücke die Analyse notwendig voraus; "Inter-pretationen" solcher Ausdrücke haben ihren systematischen Ort im "kommuni-kativen Sinn" (vgl. dazu 3.2. und Wolski 1986, 365).

Eine "laxe Formel" ist diejenige von "Bedeutungen" als "Interpretations-schlüsse" auch unter dem Gesichtspunkt aller für auslegungswürdig erachteter Texte (die unterschiedlichen Disziplinen angehören) dann, wenn die bodenständige Interpretation - wie in Keller (1995) - nicht von der der Textinterpretation bzw. von der auf literarische Kommunikate gerichteten "L-Interpretation" im Sinne von Schmidt (1980/1991, 345) abgegrenzt wird.

In ähnlicher Weise wie in Keller (1995) hat auch Hilary Putnam den Ausdruck Interpretation im Sinne von bodenständiger Interpretation in Anspruch genommen, wobei - über Keller hinausgehend - ganz ausführlich Fragen der Interpretationsabhängigkeit naturwissenschaftlicher Termini in den Blick geraten (vgl. Putnam 1991, 41ff.). Angeführt werden dazu Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte, so die aus zeitlicher Distanz vorgetragenen unterschiedlichen "Interpretationen" von Bohrs Theorie des Elektrons aus 1900 und 1934 (vgl. Putnam 1991, 42). Insbesondere sind es in Putnam (1991) Fragen der Synonymie, welche die als "heikel" betrachteten Fragen der Interpretation aufwerfen. Ganz im Sinne des Argumentationsgangs vorliegender Arbeit wird von Putnam der Geltungsbereich der bodenständigen Interpretation textsortenübergreifend erfaßt:

 

"Bedenken wir jedoch, wie heikel Fragen der Interpretation sein können, auch wenn wir es mit Texten zu tun haben, die nicht sonderlich 'literarisch' sind!" (Putnam 1991, 40).

 

Während in Keller (1995) für die im Sinne bodenständiger Interpretation zu erbringenden Interpretationsleistungen eine "semiotische Kompetenz" veranschlagt wird, geht Putnam lediglich von einer "allgemeinen Intelligenz" (vgl. 41) aus. Was Putnam aus der Untersuchung zeitlich distanter Interpretationsleistungen zu Termini wie Elektron (aber auch z.B. Impuls) ableitet, soll sich offenbar auch auf die Textinterpretation bzw. die L-Interpretation erstrecken, obwohl derartige Perspektiven nicht explizit in den Blick geraten: "Nachsicht" und "Wohlwollen" in Interpretationsfragen, Normalität der "Überzeugungsfestle-gung" u.a.m.; vgl. auch:

 

"Jegliche Interpretation beruht auf Nachsicht, weshalb wir bei der Interpretation immer wenigstens einige Überzeugungsunterschiede außer acht lassen müssen." (Putnam 1991, 42).

 

Daß gerade mit der Berücksichtigung von Fragen der L-Interpretation ein Minenfeld betreten wird, weil gravierende Kontroversen der Literaturwissenschaft davon berührt sind, zeigt sich ganz deutlich auch mit Blick auf bekannte Darstellungen wie z.B. Brackert/Stückrath (Hrsg.) 1995: "Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs." Dort stellt Dietrich Naumann in seinem Beitrag fest:

 

"Das Zentrum der Literaturwissenschaft ist die metasprachliche Explikation (ästhetisch) artikulierten Sinns, die Interpretation." (Naumann 1995, 468).

 

Unter den Vorzeichen der sprachtheoretischen Orientierung vorliegender Arbeit kann an eine solche Einordnung der Probleme, nämlich an eine im Sinne der Bezugnahme auf "Metasprache" und "System", nicht angeschlossen werden: "Begriffe der Literaturwissenschaft" sind nach Naumann "als induktive Verallgemeinerungen Elemente eines metasprachlichen Systems [...]" (vgl. ebda. 471). Außerdem ließe sich bereits bei oberflächlicher Sichtung der interpretatorischen Praxis (in der Celan-Philologie wie anderswo) sofort und gründlich in Frage stellen, Interpretation seien "Systeme wissenschaftlicher Aussagen", die "keine einander widersprechenden Sätze enthalten dürfen" (vgl. ebda. 469). Hier wird nicht der Status quo von L-Interpretationen erfaßt, sondern prospektiv ein Bild von L-Interpretationen entworfen, das diese unter Bezugnahme auf Postulate aus der Wissenschaftstheorie an wissenschaftlichen Maßstäben mißt: "Wider-spruchsfreiheit", "Wahrheit", "Prüfbarkeit", Hypothesenbildung, Forderung nach "intersubjektiver Verstehbarkeit" u.a.m. (vgl. Naumann 1995, 469ff.).

Horst Steinmetz spannt in dem Abschnitt "Die Rolle des Interpreten und das Gespenst der richtigen Interpretation" einen Bogen von der früher und ggf. heute noch vertretenen Auffassung, "daß literarische Texte eine mehr oder weniger fest umrissene Bedeutung besäßen" (Steinmetz 1995, 476), über die Rezeptionsästhetik bis zur dekonstruktivistischen "Demonstration ständiger, nicht abzuschließender Bedeutungsveränderung und -erweiterung" (479). Angeschlossen wird in Steinmetz an den problematischen Befund:

 

"Interpretationen neigen bislang grundsätzlich dazu, literarische Werke auf einen Sinn festzulegen, häufig in expliziter Auseinandersetzung mit früheren oder anderen Interpretationen, die ebenfalls einen Sinn verkünden oder verkündet haben." (479)

 

An das "Gespenst der richtigen Interpretation sollte", so Steinmetz, "jetzt auch von denen nicht mehr geglaubt werden, die keine Anhänger des Dekonstruktivismus sind" (479). So kritisch Steinmetz auch auf den Dekonstruktivismus eingeht, dessen Vertretern es "gar nicht um Bedeutungen welcher Art auch immer" geht, so macht er doch auf einen nicht unwichtigen Aspekt aufmerksam: Während man bisher den Umstand, daß es "bislang noch von keinem einzigen Text die 'richtige' Interpretation gibt", konnte das bis vor kurzem immer "noch mit dem Argument verteidigt werden, die adäquate Interpretationsmethode sei noch nicht gefunden":

 

"Der Dekonstruktivismus hat eines zeigen können, nämlich daß das Fehlen richtiger Interpretationen nicht durch inadäquate Interpretationstheorien, -methoden oder -modelle verursacht, sondern unvermeidliche Wirkung des Interpretierens selbst ist. Interpretationen erfolgen grundsätzlich von außerhalb der Texte liegenden Standpunkten, Perspektiven, Annahmen aus, produzieren darum von den gewählten Standpunkten, Perspektiven, Annahmen her profilierte Bedeutungen. Interpretationen entstehen aus einem Miteinander, aus einem Aufeinanderbeziehen von Text und Außertextlichem, von Text und Kontext." (Steinmetz 1995, 478).

 

Es ist dies eine Einsicht, die der Sache nach mit der Orientierung zu Fragen der L-Interpretation aus Schmidt (1980/1991) übereinkommt, an welche im nachfolgenden Abschnitt angeschlossen wird. Die dort getroffenen terminologischen Unterscheidungen werden in ihrer Rolle als Einordnungsinstanzen genutzt, wenn anschließend unter 6.2.3. einige weitere Ansätze zu Fragen der Interpretation in den Aufmerksamkeitsbereich gerückt werden: Eco (1987) zum "Streit der Interpretationen", die Ausführungen aus Steiner (1990) zum Status von Interpretationen sowie diejenigen aus Busse (1992) zur "Textinterpretation".

 

 

6.2.2. Zur theoretischen Orientierung

 

Angeschlossen werden kann hier an die Ausführungen Schmidts zur "Textverarbeitung" und zu "Verarbeitungstexten":

 

"Schließlich scheint es mir aus Gründen der Klarheit einer TLKH [Theorie Literarischer Kommunikativer Handlungen - W.W.] sinnvoll zu sein, eine Konzeption von 'S- und L-Verarbeitung' zu entwickeln, in der Verarbeitungsoperationen als intentionale Handlungen erscheinen, die Teilnehmer an Literarischer Kommunikation vornehmen, um Verarbeitungs-texte zu produzieren, die wieder als thematische Texte in Literarische Kommunikation eingehen und dort eine Rolle spielen können als 'Interpretationen', 'Übersetzungen', 'Kritiken' usw., wobei diese Verarbeitungstexte in einer intendierten 'Verarbeitungsrelation' stehen zu den Literarischen Ausgangstexten." (Schmidt 1980/1991, 329; vgl. die auch die Definitionen S. 343).

 

Die Operation der Vertextung von Kommunikaten wird als Kommunikatverbalisierung gefaßt. Es ist dies (einschließlich Paraphrasieren, Kondensieren u.a.m.) die "grundlegende" S[prach]-Verarbeitungsoperation" (332); mit ihr wird von Verarbeitern dokumentiert, "welches Kommunikat sie dem Ausgangs-text zugeordnet haben" (333). Resultat der Kommunikatverbalisierung ist das Kommunikatprotokoll, die "als Text vorliegende sprachliche Repräsentation eines Kommunikats" (333/334). Wenn es ein Textverarbeiter anderen Kommunikationsteilnehmern ermöglichen will, "seine Aussagen über ein Literarisches Kommunikat kritisch zu prüfen", dann muß er angeben, "wie dieses Kommunikat aussieht":

 

"Ohne ein Kommunikatprotokoll sind L-Kommunikationsteilnehmer nicht in der Lage, die Relation zwischen dem L-Rezeptionsresultat eines L-Verarbeiters (über einen Ausgangstext) und dem L-Verarbeitungstext kritisch zu beurteilen." (Schmidt 1980/1991, 360).


Aussagen im Rahmen der Theorie literarischer kommunikativer Handlungen werden im Rahmen dieser Konzeption nicht danach beurteilt, "ob sie 'die richtige' oder 'autorintention-adäquate' usw. 'Bedeutung' eines Textes ermitteln"; entsprechende Aussagen werden vielmehr nur danach beurteilt, "ob sie logisch korrekt argumentieren, empirisch stichhaltig sind und neue Problemlösungen offerieren (also 'fruchtbar' sind)". Dazu ist es nötig zu wissen, auf welche Kommunikate sich die Aussagen beziehen; diese - sekundären - Kommunikate sind allerdings nur dadurch zugänglich, daß andere Texte produziert werden; neben Kondensaten (die hier übergangen werden können) sind dies Kommunikatprotokolle. (vgl. Schmidt 1980/1991, 362-363).

Unter den möglichen Typen von Kommunikatprotokollen (vgl. 363) interessieren in vorliegendem Zusammenhang nur so bezeichnete elaborierte direkte Kommunikatprotokolle. Es handelt sich dabei um solche Kommunikatprotokolle, "die Wissenschaftler anfertigen, um intersubjektiv zugänglich zu machen, welches Kommunikat sie einem Text im einzelnen (d. h. Wort für Wort und Satz für Satz) zugeordnet haben" (vgl. 334).

Damit ist eine terminologisch eigenwillige, aber gerade im Hinblick auf die landläufig so bezeichnete Interpretation wichtige Differenzierung gewonnen. Denn unter Berücksichtigung des Status quo der Praxis von Verarbeitungshandlungen verbinden sich die an Kommunikatprotokolle zu stellenden Anforderungen weder mit der Textinterpretation allgemein, noch mit der auf literarische Texte gerichteten L-Interpretation: Ähnlich wie dies in Naumann (1995) für die Interpretation prospektiert wird, sollen nach Schmidt per Kommunikatprotokoll "intersubjektiv überprüfbare" Aussagen über literarische Kommunikate erreicht werden. Und ähnlich wie Steinmetz, der die "Auslegungsvielfalt" als "struk-turelles Kennzeichen aller Interpretation" bezeichnet und sich dafür ausspricht, daß unterschiedliche Bedeutungen nicht "miteinander versöhnt noch gegeneinander ausgespielt werden" sollten (vgl. Steinmetz 1995, 487f.), fordert Schmidt die "Lokalisierung derjenigen Stellen bzw. Textmerkmale" im Kommunikatprotokoll, auf welche der Textverarbeiter "polyvalente Rezeptionshandlungen zurückführt" (vgl. Schmidt 1980/1991, 264).

 

Des weiteren führt Schmidt aus, daß "durch Indizien gestützte" Argumente dafür beigebracht werden sollen, "warum z.B. bestimmten Textelementen" nicht nur mit Hilfe eines Lexikons "Bedeutungen zugeordnet werden können, sondern auch noch mit Regeln anderer Lexika". Dieser Fall tritt z.B. auf, "wenn ein L-Kommunikatverarbeiter behauptet, ein Textelement fungiere als Symbol [...] oder als Metapher, bzw. es werde vom Autor abweichend vom allgemeinen Sprachgebrauch zur Produktionszeit eines bestimmten Textes gebraucht". Des weiteren gilt das auch für Fälle, in denen der Verarbeiter "argumentiert, warum man bestimmte von ihm explizierte Textelemente nicht nur auf einen Referenzrahmen beziehen kann, sondern auch auf andere [...]" (vgl. 368).

 

Damit wird deutlich, daß das Kommunikatprotokoll zwar im Überschneidungsbereich dessen liegt, was gewöhnlich unter "Interpretation" gefaßt wird, aber der Sache nach damit nicht zusammenfällt (obwohl das unter Kommunikatprotokoll Gefaßte - interpretationsabhängig - nicht sicher davor ist, aus Beobachterperspektive als "Interpretation" gelten zu können): Das Kommunikatprotokoll fällt am ehesten zusammen mit dem, was eine wünschenswerte Analyse ausmacht bzw. mit dem, was von einem Kommentar günstigstenfalls zu erwarten ist und worauf eine traditionell so gefaßte "Interpretation" aufbauen kann (bzw. erst aufbauen sollte). In diesem Sinne werden hier die Ausführungen Schmidts zum Kommunikatprotokoll gedeutet.

Dem entspricht, daß in Schmidt (1980/1991) L-Interpretationen nicht "als ein abgrenzbarer Bereich von literaturwissenschaftlichen Handlungen" gelten, der es rechtfertigen würde, "die in ihm ablaufenden Handlungen unter dem Oberbegriff 'Interpretation' zu ordnen [...]" (vgl. 370); Interpretieren ist ein "Sammel-name für ganz verschiedene Verarbeitungshandlungen" (344). Literarische Interpretationen "sind - als Formen der Teilnahme an Literarischer Kommunikation - Objekte" einer Theorie literarischer Verarbeitungshandlungen bzw. "Teil des Objektbereichs einer TLVA [= Theorie Literarischer Verarbeitungshandlungen]" (372).

 

Eine von Schmidt durchgeführte Detail-Untersuchung zeigt die Heterogenität der Aussagetypen, die in Verarbeitungstexten (über dichterische Ausgangstexte) vorkommen, welche man als "Interpretationen" bezeichnet: In "ein- und demselben Text" werden "unter der Gattungsbezeichnung 'Interpretation' die verschiedenartigsten Frage- und Antworttypen vermengt", so Schmidt, "ohne es zu merken oder doch zumindest, ohne den Leser davon in Kenntnis zu setzen" (vgl. 371-372).

Das meiste von dem, was Schmidt dazu anführt, ließe sich auch an Beispielen aus der Celan-Philologie belegen. Die "Aussagen(typen)" sind äußerst heterogen und umfassen z.B.: "historische Angaben zum Entstehungsdatum", Stellungnahmen zum "Rang" bzw. "Wert" eines Gedichts, "Aussagen zur sprachlichen 'Gestalt'", Aussagen "über die Funktion sprachlicher Komponenten", über die "'Intention' des Autors", "die Wirkung der Rezeption des Textes", "die Bedeutung von Bildern", "zur Biographie und Psychologie des Autors". Hinzu kommen ggf.: die "Bewertung von Aussagen zur Biographie", Hinweise "auf andere (Litera-rische und nicht-Literarische) Texte", mit denen "bestimmte Behauptungen" gestützt werden, "Aussagen über die Gesamtbedeutung des Textes", zu seinem "Wahrheitsgehalt", seine "ge-genwartsbezogene Relevanz" u.a.m. (vgl. Schmidt 1980/1991, 248-250). - Schmidt unterscheidet unter diesen Deutungshinsichten im wesentlichen "deskriptive", "explanative" und "evaluative" Aussagen (vgl. 350-351). Wolfgang Klein hat zur Interpretation ähnliches festgehalten wie Schmidt:

"Mehrdeutigkeit, Kontextgebundenheit, Metaphorik und Vagheit von Behauptungen in Interpretationen machen ein Verständnis oft nahezu unmöglich, aber dies ist ein anderes, zusätzliches Problem. Es geht hier [...] darum, ob Behauptungen in Interpretationen überhaupt in Hinblick auf wahr und falsch überprüfbar sind." (Klein 1977, 3).

In dem Abschnitt "Wovon handeln Interpretationen?" (6-12) geht Klein ähnlich wie Schmidt auf verschiedene Aussagetypen in Interpretationen ein. Klein weist darauf hin, daß man manchmal "etwas polemisch" sagt, "Interpretationen seien Dichtung über Dichtung", und daß man dabei "die etwas enthusiastische Sprache mancher Interpreten im Auge hat" (Klein 1977, 3).

 

Verkannt wird allerdings von Schmidt nicht, daß "auf seiten von Literaturwissenschaftlern offenbar ein Bedarf" besteht, "Literarische Texte einer Behandlung zu unterziehen, die sie selbst 'Interpretation' nennen" (vgl. 348). Schmidt weist auf einen erheblichen Orientierungsbedarf hin, der auch angesichts "wachsenden Mißtrauens" gegenüber Praktiken literarischer Interpretationen besteht; viele Literaturwissenschaftler scheinen, so Schmidt, in der Interpretation "zumindest eine" ihrer "Hauptaufgaben" zu sehen (vgl. 345); vgl. dazu auch die unter 6.2.1. angeführte Stellungnahme zur Interpretation aus Naumann (1995, 468). Eine wesentliche Rolle für die gesellschaftliche Geltung von Interpretationen, zurückzuführen auf "zugrundeliegende psychische Bedürfnisse" nach Orientierung (vgl. 353), spielt die "Kanonisierung", die im Literaturbetrieb von "berühmten 'Interpretationen" (vgl. 344) ausgeht. Ohne daß dies ausschließlich "als Resultat einer auf L-Interpretationen geeichten Schul- und Universitätspraxis" zu begreifen ist, wird das Bedürfnis nach Interpretationen, so Schmidt, gleichwohl immer neu erzeugt von einer "auf L-Interpretieren ausgerichteten Praxis des Literaturunterrichts, der Schüler dazu zwingt, 'anerkannte' und vom Lehrer akzeptierte L-Interpretationen zur Schullektüre heranzuziehen". Zudem hat die "enorme Ausweitung der Literaturproduktion seit dem 18. Jahrhundert und die immer krasser werdende Diskrepanz zwischen den Literaturbegriffen des Publikums und der jeweiligen literarischen Avantgarde" (vgl. 347) dazu geführt, den Bedarf nach Orientierungshilfen zu steigern.

Um zu ermitteln, "um welchen Bedarf es sich dabei handelt", faßt Schmidt die Fragerichtung der empirischen Literaturwissenschaft im Anschluß an "Witt-gensteins methodologische Regel aus den Books" folgendermaßen: Es gehe nicht um die Frage "Was bedeutet 'L-Interpretation'", sondern "Was geschieht, wenn Leute das tun, was sie 'interpretieren' nennen?" (vgl. Schmidt 1980/1991, 348).

Damit unterscheidet sich dieser Zugang zu Problemen der Interpretation durchaus erheblich mindestens von solchen Ansätzen, in deren Rahmen im wesentlichen Interpretationsmethoden gegeneinander ausgespielt werden.

 

Die immer wieder geführte "intensive Grundlagendiskussion" kann nach Schmidt nicht darüber hinwegtäuschen, "daß der Gänsemarsch von 'Interpretationsrichtungen' (geistesgeschicht-liche, rezeptionsästhetische, ideologiekritische, materialistische usw.) von vielen Literaturwissenschaftlern als quasi naturwüchsiges (neuerdings auch oft irreführend oder naiv als 'demokratisch' bezeichnetes) Phänomen literaturwissenschaftlicher 'Entwicklung' betrachtet wird [...], während doch zumindest zu problematisieren wäre, ob es sich hier nicht um einen Reflex der Einseitigkeit und wissenschaftstheoretischen 'Blindstellen' der bisherigen Geschichte der Literaturwissenschaft handelt". (vgl. Schmidt 1980/1991, 346).

 

Insofern bietet das Konzept des Kommunikatprotokolls eine durchaus fruchtbare Perspektive auch im Zusammenhang mit der bereits unter 2.2.1. erörterten Zuständigkeitsfrage bezüglich dichterischer Texte. Im Grunde wird daher aus der Perspektive der "empirischen" Literaturwissenschaft eine Separierung von Zuständigkeiten überwunden, in deren Rahmen die für Textanalysen bzw. Interpretationen zu veranschlagende Eruierung sprachlicher Daten als ausschließlich sprachwissenschaftlich zu bewältigende Aufgabe betrachtet wird. Davon aber wird insbesondere in älteren Arbeiten ausgegangen, die an der aufkommenden Textlinguistik orientiert sind; vgl. zu einem solchen Ansatz Klein (1977, 17).

 

 

6.2.3. Exkurs: Weitere Positionen zu Interpretationsfragen

 

In diesem Abschnitt wird unter der Fragestellung, ob sich ggf. zusätzliche Aspekte gewinnen lassen, auf drei Arbeiten eingegangen, in denen Fragen der Interpretation ausführlich behandelt werden. Obwohl diesen Arbeiten teils substantielle Stellungnahmen zu Fragen der Interpetation zu entnehmen sind, haben sie gleichwohl - zumindest im Umkreis der Celan-Philologie - bislang ebenso wenig Beachtung gefunden die Ausführungen aus Schmidt (1980/1991).

 

 

(1)     Umberto Eco zum "Streit der Interpretationen":

 

Eco hat gleich in mehreren Schriften zu Interpretationsfragen Stellung genommen. Bezug genommen wird hier im wesentlichen auf den Titel "Streit der Interpretationen" (Eco 1987).

 

Was Eco dort zur Interpretation feststellt, findet sich im Wortlaut nahezu gleich, aber mit teils anderen Abschnittsüberschriften versehen, auch in "Die Grenzen der Interpretation", zuerst erschienen 1990, dann München 1992 und zuletzt 1995; zitiert als Eco (1995). Einige Ausführungen aus Eco (1987) überschneiden sich zudem mit Eco (1994). In "Grenzen der Interpretation" weist Eco darauf hin, daß die in dem Buch "gesammelten Aufsätze" bereits "in der zweiten Hälfte der achziger Jahre geschrieben" worden sind (vgl. Eco 1995, 17).

 

In der Einleitung zu Eco (1987) faßt Hans Robert Jauss dessen Position folgendermaßen zusammen:

 

"Dem interpretatorischen Fanatismus unserer Zeit, der Reduktion des Textes auf eine einzige Bedeutung einerseits und seiner Dispersion in willkürliche Interpretationen andererseits, setzt Eco das Ziel entgegen, eine Typologie der Zwischenpositionen zu erstellen und den Akt des Interpretierens aus der Dialektik von Form und Offenheit zu bestimmen: zum einen aus der rekonstruierten Intention des Textes, d.h. seinem aufgegebenen Sinn, und zum anderen aus der Einstellung des Adressaten, d.h. seiner kontextgebundenen, nicht nur willkürlichen Konkretisation im Wandel von Zeit und gesellschaftlicher Situation." (11)

 

Damit wird bereits deutlich, daß die Ausgangspunkte der Position Ecos ganz andere sind als die z.B. aus Schmidt (1980/1991). Das geht bereits aus dem Vorhaben Ecos hervor, Methoden der Interpretation systematisch zu erfassen und eine eigenständige Position zu gewinnen. Dazu denkt sich Eco die verschiedenen "Konzepte der Textinterpretation, die im Laufe der letzten Jahre vorgelegt worden sind", auf einer Achse angeordnet, deren Endpunkte einen "interpretatorischen Fanatismus repräsentieren" (Eco 1987, 15) bzw. "Beispiele für epistemologischen Fanatismus" (Eco 1995, 425) sind. Bevor Eco eine genauere Typologie von Interpretationen entwirft, erläutert er sehr ausführlich, wo noch heute vertretene Ansprüche der "richtigen" bzw. "guten" Interpretation ihren Ursprung haben: "Regeln für die 'gute' Interpretation lieferten die Türhüter der Orthodoxie und gewannen so den Kampf um die Etablierung der 'guten' Interpretation" (Eco 1987, 21); die "einzige Bedeutung" wird hier von einer "Interpretationsautorität garantiert" (vgl. 29).

 

Eco geht dazu auf die "Pansemiotische Metaphysik", auf "Biblische Interpretation", auf Thomas von Aquin, Dante sowie auf das "Hermetische Paradigma" ein. Eco belegt die beiden Extrempositionen zu Fragen der Interpretation (Suche nach der einen zutreffenden Bedeutung des Textes auf der einen, Zuschreibung vieler unbestimmter Bedeutungen auf der anderen Seite), indem er deren Genese aufzeigt. Die erste Position, welche auf die "vom Autor gemeinte Bedeutung" hinausläuft, sieht Eco in "Typen von Fundamentalismus" und verschiedenen Formen "von metaphysischem Realismus" vertreten. Die zweite Extremposition ist die, "daß die Texte bis ins Unendliche interpretiert werden können"; diese Position behandelt er unter dem so gefaßten Aspekt der "hermetischen Semiose" (vgl. Eco 1995, 425).

Für die hermeneutische Tradition der Bibelinterpretation treten insbesondere Probleme "der bedeutungstragenden Botschaft" hervor: "Die Schriften enthielten" so Eco, "jede mögliche Bedeutung, aber ihre Lektüre mußte durch einen Code geregelt werden, und aus diesem Grunde schlugen die Kirchenväter die Theorie der allegorischen Sinne vor". Wäre ein solcher "Code nicht zwingend notwendig gewesen", dann "würde die biblische Interpretation unseren modernen Interpretationsmethoden der Dekonstruktion, des Driftens, des Fehlverständnisses, der 'freien Lust' (jouissance) sehr ähnlich sehen". - Die Theorie "des vierfachen Bibelsinns" ("literal, allegorisch, moralisch und anagogisch"), so Eco, garantierte aber die "korrekte Decodierung der Heiligen Schrift" (Eco 1987, 20).

 

Eco verdeutlicht in dem Zusammenhang, daß für ihn "jeder Akt des Interpretierens aus der Dialektik von Offenheit und Form" besteht, "die sich aus der Einstellung des Interpreten und den kontextuellen Zwängen ergibt". Wenngleich man nicht bestimmen könne, welche Interpretationen "als 'gut' zu bezeichnen" sind, könne man doch "immer auf der Basis des Kontextes entscheiden, welche Interpretation nicht dem Versuch nach Verständnis 'dieses' Textes entspricht, sondern eher einer halluzinatorischen Reaktion des Adressaten" (Eco 1987, 29). Damit wird die Aufmerksamkeit auf einen auch in der Celan-Philologie immer wieder angesprochenen Streitpunkt gelenkt, nämlich in wiefern Interpretationen beim "fundamentum in re" (in der Redeweise Schmidts) ansetzen, oder bloße "Referenzrahmenbestätigung" suchen bzw. gar in freier Improvisation über Da-tenangebote bestehen. Des weiteren sei auf folgende Aspekte hingewiesen, durch welche sich die Ausführungen Ecos besonders auszeichnen:

 

- Im Zusammenhang mit dem "Paradigmenwechsel der letzten Jahrzehnte", und hier Bezug nehmend auf den adressatenbezogenen Ansatz (Rezeptionstheorie), bringt Eco im Rahmen seiner semiotischen Position Argumente vor, die durchaus tragfähig erscheinen. Er moniert vor allem, daß Kontextsensibilität und Orientierung an die Reaktion von Adressaten nicht nur auf dichterische Texte zu beziehen seien, sondern auf "jede Art von Phänomenen mit Verweisungscharakter, d. h. alltägliche sprachliche Äußerungen, visuelle Signale etc." (Eco 1987, 31). Um die "offene Art der Botschaften" zu betonen, wird nach Eco gerade textsortenübergreifend argumentiert:

 

"Ich insistiere auf diesem Punkt, weil in früherer Zeit ausschließlich künstlerische Texte herangezogen wurden, um die noch immer nicht anerkannte Unabschließbarkeit der Texte provozierend herauszustellen. [...]." (Eco 1987, 32).

 

Des weiteren argumentiert Eco "gegen einige Entartungen der sogenannten Wir-kungstheorie" und dafür, "daß eine Theorie der Interpretation - auch wenn sie davon ausgeht, daß Texte offen für multiple Lesarten sind - auch von der Möglichkeit ausgehen muß, einen Konsens zu erreichen" (Eco 1987, 32).

 

Mit den "Entartungen der sogenannten Wirkungstheorie" scheint etwas angesprochen zu werden, was gelegentlich auch in der Celan-Philologie problematisiert wird. So stellt Otto Pöggeler fest, die Rezeptionsästhetik werde manchmal "in jener seltsamen Form ernst genommen, daß man Leute fragt, was sie bei einem Gedicht Celans assoziieren" (Pöggeler 1986, 101).

Verwiesen sei auch auf die wohl einzige Monographie im Kontext der Celan-Philologie, in der nach dem kritisierten Verfahren vorgegangen wird: Bauer et al (1972). Von einer unzulänglichen theoretischen Basis ausgehend, zu der u.a. Enkodierungs- und Dekodierungsvorstellungen zählen, werden per Fragebögen schriftliche Befragungen zur "spontanen Rezeption" (freie Wortassoziationen) durchgeführt; Versuchspersonen sind 180 Schüler und Studenten (vgl. Bauer et al 1972, 25). Zur Diskussion um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Varianten der "empirischen Literaturwissenschaft" und der Rezeptionsästhetik sei auf Seger (1993) hingewiesen.

Weitere Kritikpunkte am "Trend" der Adressaten- und Leserorientiertheit (vgl. 34ff.) dienen Eco vor allem dazu, seine eigene frühere semiotische Position zu rechtfertigen; gegen das "Alles geht" wendet er ein, daß Texte "bestimmte strukturelle Strategien" enthalten, "die interpretative Entscheidungen ermutigen und evozieren" (vgl. Eco 1987, 36/37).

 

- Ganz ähnlich wie in anderen Darstellungen, so in Naumann (1995) und Steinmetz (1995), geraten neben kritischen Bezugnahmen auf die Rezeptionsästhetik auch in Eco (1987) vor allem noch Spielarten des Dekonstruktivismus in den Blick: "Jede Rede von der Freiheit der Interpretation muß mit einer Verteidigung des literalen Sinnes beginnen", stellt Eco in dem Abschnitt "Eine Apologie des literalen Sinnes" fest (Eco 1987, 39).

 

Eco vermerkt zu Derrida, er selbst "sympathisiere" zwar "mit dem Vorhaben, Lesarten zu erschließen"; es gelte aber, zunächst den "literalen Sinn" auszumachen (vgl. Eco 1987, 40-41). Kritik übt Eco vor allem daran, daß die Dekonstruktion "den Text auf ein mehrdeutiges Bündel ungestalter Möglichkeiten" reduziere: "So werden Texte zu reinen Stimuli für ein interpretatives Sichtreibenlassen." (vgl. 39). Wesentlich ausführlicher noch geht Eco unter dem Abschnitt "Hermetische Abdrift und unbegrenzte Semiose" (Eco 1995, 427ff.) auf den Dekonstruktivismus ein.

 

- Die Ausführungen aus Eco (1987) heben sich vor allem dadurch hervor, daß der Versuch unternommen wird, auf dem Wege der kreativen Schaffung terminologischer Differenzierungen zweifelhaften Werts Methoden der Interpretation zu klassifizieren.

Die unvermittelt zu Beginn des Abschnitts "Ein Netz kritischer Optionen" aus Eco (1987) gefaßte "Opposition zwischen der generativen Methode (derzufolge die Regeln der Textproduktion unabhängig von der Wirkung des Textes beschreibbar sind) und der interpretativen Methode" (Eco 1987, 37) läßt in Einzelheiten - abgesehen von der unglücklich und mißverständlichen Fassung dieser Differenzierungen; in Eco (1995, 35ff.) sind es "Intentionstypen" - eine klare Einordnung des damit Gemeinten nicht zu; vgl. zu den wenigen unklaren Bemerkungen dazu vor allem Eco (1987, 38f.).

 

Eco bringt die "Opposition" mit den drei "konträren Positionen" zusammen, welche in der "literaturkritischen Jahrhundertdebatte diskutiert wurden", nämlich: "intentio auctoris", "inten-tio operis" und "intentio lectoris" (vgl. Eco 1987, 37). Anschließend stellt er fest:

"Wenn man das Oppositionspaar Generierung/Interpretation mit der Dreiheit der Intentionen kreuzt, kann man sechs potentiell unterschiedliche Theorien und kritische Methoden erhalten." (37).

In Eco (1995) wird immerhin darauf hingewiesen, daß die "generative Methode" darin bestehe, den Text "in seinen angeblich objektiven Merkmalen" (Eco 1995, 36) zu betrachten. Gemeint ist mit der "interpretativen Methode" offenbar: Die Geltung des fundamentum in re (Berücksichtigung sprachlicher Daten einer Kommunikatbasis) kann - in jeweiligen Interpretationstheorien - einmal mit, ein andermal nicht mit der Autorintention, oder aber mit der freien Improvisation (qua "intentio lectoris") korrelieren.

 

Als zentrale Partien aus Eco (1987) können die Ausführungen zu "Zwei Ebenen der Interpretation" (und die sich daran anschließenden Abschnitte) angesehen werden. In Eco (1995) sind die gleichen Ausführungen gefaßt als "Semantischer Leser und kritischer Leser" (Eco 1995, 43-46), haben aber den Vorzug, sich einigermaßen klar einordnen zu lassen. Bevor Eco das Problem der Interpretation weiter erörtert, stellt er fest, es sei folgende "terminologische Frage" zu klären:

 

"Wir müssen unterscheiden zwischen der semantischen und der kritischen Interpretation (oder, falls man es vorzieht, zwischen einer semiosischen und semiotischen Interpretation). Semantische Interpretation ist das Resultat eines Vorgangs, bei dem der Adressat den linear manifestierten Text mit einer gegebenen Bedeutung ausfüllt. Jede Antwort orientierte Methode handelt zunächst vor allem von diesem Typ der Interpretation, die ein natürliches semiosisches Phänomen ist. Im Gegensatz dazu ist kritische Interpretation eine metalinguistische Aktivität - ein semiotischer Ansatz -, die darauf abzielt, die formalen Fründe zu beschreiben und zu erklären, aus denen ein gegebener Text eine gegebene Antwort produziert (und in diesem Sinne kann die Interpretation auch die Form einer ästhetischen Analyse annehmen)." (Eco 1987, 41).

 

Abgesehen von der eigentümlichen Terminologie scheinen sich die terminologischen Differenzierungen Ecos (wenngleich sie mit diesen nicht zur Deckung gebracht werden können) relativ zu den getroffenen Unterscheidungen von (unproblematisch sich einstellendem) Verstehen und Interpretieren (qua Text-ausleger) sowie bodenständiger Interpretation - aufgrund "semiotischer Kompetenz" nach Keller oder "allgemeiner Intelligenz" nach Putnam - und Textinterpretation bzw. L-Interpretation deuten zu lassen: Es handelt sich bei der "semantischen" bzw. "semiosischen" Interpretation im wesentlichen um das sich bei bodenständiger "Interpretation" (in Anschluß an Keller, aber auch Putnam) unproblematisch einstellende Verstehen. Die "metalinguistische Aktivität" bzw. "kritische" oder auch "semiotische" Interpretation scheint mit der "Inter-pretation" in dem unter 5.3.3.2. dargelegten Sinne übereinzukommen. Dort wur-de bereits im Anschluß an Heringer (1979) darauf hingewiesen, daß für die Einschätzung des Verhältnisses von Verstehen und Interpretieren für letztere nicht unbedingt die Einnahme eines externen Beobachterstandpunkts ausschlaggebend ist. Für eine solche "Interpretation" der Ausführungen aus Eco (1987) sprechen im wesentlichen die Beispiele, welche Eco anführt.

 

Zu den Satzäußerungen "Gib mir diese Flasche" und "Die Katze sitzt auf der Matte" stellt Eco fest:

"Gewöhnliche Sätze (wie sie der Laie äußert: 'Gib mir diese Flasche' oder 'Die Katze sitzt auf der Matte') erwarten nur eine semantische Antwort. Im Gegensatz dazu setzen ästhetische Texte oder Sätze wie 'Die Katze sitzt auf der Matte', wenn sie von einem Linguisten als Beispiel einer möglichen semantischen Vieldeutigkeit geäußert werden, auch einen kritischen Interpreten voraus." (Eco 1987, 41).

Die "semantische Antwort" entspricht der aus Keller (1995) abgeleiteten "bodenständige Interpretation", welche nicht erst für Texte, sondern bereits für einzelne sprachliche Ausdrücke zu veranschlagen ist; sowohl für Worteinheiten, als auch bei der Rezeption von Satzäußerungen stellt sich ein Verstehen unproblematisch ein. Eine andere, darüber hinausgehende Reflexionsstufe wird mit der "kritischen Interpretation" beschritten; diese besteht für entsprechende Satzäußerungen (auf Worteinheiten ist dies in keinem Fall beziehbar!) darin, sie zu "interpretieren" (im Sinne von Textinterpretation bzw. L-Interpretation).

Darüber hinaus markiert die Annahme Ecos eines "Modell-Leser", den ein Text "entwirft" - neben der hypostasierten Leistung eines "Textes" und dem lockeren Umgang mit Ausdrücken wie semantisch, metalinguistisch, Textaussage - die Nicht-Vergleichbarkeit mit denjenigen Ansätzen, die im vorausgehenden und diesem Kapitel vorliegender Arbeit der Orientierung dienen. Die Ausführungen dazu, daß "viele Texte zwei Modell-Leser produzieren wollen", nämlich einen "naiven, der semantisch verstehen soll" und einem "kritischen Leser", der theoretische Erklärungen abgeben kann (vgl. Eco 1987, 41), sind in gleicher Weise wie zuvor die "semantische" und "kritische" Interpretation deutbar: Für den "naiven Leser" ist unproblematisch sich einstellendes Verstehen sowie bodenständiges Interpretieren zu veranschlagen, dem "kritischen Leser" das auf dem Wege der Textinterpretation bzw. L-Interpretation zustande kommende Verstehen zuzuordnen.

 

Schließlich kommen im Anschluß an Rorty (1982) weitere Aspekte ins Spiel. Hingewiesen sei lediglich darauf, daß es Eco mit Rorty für "annehmbar" hält, eine "Opposition zwischen kritischer Interpretation und dem bloßen Gebrauch eines Textes" anzusetzen:

 

"Einen Text kritisch zu interpretieren heißt, ihn in der Absicht zu lesen, im Vollzug der eigenen Reaktionen auf ihn etwas über seine Natur zu entdecken. Einen Text zu gebrauchen heißt hingegen, mit einem Stimulus zu beginnen, der auf weiteres abzielt, und dabei das Risiko zu akzeptieren, den Text vom semantischen Gedichtspunkt aus fehlzuverstehen. Wenn ich aus einer Bibel Seiten herausreiße, um meinen Pfeifentabak einzupacken, dann gebrauche ich diese Bibel, aber es wäre gewagt, mich einen Textualisten zu nennen - obwohl ich, wenn schon kein starker Pragmatiker, sicherlich eine sehr pragmatische Person bin." (Eco 1987, 43).

 

Es geht hier um den "Fehlleser" nach Rorty; dieser "benutzt den Text, um etwas zu erfahren, was außerhalb des Textes steht [...]". "Fehlleser" sind "an jedem möglichen Text interessiert mit Ausnahme desjenigen, den sie gerade lesen" (Eco 1987, 43). Damit werden gleich mehrere Befunde angesprochen, für welche mit der sprachtheoretischen Grundorientierung und der Einordnung texttheoretischer Fragen im Anschluß an Schmidt (1980/1991) Einordnungsinstanzen zur Verfügung stehen: Die "kritische" Interpretation scheint zu der Kommunikatverbalisierung nach Schmidt in Beziehung gesetzt werden können; zudem dürfte die Redeweise vom "Gebrauch eines Textes" zum einen gegen die auch aus der Celan-Philologie bekannte Referenzrahmenbestätigung gerichtet sein wie gegen abstruse Varianten freier Improvisation über Kommunikatbasen (vgl. "Fehlleser" nach Rorty). Die - möglicherweise (polemisch) überzogene - Ausdeutung einer solchen Praxis durch Eco verweist allerdings in eine ganz andere Richtung, nämlich die der nicht-usuellen Verwendung einer Kommunikatbasis bzw. des entsprechenden Datenträgers.

Des weiteren wird die Problematik des Ansatzes von Eco mit Blick auf die Abschnitte "Interpretation und Konjektur" (Eco 1987, 45-46) sowie "Die Falsifizierbarkeit von Fehlinterpretationen" (vgl. 46-48) zusätzlich deutlich. Erkennbar ist - im ständigen Bemühen darum, in einem kreativen Gewaltakt terminologische Prägungen zu schaffen - das Kreisen um den Versuch, "eine dialektische Verbindung zwischen der intentio operis und intentio lectoris" zu "halten". Die durch den "Modell-Leser" geleistete Konstruktion eines "Modell-Autors" fällt nach vielen argumentativen Umwegen "mit der Intention des Textes zusammen". (Eco 1987, 45).

 

 

(2)     George Steiner zur Interpretation:

 

Steiner hat in der Arbeit mit dem Titel "Von realer Gegenwart" (Steiner 1990) durchweg kritisch zur Rolle von Interpretationen Stellung genommen. Für Steiner ist die Interpretation "ein aktiv umgesetzter Verstehensprozeß; er hat die Unmittelbarkeit einer Übersetzung" (19). Steiner geht von "drei grundlegenden Bedeutungen des Wortes 'Interpretation'" aus:

 

"Ein Interpret entziffert und vermittelt Bedeutungen. Er ist ein Übersetzer zwischen Sprachen, zwischen Kulturen und zwischen Konventionen der Umsetzung. Er ist seinem Wesen nach ein Ausführender, einer der das vorliegende Material 'als Aufführung darbietet', um es mit nachvollziehbarem Leben zu erfüllen. Daher die dritte Hauptbedeutung von 'Interpretation'. Ein Schauspieler interpretiert Agamemnon oder Ophelia. Ein Tänzer interpretiert Balanchines Choreographie. Ein Geiger eine Partita von Bach." (Steiner 1990, 18-19).

 

Bei Steiner steht im Zentrum der Ausführungen die Klage über "das Sekundäre und Parasitäre" der gesellschaftlichen Rolle von Interpretationen: "In den Geisteswissenschaften sind kollektive Formulierungen nahezu ausnahmslos trivial"; der "Erkenntnisprozeß", so Steiner, "birgt" hier gewöhnlich nicht "die Möglichkeiten von kumulativer Einsicht und Selbstkorrektur" (56); die Literaturwissenschaft ist "das Mekka des sekundären Diskurses" (53):

 

"Ein Gesumm aus ästhetischen Kommentaren, aus ad-hoc-Urteilen, aus vorgefertigten Weiheformeln erfüllt die Luft. [...] Allein auf der Ebene akademisch-kritischer Interpretation und Wertung spottet das Volumen des sekundären Diskurses jeglicher Inventarisierung. [...] Die Masse an Büchern und kritischen Essays, an gelehrten Artikeln, an acta und Dissertationen, die jeden Tag in Europa und den Vereinigten Staaten produziert wird, hat die dumpfe Wucht einer Flutwelle." (Steiner 1990, 40-41).

Klagen dieser Art sind leicht zu haben und werden auch von anderen immer wieder wortgewaltig gefaßt. So stellt z.B. Ludger Lütkehaus fest, der "hermeneutische Zirkel" sei in den Geisteswissenschaften "längst in die rasende Rotation hermeneutischer Karusselle übergegangen" mit bloßem "Fortschritt in der Fußnotenproduktion" (Ludger Lütkehaus unter dem Titel "Unfröhliche Wissenschaft" in: Die Zeit Nr. 42. 15. Okt. 1993, S. 56).

 

Steiner hat ähnlich wie Eco (vgl. z.B. Eco 1995, 29ff. unter "Archäologie") den gegenwärtigen Zustand von Interpretationsbemühungen in historische Zusammenhänge gestellt. Für den Status quo ist ihm kennzeichnend, daß die Kommentierung "niemals zu einem Ende" kommt; die "Mechanik der Unaufhörlichkeit" ist für ihn "die der Schwärme der Wanderheuschrecke" (Steiner 1990, 60).

 

Die "rabbinische Antwort auf das Dilemma endlosen Kommentars" ist nach Steiner "eine moralischen Handelns und erleuchteter Lebensführung". Qua "Erhellung und Konjektur" werden die alten Texte neuen Handlungsbedürfnissen angepaßt (vgl. 63; vgl. auch Eco 1987, 20 zur biblischen Interpretation im Sinne des "non nova sed nove"). "Dem Kabbalisten" hingegen geht es, so Steiner, "nicht darum, verstehen in Handlung umzusetzen", sondern um letztendliche Erleuchtung. Er sucht Urgestein" (63).

 

Steiner geht im Zusammenhang mit der Thora-Exegese auf den gleichen Aspekt ein wie Eco, nämlich darauf, wie man "die krebsartige Vermehrung von Interpretationen und Neuinterpretationen zum Stillstand bringen" könne.

 

Es sind die gleichen Ausgangspunkte ("gesetzgeberische Dekrete" im Mittelalter, die "Summa des Thomas von Aquin" u.a.m.) wie in den Arbeiten Ecos, die Steiner feststellen lassen, daß sich "das Dogma als hermeneutische Punktsetzung definieren" läßt, nämlich "als die Verkündigung eines semantischen Abschlusses" (Steiner 1990, 66). Die Interpretation bzw. die "Neuinterpretation" hat relativ zur Festschreibung von Sinn häretischen Charakter: "Die Häresie verwirft exegetische Endlichkeit" (67). Hinzugefügt sei, daß Steiner mit Eco auch die scharfe Verurteilung des Dekonstruktivismus teilt, wenn er unter anderem den "abstoßenden Jargon" und "ausgemachten Obskurantismus" (156) ihrer Vertreter geißelt und feststellt, die "dekonstruktivistische Semiotik" häufe "vielfach spielerisch Dreck auf den Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit" (198; vgl. vor allem dazu 157-171). Für weitere deutliche Parallelen zwischen Eco und Steiner sei auf die Erörterung zu "Fehldeutungen" und das "Dogma", es gebe "keine verbindliche Nachvollziehbarkeit“ (vgl. Steiner 1990, 168-174) hingewiesen.

 

Schließlich wird in Steiner (1990) die Frage angesprochen: "Worum handelt es sich also bei sogenannten 'Theorien der Interpretation', 'Theorien der Kritik'? Worum handelt es sich bei diesen stolzen Phantomen, die allgemein akzeptierte Rezeption geschaffener Form heutzutage nicht nur heimsuchen, sondern dominieren?" (Steiner 1990, 107).

Die Antwort Steiners fällt gewählt aus und wird nach einigen Umwegen gegeben (Einordnung in die Geschichte der Ästhetik; Bezugnahme auf Versuche aus der Semiotik, Bedeutungen zu "formalisieren"; Hinweise auf die Unfruchtbarkeit, die experimentelle Wirkung von Gedichten zu untersuchen; vgl. 108-118). Die Antwort besteht in der Feststellung, daß man dasjenige, was die "große Suggestivkraft in hermeneutisch-kritischem Diskurs von Aristoteles bis in die Gegenwart hinein hat, nicht als 'Theorien des Bedeutens' oder 'Theorien des Urteilens' ansehen" könne:

 

"Wo sie ganz auf der Höhe sind, handelt es sich bei diesen umkreisenden Akten der Argumentation um Erzählakte. Was sie in mehr oder weniger abstrakter, in mehr oder weniger formal folgerichtiger und systematischer Verkleidung wiedergeben, sind Momente der Begegnung zwischen Erkenntnisvermögen und geschaffener Form, einer Begegnung, deren Quelle, deren erster Sprung ins Blickfeld immer intuitiv ist." (Steiner 1990, 118).

 

Es sind dies, wie Steiner feststellt, "Erzählungen über die Erfahrung von Form". Denn sie "erzählen Geschichten des Denkens". Und er fügt hinzu, daß wir auch "bestimmte Techniken der Erläuterung als dramatisierte Mythen oder Mythologien der Erkenntnis ansehen" können, "als Fabeln, die vom Verstehen handeln". Erzählungen und Mythen aber sind "dichterische Genres": "Es sind keine Theorien" (Steiner 1990, 119). Eine solche Beurteilung des Status von Interpretationen steht im krassen Widerspruch etwa zu den Ausführungen aus Naumann (1995), wonach Interpretationen "Systeme wissenschaftlicher Aussagen" (Naumann 1995, 469) sind. Sie trifft sich mit der Einschätzung Schmidts zu einer Teilmenge von (auf dichterische Kommunikatbasen gerichteten) Verarbeitungstexten, die selbst als dichterische Texte erfaßt werden können (vgl. Schmidt 1980/1991, 372). Insgesamt lassen die Ausführungen Steiners eine zutiefst skeptische Grundhaltung erkennen. Denn er geht davon aus, daß auch dasjenige, was "in mehr oder weniger abstrakter, in mehr oder weniger formal folgerichtiger und systematischer Verkleidung" präsentiert werde, als "Begeg-nung zwischen Erkenntnisvermögen und geschaffener Form" eine "Erzählung" sei (Steiner 1990, 118; vgl. auch 280). Steiner bringt hier offenbar nur seine - durchaus berechtigte - Aversion gegen pseudowissenschaftliche Formalisierung und Systematisierung zum Ausdruck. Daraus kann eigentlich nur abgeleitet werden, daß sich mögliche Interpretationen, die sich z.B. an den in Naumann (1995) prospektiv entworfenen Postulaten der Wissenschaftlichkeit orientie-
ren wollen, ebenso wie Analyseergebnisse, welche an den elaborierten "Kom-munikatprotokollen" aus Schmidt (1980/1991) ausgerichtet sind, dafür Sorge tragen müssen, nicht als "Erzählungen und Mythen" gelten zu können.

Auf die Frage einer Verfahrensweise, welche die erkannten Defizite zu über-winden in der Lage wäre, ist aus Steiner (1990) keine konkrete Antwort zu erhalten. Erläutert wird immerhin, der "erste Schritt in der Philologie" sei die lexikalische "cortesia", das, "was uns in den großen Wörterbüchern verweilen läßt" (Steiner 1990, 208). Aber dieser Schritt schützt ja nicht vor dem, was Steiner als "Verwässerung" und "Trivialisierung des Begriffes von Forschung in der Geisteswissenschaft und die Herrschaft des Parasitären" (vgl. 55) bezeichnet. Und auch die "zweite Stufe philologischer Rezeption" bietet keine Gewähr dafür, daß nun die erkannten Mängel behoben werden, nämlich "Feingefühl für die Syntax, für die Grammatik, die den Lebensnerv artikulierter Gebilde ausmacht" (209). Ein solches "Feingefühl" ließe sich für die traditionell zu den unter "Interpretation" gefaßten Teilaktivitäten von Textauslegern in Anspruch nehmen, die aus anderer Beobachterperspektive als bloße "Erzählungen über die Erfahrung von Form" gedeutet werden könnten. Es mangelt folglich in Steiner (1990) an praktikablen Vorstellungen einer glaubwürdigen, plausiblen und vor allem sprachwissenschaftlich fundierten Konzeption. Was lediglich als gutgemeintes Remedium (einschließlich der "Ehrfurcht der Wahrnehmung" und der "Ziemlichkeit des Verstehens"; vgl. 198-199) angeführt wird, mündet in dem, was schon Peter Szondi praktiziert hat und woran offenbar auch Umberto Eco gedacht hat (vgl. Eco 1987, 36), nämlich: "Roman Jakobsons Diktum behält seine Geltung: die Poesie der Grammatik ist die Grammatik der Poesie" (Steiner 1990, 213).

 

 

(3)     Dietrich Busse zur "Textinterpretation":

 

Ausgangspunkt ist in Busse (1992) die Abgrenzung des Verstehens ("sich intuitiv vollziehender Vorgang") vom Interpretieren "als einer aktiven Auseinandersetzung mit einem Text". Interpretieren gilt Busse als eine "Form der intersubjektiven Vergegenwärtigung über Textbedeutungen" (Busse 1992, 183) bzw. als "eigenständige, nicht auf Verstehen reduzierbare Handlungsform":

 

"Dabei wäre es eine Verkürzung des Begriffs 'Interpretieren', wenn man es als lediglich kontemplatives Sich-Zurücklehnen gegenüber dem Text auffassen würde, wie es oft in literaturwissenschaftlichen Rezeptionstheorien geschieht. Interpretieren ist vielmehr, wie vor allem Biere herausgearbeitet hat, selbst wieder eine eigene (sprachliche) Handlung, die zudem wieder neue Texte hervorbringt." (Busse 1992, 187).

 

Abgesehen davon, daß auch im Rahmen vorliegender Arbeit (vgl. die Ausführungen unter 5.3.3.2.) an die Unterscheidung von Verstehen und Interpretieren angeschlossen wird, erscheint zunächst die Bezugnahme auf Interpretieren als "Handlungsform" bzw. als "eine eigene (sprachliche) Handlung" als wenig präzise. Unter Verweis auch auf Schmidt (1980/1991, 334) ist vielmehr von ganz unterschiedlichen (mündlichen und schriftlichen) Aktivitäten auszugehen, die sich aus Beobachterperspektive als Handlungen der oder jener Art sprachlich zu dem schlechtbestimmten Ausdruck Interpretieren zusammenfassen lassen, indem die Teilaktivitäten jeweiligen Handlungstypen zugerechnet werden. Textinterpretation bzw. L-Interpretieren umfaßt heterogene Verarbeitungshandlungen.

 

Dies läßt sich folgendermaßen verdeutlichen: Aus Beobachterperspektive sind entsprechende Aktivitäten eines Interpreten zunächst sprachlich faßbar als "Er findet die Stelle A in dem Gedicht schön, denn er stellt fest, daß ...", "Er geht auf das Leben des Dichters ein, wenn er ins Spiel bringt, daß ...". Als Handlung der und der Art werden entsprechende Aktivitäten dadurch qualifiziert, daß sie entsprechenden Handlungstypen, hier BEWERTEN oder BIOGRAPHISCHE DATEN INS SPIEL BRINGEN, zugeordnet werden.

Die Menge heterogener (auf diese Weise zuschreibbarer) Handlungen macht als "Verarbeitungshandlungen" das aus, was unter Textinterpretation bzw. hier L-Interpretation zu fassen ist.

 

Busse hat in seinem Beitrag dem Verstehen und dem (davon abgehobenen) Interpretieren eine "dritte Spielart des Sich-Einlassens auf Texte" zur Seite gestellt, nämlich die "Arbeit mit Texten". Dieser Aspekt wird in Auseinandersetzung mit dem "Umgang mit Texten" nach Scherner (1984) gewonnen (vgl. Busse 1992, 187).

Busse stellt den Zusammenhang zu seinem neuen dritten Aspekt folgendermaßen her: Die "interpretative Distanz zum auszulegenden Text" ermögliche eine "Hinzuziehung weiterer Materialien, welche das für die Textinterpretation notwendige Wissen erweitern können". Dazu zählt die Einbeziehung "anderer, mit dem vorgegebenen Text thematisch zusammenhängender Texte". Und eine "solche Bezugnahme braucht von der vorgegebenen Textmaterialität des Ausgangstextes nicht gefordert zu sein", wie sie normalerweise "über die erinnernde Aktivierung von Wissensbeständen beim Rezipienten" erfolgt:

 

"Wenn die Ebene der 'erinnernden Aktivierung' überschritten wird und eine aktive Hinzuziehung anderer, mit dem Ausgangstext nicht als Ko-Text verknüpfter Texte stattfindet, dann ist möglicherweise die Ebene eines bloßen 'Interpretierens' als eines 'besser-verständlich-Machens' verlassen, und diese Form des 'Umgangs mit Texten' weiterentwickelt worden zu einer 'Arbeit mit Texten', welche nach ihren Zielen und Arbeitsweisen näher zu spezifizieren wäre." (Busse 1992, 189).

 

Busse sieht ein solches "aktives In-Beziehung-Setzen von Texten zu einem Ursprungstext" besonders "in der juristischen Gesetzesauslegung" verwirklicht, aber auch im Bereich der "theologischen Bibelexegese" (vgl. 190). Er setzt also die "Arbeit mit Texten" dort an, wo institutionell bedingt auf "außersprachliche Konsequenzen" (Rechtsentscheidungen, "Handlungsanleitungen" etc.) gezielt wird, es also nicht um das bloße "Verständlich-Machen" geht.

 

In der juristischen Gesetzesauslegung bringen "Kommentartexte und richtungsweisende Urteilstexte erst das an konkreter Sinnerfüllung" [...], was anhand des Gesetzestextes allenfalls vermutet, nicht jedoch mit juristisch abgesicherter Gewißheit behauptet werden kann" (189). Auch "im theologischen Alltag" geht es, so Busse, "nicht so sehr darum, einen vorliegenden Text 'verständlich zu machen' (im Sinne eines alltäglichen Begriffs von Verständlichkeit), sondern darum, den Text so zu interpretieren, daß durch die festgestellte Interpretation seien es Handlungsanleitungen, seien es religiöse Erklärungen für Geschehnisse, Ergebnisse [...] gewonnen werden können, die innerhalb der sozialen Funktion der Institution Religion die ihnen jeweils zugedachte Rolle ausfüllen können" (192).

 

Den ersten Unterschied zum "rein verständnis-orientierten Interpretieren" sieht Busse mit Blick auf Bibelexegese und juristische "Entscheidungstätigkeit" in der Orientierung auf "Handlungsziele", "welche den Begriff der 'Sprachhandlung' möglicherweise sprengen [...]" (192). Ein "zweiter Unterschied der Arbeit mit Texten zum Interpretieren als Verständlich-Machen" liegt nach Busse in der Art und Weise, "wie zusätzliches Wissen aktiviert wird" (193); bei der Arbeit mit Texten wird, so Busse, nämlich der "Zusammenhang zwischen verschiedenen Ausgangstexten" als "Basis für weitere Folgehandlungen (z.b. richterliches Entscheiden)" (193) genommen.

Zunächst stellt sich die Frage, ob diese textsortenübergreifende Argumentation auch für die L-Interpretation greift. Busse erkennt, daß eine Ausgrenzung der "Arbeit mit Texten" insofern "nicht einfach" ist, da auch literaturwissenschaftliche Interpretationen "häufig zusätzliche Texte zur Erweiterung der Wissensbasis" heranziehen; gleichwohl stellt er fest:

 

"Doch sind auch solche Interpretationsformen als Formen der Arbeit mit Texten nicht auf ein Interpretieren im Sinne eines Verständlich-Machens reduzierbar, da mit ihnen weiterführende Ziele verfolgt werden. Dem Literaturwissenschaftler, der z.B. eine psychoanalytische Textinterpretation versucht, geht es nicht allein um Verständlich-Machen; vielmehr ist seine 'Interpretation' selbst Teil eines eigenen Sprachspiels, z.B. des wissenschaftlichen Diskurses, und dient damit Zielen, welche über das pure 'besser verstehen' hinausgehen; ähnlich in der Theologie, wo die Textarbeit in Zusammenhang mit einem weitergehenden religiösen Lehrauftrag steht, also der Vertiefung und Weiterverbreitung des Glaubens dient. Es gibt also 'Arbeit mit Texten', welche über 'Interpretation' hinausgeht, in verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsbereichen." (Busse 1992, 193).

 

Die Begründung einer Sonderrolle der "Arbeit mit Texten" erscheint zumindest mit Blick auf die L-Interpretation als wenig plausibel: Erstens zählt der Rückgriff auf ganz unterschiedliches Fachwissen zur gängigen Praxis der unter L-Interpretation subsumierbaren Verarbeitungshandlungen (vgl. dazu Schmidt 1980/1991 sowie Stückrath 1995). Um ein eigenständiges Sprachspiel "wissen-schaftlichen Diskurses" handelt es sich dabei nicht, sondern um Aktivitäten, welche dem Handlungstyp INTERTEXTUALITÄT HERSTELLEN im Rahmen von L-Interpretationen zuzuordnen sind. Diese Fehleinschätzung ist in Busse (1992) auf die Orientierung an einem Interpretations-Stereotyp zurückzuführen, dem entsprechend die L-Interpretation als bloße "erinnernde Aktivierung" bzw. als "lediglich kontemplatives Sich-Zurücklehnen gegenüber dem Text" (vgl. 187) in den Blick gerät. Erst die verkürzte Erfassung der für L-Interpretationen in Frage kommenden Verarbeitungshandlungen ermöglicht in Busse (1992) die Herausfilterung gewisser Aktivitäten, welche als "Arbeit mit Texten" zur L-In-terpretation in Konkurrenz treten.

Zweitens setzen die Differenzierungsbemühungen aus Busse (1992) durchaus an einem nicht unwesentlichen Punkt an: Gerade unter textsortenübergreifender Perspektive wird der ohnehin schlechtbestimmte Ausdruck Interpretation im Sinne eines "Verständlich-Machens" problematisch, weil für Texte, in denen die Geltung der Tatsachen-Konvention von derjenigen der Ästhetik-Konvention überformt wird, von anderen Voraussetzungen auszugehen ist als z.B. für juristische Texte. Mit Blick auf juristische und andere fachliche Texte erfaßt man die darauf gerichtete Klärungsabsicht als sachbezogene Auseinandersetzung, weshalb die sprachreflexive Bezugnahme auf entsprechende Aktivitäten als "Interpretation" (bzw. "Textinterpretation") gewöhnlich gegen die einer "Ausle-gung" ausgespielt wird: Gesetze (so das Bafög-Gesetz) werden - im Sprachgebrauch dieses Bereichs institutioneller Kommunikation - nicht "interpretiert", sondern ggf. unter Rückgriff auf andere Texte "ausgelegt". Professionalität und Beachtung festgelegter Spielregeln sichert die Auslegungspraxis gegen die ver-meintliche Beliebigkeit individueller "Interpretation". Auf der Folie eines auf Tatsachen-Konvention gründenden Zugangs zu juristischen Texten sind im Rahmen des juristischen Kommunikationsbereiches deshalb Interpretationsspielräume nur dort berücksichtigt, wo sie intentional eingesetzt werden, um eine Anpassung an sich wandelnde gesellschaftliche Bedürfnisse zu gewährleisten.

 

Bezeichnenderweise kommt in den Ausführungen von Busse diesbezüglich jene juristische und theologische "Dogmatik" ins Spiel (vgl. Busse 1992, 193), auf welche auch in Eco (1987, 29) abgehoben wird: Wo auf den Wortlaut gesetzt wird, gelten Bedeutungen als wohlbestimmt. Man wird deshalb dort, wo die Tatsachen-Konvention gilt (wie z.B. in juristischen Texten), "Auslegung" gegen die "Interpretation" setzen, da Interpretation beinhaltet, es könnte eine Kommunikatbasis auch anders interpretiert werden. In Kommunikationsbereichen, in denen der Wortlaut gar per "Verbalinspiration" eingegeben ist (vgl. hierzu auch Eco zur "fundamentalistischen Position"), gibt es nichts zu "interpretieren", weil die Bedeutung längst festliegt.

 

Zurückzuführen scheint die Distanzierung von der Interpretation, die sich in Busse (1992) im Ansetzen einer "dritten Spielart des Sich-Einlassens auf Texte" ("Arbeit mit Texten") äußert, im wesentlichen darauf zu sein, daß mit dem Ausdruck Interpretation prototypisch freizügige und individuenspezifisch willkürliche Auslegungspraxis assoziiert wird, wie man sie mit Blick insbesondere auf dichterische Texte in Anspruch nimmt. Entkommen würde der Einschätzung hierzu zu veranschlagender Aktivitäten als "Interpretation" aber auch dadurch nicht, wenn statt "Arbeit mit Texten" der Ausdruck Textauslegung gewählt worden wäre. Am ehesten ließe sich die "Arbeit mit Texten" auf verschiedene Aktivitäten z.B. im Rahmen des schulischen Sachunterrichts beziehen (worauf sie auch längst bezogen wird). Mit Blick auf die L-Interpretation zählen die der "Arbeit mit Texten" zuzurechnenden Aktivitäten zu den Verarbeitungshandlungen; teils lassen sie sich darüberhinaus auch als "Textvermittlungshandlungen" im Sinne von Schmidt (1980/1991, 272ff.) deuten.

 

 

6.2.4. Stellungnahmen aus der Celan-Philologie

 

In nahezu sämtlichen Stellungnahmen zu Fragen der Interpretation wird in der Celan-Philologie selbst an beiläufigste (mündlich bezeugte) Äußerungen Celans angeschlossen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die Frage nach Umfang und Art des zur Erlangung eines Verständnisses vorauszusetzenden Wissens; vgl. dazu 6.3.2. Zu den verschiedenen Analysen seiner Gedichte hat sich Celan durchweg kritisch geäußert: Am bekanntesten ist die Antwort auf eine Anfrage von Walter Jens (Brief vom 19.05.1961) hinsichtlich der literarischen Vorbilder für verschiedene Motive aus der TODESFUGE. Dazu stellte Celan fest: "Das 'Grab in der Luft' - lieber Walter Jens, das ist, in diesem Gedicht, weiß Gott weder Entlehnung noch Metapher." In dem Zusammenhang soll Celan auf das Archetypische manch seiner Motive hingewiesen haben (vgl. dazu Wiedemann-Wolf 1985, 85). Daß Celan ungern auf Deutungsfragen eingegangen ist und auf entsprechende Anfragen mit hintergründigem Humor reagiert hat, bezeugt insbesondere auch Gerhart Baumann:

 

"Er zeigte sich noch von der unverfänglichsten Vermutung betroffen und begegnete jeder ironisch oder sogar mit einer Finte, die vollends und vorsätzlich in das Abseitige führen sollte. Zuweilen auch zog er sich hinter den Vorhang von schwarzem Humor zurück." (Baumann 1986/1992, 116).

 

Konietzny hält es für sinnvoll, "den Humor bei Celan zu untersuchen bzw. überhaupt erst zu konstatieren" (Konietzny 1985, 197, Anm. 4). Dies kann als nicht unbedeutender Ansatzpunkt für die Einschätzung nicht nur der mündlich bezeugten Äußerungen Celans gelten. Denn den überaus ernsthaft bis verbissen vorgetragenen und zu äußerster Tiefsinnigkeit geführten Interpretationsversuchen ("Hermetik", "Verstummen", "Sprachmagie" und "alogische Dichtung") scheint nicht nur das sprachspielerische Element in seinem Werk entgegenzustehen, sondern auch die ganz witzig bis ironisch und gleichermaßen scharfsinnig vorgetragene Kritik an interpretatorische Einlassungen gewisser Interpreten, welche deutlich mentalitätsbedingt (Herkunft aus dem rumänisch-deutschen Raum) geprägt zu sein scheint. Sachlich begründete Kritik Celans an Interpretationen wird von Beda Allemann bezeugt: Celan sah, so Allemann, die Gefahr, daß das Gedicht "einem Gespinst von Schlagworten zum Opfer fallen könnte, mit denen man seiner habhaft zu werden glaubte"; er habe sich "gegen den Chor der Nachsprecher" primärer (d.h. zuerst geleisteter) Analysen geäußert; Celan "verachtete", so Allemann, "das Gerede über Lyrik" (Allemann 1970, 267). Nach Felstiner hat Celan nur einmal zu Interpretationsfragen Rede und Antwort gestanden. Zu Passagen aus ENGFÜHRUNG (I/195) - "Orkane. / Orkane, von je, / [...]“ - stellt Felstiner, unter Bezugnahme auf die "Erinnerung an Paul Celan" von Hans Mayer (aus: Merkur 24. 1970), fest:

 

"Diese Stelle verdichtet derartig versteckt Quellen, daß Celan (dieses eine Mal) Literaturwissenschaftlern Informationen darüber gab. [...]." (Felstiner 1997, 167).

 

Im Rahmen der von jeweiligen Celan-Interpreten durchgeführten Interpretation bzw "Arbeit mit Texten" (nach Busse) werden Fragen zum Status von Interpretationen nur relativ selten thematisiert. Die Fragestellung der dazu berücksichtigten Stellungnahmen läßt sich mit Pausch so fassen: "Was 'eigentlich' mit diesen Texten tun?" (Pausch 1981, 33). Übergangen werden nachfolgend solche Arbeiten bzw. Passagen aus Arbeiten, in denen lediglich auf Unzulänglichkeiten konkurrierender Interpretationsansätze eingegangen wird; vgl dazu die Ausführungen unter 2.3.3. Profilierte Äußerungen zu Interpretationsfragen einschließlich konkreter Vorschläge zur Vorgehensweise sind im wesentlichen folgenden Arbeiten zu entnehmen: Menninghaus (1980), Civikov (1984), Konietzny (1985), Lyon (1993) und Glenn/Petuchowski (1993).

 

 

(1)     Winfried Menninghaus zur "primären Bedeutungsanalyse" und zur "zweiten Semantik":

 

Menninghaus schließt an die Zeilen "Mach den Ort aus, machs Wort aus. / Lösch. Miß" aus dem Gedicht mit dem Titel DEINE AUGEN IM ARM (II/123) die Bemerkung an, es sei dies sowohl eine "prismatische Verdichtung der Poetologie des Meridian und der um den Topos des 'Namens' zentrierten sprach- wie geschichtsreflexiven Metapoesie als auch ein Imperativ für jede Celan-Interpretation" (Menninghaus 1980, 79).

Die "Intention auf die Sprache" ist für Menninghaus "interpretationsleitender Begriff" (vgl. 249). Als "Ideal der vorliegenden Interpretation" bestimmt Menninghaus, gewisse "Beschränktheiten aufzuheben", durch welche sich andere Ansätze auszeichnen.

 

Auf der einen Seite (auf der der "politisch-historischen Celan-Interpretationen") gebe es die Verlockung, "Realien, Zitaten, Anspielungen" usw. "nachzuspüren"; auf der anderen Seite haben, so Menninghaus, "die Ansätze zur Analyse der sprachlichen Form kaum je etwas von der ihr immanenten Historizität zu fassen bekommen" (vgl. 269, Anm. 6).

 

Menninghaus wendet sich gegen eine "Verabsolutierung der Gedichtimmanenz", weil diese "dem für Celan so charakteristischen Umstand nicht gerecht" werde, "daß eine intertextuelle Kommunikation der Gedichte oft integraler Bestandteil ihrer Intra-Kommununikation ist" (84). Zu der in der Celan-Philologie immer wieder diskutierten sog. "Parallelstellen-Interpretation" führt Menninghaus aus, eine solche Vorgehensweise sei dann wenig problematisch, wenn man "auf ein übersetzendes Fixieren von (vermeintlichen) Bedeutungen verzichtet und die semantische Substanz der Topoi überwiegend funktional, d.h. in der Grammatik ihrer Relationen verortet":

 

"[...] zwar darf man auch bei Celan nicht substitutiv eine Stelle durch eine ähnliche andere 'erklären', wohl aber ist es methodisch zulässig und im Interesse einer Rekonstruktion der Konsistenzbildung im Schreiben und Lesen sogar angebracht, die dem Wortlaut wie dem Kontext nach parallelen 'Chiffren' auf die ihnen konfigurativ gemeinsame 'Richtung' transparent zu machen." (Menninghaus 1980, 85).

 

Menninghaus hält es für notwendig, in der von ihm so bezeichneten "primären Bedeutungsanalyse" durchaus "einen entschiedenen philologischen Positivismus walten zu lassen", nämlich eine "'staunende Vergegenwärtigung' des die Richtung der Metapher faktisch determinierenden Relationsgefüges vorzunehmen". Und erst "in einer zweiten Semantik" sollen "Funktionsmechanismen, Form und Richtung der ersten Semantik als solche zum Gegenstand genuiner, d.h. die Sprachfakten auf die sie prägende Gewalt hin durchdringender Interpretation" (vgl. Menninghaus 1980, 141-142) gemacht werden.

Die Ausführungen aus Menninghaus (1980) laufen somit auf zwei aufeinander folgende Schritte des Zugangs zu dichterischen Texten hinaus. Der Sache nach läßt sich der erste Schritt als Kommunikatverbalisierung qua Kommunikatprotokoll im Sinne Schmidts deuten (vgl. 6.2.2.), wenngleich weder hier noch dort genauere Ausführungen zur Vorgehensweise gemacht werden; entscheidend dafür ist "die Distanz zu einem Suchen nach 'versteckten Bedeutungen' und die Bereitschaft, den sprachlichen Elementen, so wie sie dastehen, zu folgen" (Menninghaus 1980, 217). Erst darauf aufbauend kommen weiterreichende Interpretationshinsichten ins Spiel.

 

 

(2)     Germinal Civikov zu Fragen der Interpretation:

 

Germinal Civikov versteht seine Arbeit "nicht primär" als Beitrag zur Celan-Forschung, "sondern zur Interpretationstheorie im allgemeinen" (Civikov 1984, 93). In dem Kapitel "Die literarische Interpretation" geht er ausführlich auf Diskussionen dazu ein, ob nicht "aus dem Feld der Interpretation" die "Lektüre als eine angemessenere Operation der philologischen Hermeneutik" aufzufassen sei. Civikov äußert sich dahingehend, er sehe nicht ein, "warum man auf 'Interpretation' zugunsten dessen, was Japp in Szondis Nachfolge 'Lektüre' nennt, verzichten soll" (Civikov 1984, 10). Der gegebenen Begründung kann auf der Basis dessen, was in vorausgehenden Abschnitten dazu dargelegt worden ist, nur zugestimmt werden: "Keine Bezugnahme, ob wir sie nun Lektüre oder Textanalyse nennen, kann ihren interpretativen Charakter leugnen." (Civikov 1984, 10).

In dem Abschnitt "Hermeneutik und Interpretationsmethode" geht Civikov kritisch auf die Rolle der Hermeneutik und insbesondere auf den "Mechanismus interpretativer Referenzrahmenbestätigung im Lichte hermeneutischer Ausgangspositionen" ein (vgl. 17ff.). Eine ganz ähnliche Rolle schreibt Civikov völlig zutreffend solchen semiotischen Analysen zu, in deren Rahmen dichterische Texte lediglich Bestätigungsinstanz theoretischer Konstruktionen sind.

 

Die Hermeneutik, welche einmal "d i e Methode der Interpretation war", bietet heute nach Civikov "kaum Orientierungspunkte einer der Gegenwart gerecht werdenden literarischen Interpretationstheorie" (15). Im Sinne der Referenzrahmenbestätigung setze sich die Interpretation "zum Ziel, den Text auf einen vorausgesetzten bzw. vorformulierten Sinn zu reduzieren" (17); der "hermeneutische Zirkel" ist, so Civikov, "der Modus, in dem diese Figur immer wieder reproduziert wird" (18). Zu den "Schlüsselbegriffen" in der Rolle von Referenzrahmen äußert sich Civikov so:

"Mitunter müssen Gesamtsysteme, etwa die jüdische Mystik oder Adornos Ästhetik als Referenzrahmen herhalten, um Metaphern und Bilder als Schlüssel zu legitimieren. Das Ergebnis ist immer dasselbe: sobald eine an einem bestimmten Referenzrahmen orientierte Perspektive eröffnet wird, gelingt es, die Sinnkonstituenten in der gewünschten Perspektive zu organisieren." (24).

Dazu führt Civikov (vgl. 24ff.) verschiedene Belege an. "Angesichts aller die Figur der Referenzrahmenbestätigung reproduzierender und miteinander konkurrierender Interpretationen kann man sich", so Civikov, "fragen, welchen Wert die Ergebnisse dieses Interpretationsmechanismus überhaupt noch haben" (25).

Zur semiotischen Textanalyse, auf die Civikov anschließend eingeht, stellt er fest, daß man "auf diese Weise den Problemen der literarischen Interpretation eher ausweicht als näherkommt". "Die Behauptung", so Civikov, "die Interpretation wäre ein semiotisches Phänomen, ist nicht mehr und nicht weniger sinnvoll als die Behauptung, daß die Interpretation ein linguistisches oder soziologisches Phänomen sei" (35):

"Begreift man aber den literarischen Text nur noch als Demonstration semiotischer Relationen, so reduziert man die literaturwissenschaftliche Tätigkeit auf ein Botanisierungsverfahren, das für interpretative Aussagen argumentieren soll, die kaum eine semiotische Analyse benötigen." (36).

 

Civikov spricht sich für folgenden Mittelweg aus: Die Interpretation könne einerseits kein sinnvolles Ziel darin sehen, "über einen logisch-diskursiven Mittelbezug" die Ambivalenzen im dichterischen Text in "diskursive Eindeutigkeit zu übersetzen" (49); andererseits solle nicht der Weg von Nietzsche beschritten werden: "kein Diskurs über das Schöne, da das angemessene Verhalten nur begriffsloses Empfinden sein kann, oder bestenfalls eine 'schöne Reflexion', wie die seine es ist" (49). "Wenn die Interpretation ihrem Forschungsobjekt gerecht werden will", so Civikov, "muß sie ihre Problemlösung zwischen diesen zwei Extremen suchen":

 

"Leerstellen ausfüllen und fehlende Glieder der Argumentationskette aus dem Kontext erschließen, dort aber keine Diskursivität herstellen, wo es deutlich ist, daß der Objekttext bewußt darauf verzichtet." (50).

 

Civikov gelangt - unter Einbezug von Aspekten aus der Theorie von Ch. S. Peirce - in vielerlei Hinsicht zu Ergebnissen, die denen aus Schmidt (1980/1991) verwandt sind, sich allerdings an Versionen der Rezeptionsästhetik orientieren. Die "suspensive Interpretation" nach Horst Steinmetz (Steinmetz 1977) bietet Civikov "die Möglichkeit eines Auswegs aus dem Dilemma diskursive versus poetische Sprachgestaltung des Mittelbezugs", - die Möglichkeit nämlich, "im Medium einer vom wissenschaftlichen Diskurs wenig abweichenden Sprache auf literarische Texte auf eine Art und Weise einzugehen, die ihrer Ästhetik keine Gewalt antut". (Civikov 1984, 86).

 

In gravierendem Unterschied zu den Ausführungen aus Schmidt (1980/1991) orientiert sich Civikov an rezeptionstheoretische Bezugnahmen auf die "Unbestimmtheit", die sich "potenziere", wenn ein Text für literarisch gehalten werde. Die "approximativ lokalisierbaren Unbestimmtheiten", an denen sich bei der Rezeption "die verschiedenartigsten 'normalisierenden' Interpretationen entzünden", werden dieser Auffassung nach, der sich G. Civikov anschließt, im Rezeptionsakt "vom Leser aufgehoben und normalisiert" (vgl. Civikov 1984, 86).

"Die literarische Interpretation hingegen sollte, im Bewußtsein dessen, daß diesen Unbestimmtheiten eine besondere Rolle hinsichtlich des ästhetischen Funktionierens des Textes zukommt und darum jede an den literarischen Text herangetragene Normalisierung seine Depoetisierung herbeiführt, untersuchen, welche Merkmale an den Texten die jeweils verschiedenen Sinngebungen ermöglichen." (86).

 

Der gefundene Ausweg aus dem (über Bezugnahmen auf semiotische Ansätze) konstruierten Dilemma bleibt hinter den Ausführungen aus Schmidt (1980/1991) zurück, obwohl sich über die Rezeptionsästhetik verschiedene Berührungspunkte ergeben. Die von Civikov durchgeführte Interpretation eines Gedichts von Celan (vgl. 91-106) unterscheidet sich von manch anderen Interpretationen immerhin durch den Wegfall einer primären Referenzrahmenbestätigung (Referenzrahmen und Recherchen zu dessen Bestätigung) und dadurch, daß - im Sinne der "Kommunikatprotokolle“ aus Schmidt (1980/1991) - die Stellen bezeichnet werden, von denen ausgehend man zu unterschiedlichen Lesarten gelangen kann.

 

 

(3)     Ulrich Konietzny zu "Methodenpluralismus" und "Untersuchungsphasen" der Interpretation:

 

Konietzny geht in seiner Arbeit auf die Fragwürdigkeit dessen ein, was in der Literaturwissenschaft als "Methode" angesehen wird (vgl. Konietzny 1985, 3ff.). Zu der Rede vom "Methodenpluralismus" nimmt er in ähnlicher Weise kritisch Stellung wie z.B. Schmidt (vgl. Schmidt 1980/1991, 346):

 

"Das Erstaunlichste am sogenannten Methodenpluralismus scheint der Umstand zu sein, daß alles, was einmal als Methode proklamiert worden ist, widerspruchslos toleriert, wenn nicht sogar akzeptiert wird. [...]. Keine wissenschaftliche Disziplin vermeidet so peinlich die Frage nach Richtigkeit ihrer eigenen Ergebnisse, Das Dilemma wird auch nicht dadurch behoben, daß man alle Methoden mit ihren jeweils spezialisierten Ansätzen anwendet und dann die Teilergebnisse zur Synthese zu bringen versucht." (Konietzny 1985, 5).

 

Für Konietzny sind ohne die "Reflexion auf ihren Gültigkeitsanspruch" die jeweiligen literaturwissenschaftlichen Aussagen "bloß subjektive und methodisch nicht weiter vermittelbare Weisen, über Literatur zu reden"; "jede Konzession an den Methodenpluralismus" beinhalte "das Eingeständnis der Unzulänglichkeit und Unverbindlichkeit des eigenen Urteils" (Konietzny 1985, 7).

 

Stellungnahmen zum Methodenpluralismus sind im Rahmen unterschiedlicher Konzeptionen immer wieder vorgetragen worden. Hingewiesen sei auf die Diskussionen aus der "Zeitschrift für Germanistik" (1987), in welchen vom Standpunkt des damals noch existierenden Marxismus-Leninismus aus argumentiert wird. Dort stellt z.B. Dieter Schlenstedt im Anschluß an die Ausführungen eines anderen Theoretikers fest, man habe "über Werkcharakteristiken auch vor einer Methodenanwendung" zu sprechen "und über die Adäquatheit zwischen Gegenstand und Methode nachzudenken". Er schließt daran die Bemerkung an: "Zwar haben alle Methoden recht, die etwas an den Realitäten ihres Objektbereichs erkennen, doch haben nicht alle Methoden gleich recht." (Schlenstedt 1987, 299).


Zur Frage "Was ist also zu tun?" macht Konietzny einen Vorschlag, der im wesentlichen mit denjenigen Postulaten übereinkommt, die in Naumann (1995) im Sinne einer als wissenschaftlich erfaßten Vorgehensweise für die Interpretation prospektiert werden:

 

"Erforderlich ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Forschung, sondern vor allem ein kritisches Miteinbeziehen der Begrifflichkeit und der Art der Urteilsbildung, eine Auseinandersetzung also, die eine Rechtfertigung über Art und Weise des Vorgehens nicht nur vom Ergebnis her legitimiert sieht. [...] Eine Untersuchung über ein Gedicht darf nicht zum Ziel haben, den Text verstehend nachzuvollziehen, sondern muß die Beschreibung der Bedeutungsanalyse in die Ebene der Abstraktions- und Urteilsbildung überführen, die als wissenschaftliche Aussagen der Verifikation und Falsifikation zu unterwerfen sind." (Konietzny 1985, 8).

 

Reflektiert werden sollten nach Konietzny die gemachten Aussagen "sowohl hinsichtlich ihrer Fragestellung in bezug auf das Erkenntnisziel als auch auf die Schritte, mit denen sie dieses Erkenntnisziel erreichen will." (ebd. 8). Es sind dies auch die nämlichen Mindestbedingungen für einen rationalen Zugang zu Texten, welche in Schmidt (1980/1991) für die Kommunikatverbalisierung (hier "Kommunikatprotokolle") veranschlagt werden. Konietzny unterscheidet zwei verschiedene "Untersuchungsphasen", von denen die erste "in der Erfassung und Beschreibung des Bedeutungsgefüges eines literarischen Textes" besteht. In einer zweiten Phase "können im fortschreitenden Abstrahieren Aussagen und Urteile formuliert werden, die sich auf den Text und das Bedeutungsgefüge beziehen". Zur Abfolge des ersten und sodann des zweiten "Stadiums" hält Konietzny fest:

 

"In diesem Stadium können auch mitunter Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten, die in der Bedeutungsbeschreibung aufgetreten sind, zu einem schlüssigen Gesamtverständnis zusammengefaßt werden, was nicht notwendigerweise die Aufhebung der Polyvalenzen zur Folge zu haben braucht. Weiterhin kann die Untersuchung über den Text hinaus auf Kontexte im engeren und weiteren Sinne ausgedehnt werden, soweit ergänzende und relevante Einsichten für ein modifiziertes Verständnis eingebracht werden können." (9).

 

Es handelt sich bei der Fassung dieser Stadienverteilung um eine Paraphrasierung der Vorschläge aus Menninghaus (1980), wo ebenfalls zwei Schritte angesetzt werden.

 

Das gilt auch für die Ausführungen zur Parallelstellenmethode, welche nach Konietzny "weitgehend die Sekundärliteratur" bestimme; ihr "Wert" wird wie von Menninghaus nicht grundsätzlich in Frage gestellt, "sondern der Umstand, daß sie als ausschließlicher Ausgangspunkt zur Interpretation dient" (vgl. Konietzny 1985, 10; vgl. dazu auch 60 u. 61).

 

 


(4)     James K. Lyon zu einem "Modell der Celan-Lektüre":

 

Lyon stellt in seiner Arbeit mit dem Titel "Der Holocaust und nicht-referentielle Sprache" (Lyon 1993), auf welche unter anderem Gesichtspunkt bereits unter 4.3.2.1. eingegangen worden ist, ein "Modell der Celanlektüre vor", dem er folgende Bemerkung voranstellt:

 

"In meiner Sicht erscheint jene Interpretationsmethode am ergiebigsten, die ein Höchstmaß an Erklärungen eines Gedichts erbringt und ihm in möglichst vielen Hinsichten Rechnung trägt. Daher schlage ich ein Modell der Celanlektüre vor, das sowohl die kommunikative Sicht, d.h. Sprache als mit dem Leben verbunden, wie auch die expressive Sicht, d.h. Sprache als eine autonome Einheit gesehen, beinhaltet." (Lyon 1993, 261).

 

Dieses "Modell" besteht aus vier Schritten; insofern wird hier eine bisher nicht in dieser Weise präzisierte Abfolge in Aussicht gestellt. Der "erste Schritt in diesem Modell erfolgt", so Lyon, "wenn der uninformierte Leser dem Text zum ersten Mal begegnet" (Lyon 1993, 261).

 

Diese Phase könne nach Lyon "allein schon fruchtbar und wichtig sein"; er schließt das daraus, daß Leser "bei ihrem ersten Kontakt mit Celan von ihm eingenommen" sind, "obwohl sie ihn zugegebenermaßen nicht verstehen" (261).

 

Den "nächsten Schritt" bezeichnet Lyon als "die Kenntnis des Partikulären" - "Tatsachen und Daten über das Gedicht", welche "von referentiellen Bedeutungen, sprachlichen Dingen und geschichtlichen Bezügen bis hin zu Anspielungen, Arten der rhetorischen Mittel, Gebrauch technischer Ausdrücke, Identifizierung der Neologismen, archaischen Formen usw. reichen". Diese Phase erfordert "lexikalische und philologische Arbeit"; es geht darum, "Bedeutungen festzustellen und Identifikationen vorzunehmen" (261).

Die "dritte Phase verlangt", so Lyon, "daß ein Leser so viel wie möglich darüber weiß oder herausfindet, was man den 'kulturellen und existentiellen Horizont' des Dichters nennen könnte" (261).

 

Dies beinhaltet "die Kenntnis seiner Briefe, Reden und Prosawerke sowie des gesamten lyrischen Werks [...]". In dieser Phase wird das "Verfahren der 'Intertextualität', d.h. der Querverweise einzelner Wörter und Bedeutungsfelder im Gesamtwerk Celans, ein brauchbares analytisches Werkzeug" (261).

 

Die letzte "Stufe des Modells" schließlich "umfaßt eine Synthese aller vorausgehender Vorbereitungen" zu dem, was Lyon als "das 'Eröffnen' eines Gedichts" (262) bezeichnet.

 

Mit dem "Eröffnen" meint Lyon einen "Akt, der den Leser in die Lage versetzt, das, was Riffaterre die 'mimesis hurdle' genannt hat, [...], zu überschreiten, und der es dem Gedicht erlaubt, in einem größeren Ausmaß autonom zu operieren [...]" (263).

 

Nur oberflächlich betrachtet ist daraus der Eindruck des Systematischen zu gewinnen. Immerhin ist der Hinweis auf die Erstbegegnung mit dem Gedicht als durchaus fruchtbar zu erachten, wenngleich hieraus in Lyon (1993) nichts für eine denkbare interpretatorische Erschließung des Textes gewonnen wird (vgl. demgegenüber zur Nutzbarmachung von Ersteindrücken die "Strategien" aus Begemann 1991). Im wesentlichen verläuft die, anhand eines Beispiels durchgeführte, Interpretation in den gleichen Bahnen wie im Rahmen solcher Interpretationen, die immer wieder die Kritik herausgefordert haben: Eine Fülle von Daten ganz unterschiedlicher Herkunft (vermischt mit spekulativen Erörterungen und Fragen) wird auf diverse sprachliche Einheiten bezogen.

 

Da sich Ausführungen zur ersten Phase (wie in anderen Interpretationsansätzen) nur auf die Feststellung beschränken, daß das Gedicht "den meisten Lesern unverständlich erscheinen" (263) wird, ist deren Hervorhebung als Abfolgeschritt der Interpretation eigentlich zu nichts tauglich. Lyon geht nach einer einzigen Satzäußerung denn auch gleich zur "nächsten Stufe" weiter. Hier werden umgehend sehr viele Daten aus der Sekundärliteratur angeführt und sich heraushebende sprachliche Ausdrücke erläutert. Über die Intertextualität kommen sogleich verschiedene Spekulationen ins Spiel, so wenn Lyon die "Bodenschätze" [aus dem Gedicht] mit den "jüdischen Toten" in Verbindung bringt (265). Es werden Geschichten erzählt und diese mit theoretischen Erörterungen verbunden; und es werden Fragen gestellt, die schon aus den Ausführungen Gadamers bekannt sind: "Wer ist dieses unidentifizierte 'Du', das der Dichter in so vielen Gedichten anspricht?"

Die spekulative Phase beginnt längst irgendwo vorher; sie setzt deutlich ein, wo von dem "Umformen in den Bereich jenseits der referentiellen Sprache" (269) die Rede ist. Diese letzte Phase gründet in den inakzeptablen Referenzvorstellungen aus Lyon (1993); traditionell gesprochen geht es in der letzten Phase um die "Gesamtaussage" des Gedichts. Während durchweg die Kommentarsprache, der sich Lyon bedient, entweder nicht explizit, oder aber aufgrund der Prämissen problematisch ist, versteigt sich Lyon am Ende in kaum akzeptable Spekulationen: Es herrsche "ein merkwürdiges Halbbewußtsein, eine bestimmte Art Müdigkeit" (269), das Gedicht könne man "als den Schrei eines Ereignisses bezeichnen, das als Holocaust bekannt ist". Und am Ende stellt Lyon - den Beitrag abrundend und damit das Gedicht verklärend - fest, womit zugleich etwas klarer wird, was es mit dem "Eröffnen des Gedichts" auf sich hat:

"Aber er [der "Schrei" - W.W.] ist auch Teil von etwas anderem geworden, einer ihm eigenen res oder Wirklichkeit, deren Möglichkeiten nur durch die Fähigkeit des Gedichts oder des Lesers eingeschränkt werden, es zu diesem 'anderen' hin zu eröffnen. Dieses 'andere', so meine ich, ist der Bereich, in den uns die sorgfältige Lektüre von Celans Lyrik letzten Endes führen muß." (Lyon 1993, 270).

 

 

(5)     Jerry Glenn und Elizabeth Petuchowski zu "Wellen der Interferenz":

 

Im gleichen Celan-Jahrbuch, in dem Lyon (1993) erschienen ist, setzen Jerry Glenn und Elizabeth Petuchowski "Wellen der Interferenz" an, "um die verschiedenen Anhalts- oder Berührungspunkte" eines Gedichts zu bezeichnen. "Es gelingt Celan, ganz einfach gesagt", so die Autoren, "zwei, drei oder mehr Themen mit denselben Vokabeln zu berühren" (Glenn/Petuchowski 1993, 116).

 

Für den Ausdruck Interferenz, der hier verwendet wird, um sich auf "Celans Andeutungen zu beziehen", vermerken die Autoren, daß er sich "mit Definitionen von 'Interferenz' in wissenschaftlichen Nachschlagewerken" decke; Bezug ist ein alter Brockhaus der Naturwissenschaften und Technik von 1964, in dem Interferenz bestimmt wird als "das Zusammenwirken von mehreren Wellen bei gleichzeitigem Passieren des gleichen Ortes". Die Idee, den Ausdruck Ausdruck Welle ins Spiel zu bringen, geht auf Walter Jens zurück (vgl. den Beleg in Glenn/Petuchowski 1993, 116).

 

Die "Wellen" - auf die im laufenden Text auch mit "Thema" oder "Aspekt" Bezug genommen wird - sind ihrem Status nach Interpretationshinsichten wie "der Aspekt des Poetologischen" (118), die "Thematisierung des Schaffensprozesses" (119), sodann die "alt-testamentliche" (121), die "christlich-neutestament-liche" und die "Georgesche Welle" (d. h. Herstellung des Bezugs zu einem Gedicht Stefan Georges). Interpretativ wird anhand von Textstellen aus FAHL-STIMMIG (II/307) unterschiedlich starkes Hervortreten jeweiliger "Wellen" aufgezeigt; vgl.:

 

"Wenn sich die poetologische Welle im ersten Wort des Gedichtes stark behauptet, wird die jüdische erst in der zweiten Zeile merkbar." (121).

 

Zur Methode wird ausgeführt, daß zunächst "die wichtigsten Bezugstexte, auf die das Gedicht anspielt", zitiert werden: "denn diese Texte erweisen sich als Ursprünge der jeweiligen Wellen". Es sind dies drei Bibeltexte und das Gedicht DAS WORT von Stefan George (vgl. 118-119). Erst anschließend wird der "Lauf von vier Wellen" (118) dargestellt.

In dem Ansatz werden Ergebnisse vorausgehender Interpretationsbemühungen auf ein Gedicht bezogen, indem das Zusammenspiel von vier "Wellen" - die von anderen Interpreten so bezeichneten "Referenzrahmen" - mit Blick auf das Gedicht untersucht wird. Den von zahlreichen Theoretikern (vgl. die vorangehenden Abschnitte: Menninghaus, Konietzny, Civikov) immer wieder vorgebrachten Einwänden gegen "Referenzrahmenbestätigung" können die Ausführungen aus Glenn/Petuchowski (1993) nicht dadurch entgehen, daß nun gleich mehrere Referenzrahmen auf das Gedicht bezogen werden.

 

Bezeichnenderweise wird - neben dem Hinweis auf "Schlüsselwörter" - z.B. nach der Präsentation der Bezugstexte festgestellt: "Hier enden die Bezugstexte, die vorauszusetzen sind, weil Celan auf sie anspielt, wie gezeigt werden soll." (Glenn/Petuchowski 1993, 119).

 

Nicht der Durchführung, wohl aber der Tendenz nach ließe sich dieser Ansatz am ehesten mit dem Isotopiekonzept in Verbindung bringen; nur werden die jeweiligen Aspekte ("Wellen") nicht erst qua Analyse nach und nach gewonnen und schließlich auf den Begriff gebracht, sondern vorausgesetzt, in Gedichtpassagen aufgesucht und selbstverständlich auch aufgefunden.

 

 

6.2.5. Resümee und Ausblick

 

Die verschiedenen Stellungnahmen zu Fragen der Interpretation, die über Schmidt (1980/1991) hinaus unter 5.2.3. und 6.2.4. in die Untersuchung einbezogen worden sind, scheinen insgesamt - jedenfalls in ihren aussagekräftigen Partien - zu bestätigen, daß der erste Zugang zu dichterischen Texten in einem Schritt bestehen muß, welcher von der L-Interpretation abzuheben ist. Traditionell steht dafür der Ausdruck Analyseverfahren zur Verfügung. Und genau an dieser Stelle, an welcher Verweise auf vorhandene sprachwissenschaftliche (textlinguistische) bzw. semiotische erwartet werden könnten, unterscheidet sich die in vorliegender Arbeit verfolgte Argumentationsrichtung - auch diesbezüglich - von anderen Ansätzen (vgl. dazu bereits die Ausführungen unter 2.2.1.):

Angeschlossen wird terminologisch an die Ausführungen Schmidts zur Kommunikatverbalisierung in Form eines elaborierten Kommunikatprotokolls (vgl. 6.2.2.). Das Kommunikatprotokoll, wie es hier - gegebenenfalls auch im Unterschied zu dessen möglicher Perspektivierung aus Schmidt (1980/1991) - aufgefaßt wird, umfaßt Aktivitäten, welche mit denen möglicher L-Interpreta-tionen zwar nicht zusammenfallen, aber letztere weder ersetzen noch erübrigen sollen! Die in Begemann (1991) als "Verstehensstrategien" bezeichneten und unter 5.3.3.6. als Analysestrategien gedeuteten Beispielanalysen gehen durchaus in diese Richtung. Allerdings wird dort der Zugriff eines "Modell-Lesers" simuliert, der bei seinen Lektüreschritten ständig auf theoretische Annahmen zurückgreift, die unhinterfragt bleiben. Ausgegangen werden soll für das elaborierte Kommunikatprotokoll vielmehr von folgenden Voraussetzungen:

 

- Es kann nicht darum gehen, ein linguistisches oder semiotisches Analyseverfahren sozusagen auf ein Gedicht anzusetzen bzw. diesem überzustülpen und die L-Interpretation sozusagen draußen vor der Tür zu lassen oder an andere Zuständigkeiten zu delegieren.


Ein Beispiel für eine solche Vorgehensweise ist die in Rusch/Schmidt (1983) vorgeschlagene "Konstruktion einer propositionalen Textbasis", wie sie, so die Autoren, "von W. Kintsch (1972 und 1974) im Rahmen psycholinguistischer Untersuchungen entwickelt und als Modell der Repräsentation von Bedeutung im Gedächtnis vorgestellt worden ist" (Rusch/Schmidt 1983, 287; vgl. zur Analyse 288-292). Auf die problematischen Aspekte des Ansatzes kann hier nicht eingegangen werden. Im Vergleich dazu ist die Analyse aus Begemann (1991) erheblich elaborierter.

 

Um heterogenen Anliegen aus Sprach- und Literaturwissenschaft entsprechen zu können, ist im Rahmen des Kommunikatprotokolls so zu verfahren, daß zu dessen lückenlosem Mitvollzug disziplinspezifische Grenzen und Begrenztheiten keine oder höchstens eine ganz untergeordnete Rolle spielen. Anders als z.B. in Begemann (1991) kann es nicht um die Errichtung eines terminologisch komplexen Theoriegebäudes gehen; kognitionstheoretische, sprachwissenschaftliche oder literaturwissenschaftliche Prämissen sollten nicht in unnötiger Weise Barrieren aufbauen und eine langwierige Einarbeitung nötig machen.

 

- Im Unterschied sowohl zu Analyseverfahren, aber auch zu einem bloßen Kommentar soll das Kommunikatprotokoll die Stellen bezeichnen (vgl. so auch die Feststellungen dazu aus Schmidt 1980/1991), an welche L-Interpretationen ansetzen können. Dazu, daß gelegentlich auch der Kommentar gegen die L-Interpretation ausgespielt wird, sei auf Ausführungen Perels verwiesen:

 

"Besser als der Begriff 'Interpretation' trifft der Begriff 'Kommentar' unser Vorhaben, wenn anders es dem Kommentar gestattet ist, den infrage stehenden Schritt vom Einzelnen zum Ganzen undiskutiert zu lassen und ihn dem einzelnen Leser anheimzustellen. Während Szondi seine Unterscheidung zwischen Beschreibung, Kommentar und Interpretation nicht ausdrücklich trifft [...] und wohl auch kaum für sinnvoll hält, scheint doch dem überwiegenden Sprachgebrach nach das Kommentieren zu den niederen Diensten im Heiligtum der Literaturwissenschaft zu zählen." (Perels 1973, 57).

 

- Rechnung getragen werden sollte dem Anspruch von Menninghaus, bei der "primären Bedeutungsanalyse" und entsprechender "staunender Vergegenwärtigung" einen "entschiedenen philologischen Positivismus walten zu lassen" (Menninghaus 1980, 141/142). Allerdings wird dem insofern anders Rechnung zu tragen sein, als die qua Kommunikatprotokoll präsentierten Ergebnisse nicht im laufenden Text (und aus Beobachterperspektive in ununterscheidbarer Weise) sogleich mit weiterreichenden Interpretationshinsichten verbunden werden.

 

- Mit Steiner (1990) wird, wie bereits betont, keine "in systematischer Verkleidung" präsentierte Analyse benötigt. Der "lexikalischen cortesia" und dem "Feingefühl für die Sprache" (Steiner 1990, 209) sollte dadurch Rechnung getragen werden, daß die ins Spiel kommenden Aspekte lückenlos nachvollziehbar sind.

 

- Dem Anliegen Ecos, interpretativ "einen Konsens zu erreichen" (Eco 1987, 32), ist mit einer geeigneten Vorgehensweise im Rahmen des Kommunikatprotokolls dadurch näherzukommen, daß die Bezugspunkte für interpretatorische Anschlußkommunikationen explizit gemacht werden, womit diese nicht mehr in erheblichem Maße der "halluzinatorischen Reaktion des Adressaten" (Eco 1987, 29) ausgesetzt oder für beliebige Immunisierungsstrategien offen stehen.

 

- Geeignet gefaßte Kommunikatprotokolle könnten die von Civikov konstatierte Kluft zwischen Auflösung der Ambivalenzen im dichterischen Text (auf dem Wege der Übersetzung in "diskursive Eindeutigkeit") und dem bloßen "Diskurs über das Schöne" (Civikov 1984, 49) dadurch überwinden, daß eine nachvollziehbare Basis für L-Interpretationen zur Verfügung gestellt wird.

 

- Der in Lyon (1993) wie auch in Begemann (1991) hervorgehobenen Erstlektüre sollte im Rahmen des Kommunikatprotokolls besonderes Gewicht beigemessen werden. Die bei der Erstlektüre ins Auge fallenden Aspekte müssen zunächst protokolliert werden, bevor man sie als "Kenntnis des Partikulären" (Lyon 1993, 261) ausweist. Das sich anschließende "Verfahren der Intertextualität" (vgl. ebda. 261) ist bereits der L-Interpretation zuzuordnen; es dürfte sich von der vierten "Stufe des Modells", nämlich der "Synthese aller vorausgehender Vorbereitungen" (262), bestenfalls darin unterscheiden, daß innerhalb der Phase der L-Interpretation eine Schrittabfolge angenommen und eingehalten wird.

 

Damit sind zunächst lediglich verschiedene Forderungen umrissen, denen die im Anschluß an Schmidt (1980/1991) hier so gefaßten Kommunikatprotokolle genügen sollen. Einen möglichen Ansatzpunkt zur Explikation bietet neben den Ausführungen aus Begemann (1991) vor allem der Ansatz aus Mudersbach (1991), auf den bisher in der Literatur zur Textinterpretation und L-Interpre-tation überhaupt nicht Bezug genommen worden ist. Obwohl sich die sprach-theoretische Orientierung in Mudersbach (1991) bedeutsam von derjenigen unterscheidet, von welcher in vorliegender Arbeit ausgegangen wird, werden dort - auch unter Berücksichtigung von Stellungnahmen aus der Celan-Philologie - durchaus konsens-fähige Bezugspunkte eines Zugriffs auf dichterische und andere Texte aufgezeigt.

Auf den Ansatz aus Mudersbach (1991) kann an dieser Stelle nur in aller Kürze unter dem Aspekt der Verdeutlichung eines möglichen Vorgehens zur Erstellung von Kommunikatprotokollen eingegangen werden. Die Durchführung am Beispiel eines Gedichts von Celan bleibt hier ebenso ausgespart wie die im Grunde notwendig anzubringende Kritik an dem Ansatz aus Mudersbach (1991). Das Vorgehen aus Mudersbach (1991) kann somit nur angedeutet werden, da andernfalls auch das Vorgehen Mudersbachs, das am Beispiel von Kleists Anekdote "Franzosen-Billigkeit" (aus 1810) illustriert wird, in die Untersuchung einbezogen werden müßte. Die Bezugnahme auf den Ansatz aus Mudersbach (1991), welche dessen ausführliche Zurkenntnisnahme nicht ersetzen kann, erfolgt hier somit ausschließlich unter dem Gesichtspunkt, das Verhältnis von Kommunikatprotokoll und anschließender L-Interpretation zu erläutern.

Als "Texterschließungsverfahren" setzt Mudersbach drei sich ergänzende und aufeinander bezogene Methoden an (vgl. Mudersbach 1991, 327ff.). Das Vorgehen kann insgesamt als Vorbeugungsprogramm gegen unkontrolliertes Argumenthüpfen gelten. Da - zumindest im Rahmen der Durchführung des Programms zur ersten und dritten Methode - nicht auf Theoreme Bezug genommen wird, die ihrerseits erst zu problematisieren wären, trägt Mudersbach dem Umstand Rechnung, daß dichterische Texte nicht in erster Linie für Experten für Sprachfragen verfaßt worden sind; die Methoden sind dementsprechend am Vorgehen eines Laien-Rezipienten orientiert. Mudersbach entwirft dazu ein "individuenlinguistisches Programm", welches "das Individuum in seiner individuellen (aber nicht subjektiven) Wahl" (Mudersbach 1991, 322) berücksichtigen will. Entsprochen werden soll damit auch dem "Stellenwert-Problem" als "Spezifikum der geisteswissenschaftlichen Arbeit", wonach "eine Beobachtung oder eine Interpretation in einer geisteswissenschaftlichen Disziplin [...] nicht ohne Angabe des interpretierenden Individuum gesehen werden" kann (Muders-bach 1991, 321).

Der jeweilige Text wird von jeder der Methoden "aus einem anderen 'Blickwinkel'" betrachtet und ist "mit einer Arbeitsteilung in der Texterschließung verbunden" (327). Allen Methoden ist gemeinsam, "daß das interpretierende Individuum im Prinzip frei ist, seine individuelle bzw. textspezifische Ausfüllung des methodischen Schemas vorzunehmen und dennoch dieses Verfahren sich und anderen transparent und reflektierbar zu machen" (329). Die Methoden tragen die Namen Aspectex, Relatex und Holontex; vgl.:

 

"[...] Die erste Methode [Kursivauszeichnungen wie im Original - W. W.] berücksichtigt die Gesichtspunkte, die der individuelle Leser und Interpret individuell als relevant für sein Verstehen des Textes ansieht. Jeder Gesichtspunkt (nachher 'Aspekt' genannt) enthält Merkmale (Ausprägungen, Werte), die der Textverstehende nach eigenem Ermessen zusammenstellen kann, um damit die Differenziertheit seines Verstehens explizit zu machen. Die Methode heißt ASPECTEX (Aspectives Lesen des Textes). [...]. Die zweite Methode betrachtet die informative Struktur des Textes, sowohl in der zeitlichen linearen Abfolge als auch in der synchron-optischen Zusammenfassung des ganzen Textes. Hierbei werden die im Text enthaltenen semantischen Relationen in einem Netz zusammengestellt. Die Methode heißt RELATEX (für relationale Analyse des Texte). [...]. Die dritte Methode berücksichtigt das Hintergrundwissen, das der Leser an die Textteile anlegen kann. Der Leser ergänzt so das im Text stehende um die allgemeinen Kenntnisse, die ihm zum Thema oder zur Epoche schon zur Verfügung stehen. Dieses Hintergrundwissen besteht aus einer Menge von Systemen, von denen jedes einen bestimmten thematischen Bereich (der Kultur, des Lebens, der Wissenschaften) abdeckt. Auch das Wissen über die Textgestaltung (z.B. einer Urkunde oder eines Briefes) gehört dazu. Jedes System besteht aus Relationen zwischen Begriffen. Den Begriffen wird dabei eine holistische Rolle bzgl. des ganzen Systems (dem HOLON) zugeschrieben. Die Methode heißt daher HOLONTEX." (Mudersbach 1991, 328).

 

Im Unterschied zu den Prämissen vorliegender Arbeit geht Mudersbach von der "informative[n] Struktur des Textes" aus und davon, es gelte, die "im Text enthaltenen semantischen Relationen in einem Netz" zusammenzustellen; auch werden Relationen zwischen "Begriffen" angesetzt, ohne daß der Begriffsbegriff geklärt ist. Auch aufgrund der exotischen Terminologie in der Methodenbezeichnung ist es kaum verwunderlich, daß die Überlegungen aus Mudersbach (1991) bisher nicht den Akzeptanzgrad patentierbarer Methoden erlangt haben. Gleichwohl läßt sich - abzüglich dieser Vorgaben - an den Ansatz anschließen, weil dort deutlicher als in anderen Arbeiten ein Vorgehen konkretisiert wird, das im Prinzip auch verschiedenen Vorschlägen anderer Theoretiker (vgl. die vorausgehenden Abschnitte) entgegenzukommen scheint.

Die erste "Methode" ist die der Erstellung eines Kommunikatprotokolls im Verlauf der Erstlektüre. Sie besteht darin, den Text "unter einem einzigen Aspekt ganz zu lesen, um sich maximal zu sensibilisieren für Entscheidungen im Text" (Mudersbach 1991, 329). Die "Methode" umfaßt insgesamt vier Schritte: Erstlektüre, Aufstellen einer Aspektliste, Lesen des Textes unter einem einzigen Aspekt, Gewichtung der Aspekte nach dem Zweck der Lektüre.

 

D i e  E r s t l e k t ü r e  enthält nach Mudersbach "eine Möglichkeit, die bei jeder weiteren Lektüre verlorengeht: nämlich überrascht zu werden durch unerwartete Auffälligkeiten"; diese Auffälligkeiten sollen "schriftlich" angegeben werden (Mudersbach 1991, 329).

Vorgegangen wird zeilenweise; notiert wird "Überraschendes, Auffälliges"; notiert werden des weiteren offene Fragen, sich herauskristallisierende Gesichtspunkte, auch "ob sich eine Erwartung an das Nachfolgende ergibt", ob eine "vorhandene Erwartung bestätigt oder enttäuscht wird" u.a.m. (vgl.329). Diese Erwartungskonstellation wird tabellarisch in drei Spalten protokolliert: Die erste Spalte bildet der Text (beginnend beim Titel; zeilenweise); daran schließt sich die Protokollierung der "Erwartungsbilanz" (zweite Spalte) an sowie diejenige "neuer Erwartungen" (dritte Spalte).

Nach der ersten Methode werden also qua Protokollierung des Erwartungsverlaufs Hinweise darauf verdeutlicht, "wo man stutzig geworden ist, wo bestimmte Erwartungen aufgrund des Hintergrundwissens nicht bestätigt werden, welche Erwartungen sich als fehlgeleitet ergeben haben und welche offen geblieben sind" (vgl. 331).

Begemann geht im Vergleich zu Mudersbach ganz anders vor: Für einen hypothetischen "Modell-Leser" werden in der Kommentarsprache (aus Theoriewarte bzw. Beobachterperspektive) ausschließlich theoriegeleitete Aspekte schrittweise verfolgt: Die Analyse qua Schrittabfolge (durchgeführt für "Erstlektüre" bis "Zwölftlektüre") besteht in der Exemplifizierung der vorab - in vorausgehenden Partien der Arbeit - dargelegten theoretischen Annahmen. Gemeinsamkeiten mit dem Ansatz Mudersbachs sind darin zu erkennen, daß auch hier - von der "Erstlektüre" an - Enttäuschungen und Erwartungen des "Modell-Lesers" registriert werden (vgl. Begemann 1991, 339ff.). Aber hier erwartet erstens ein "Modell-Leser" etwas; und zweitens "erwartet" er es entlang der - in einer linken Marginalienspalte verzeichneten - theoretischen Annahmen ("Steuerungsmechanismen" etc.): "Patternwahrnehmungen während der Erstlektüre" erwartet nach Begemann "unser ML" gemäß "M Mod 1" [die Abkürzungen muß man sich aus den letzten Partien der Arbeit zusammensuchen] "auf lautlicher, metrisch-rhythmischer, syntaktischer und lexikalischer Ebene" (Begemann 1991, 343).

Wenn man den theoretischen Rahmen samt Theorieperspektive auf den "Modelleser" unbeachtet läßt, läuft dasjenige, was in Begemann (1991) für die erste Phase (die Erstlektüre) festgehalten wird, auf ähnliches hinaus wie in Mudersbach (1991), nämlich auf die Registrierung von Auffälligkeiten lexikalischer, phonologischer und sonstiger Art.

 

D e r  z w e i te  S c h r i t t  besteht in Mudersbach (1991) im Aufstellen einer Aspektliste: Hier werden Aspekte zusammengestellt und zu jedem Aspekt mit seinen Unterdimensionen (nach Möglichkeit) mehrere "Werte angegeben".

Die Etikettierung der Aspekte und ihnen zugeordnete Werte erfolgt stichwortartig, muß nicht exhaustiv sein und ist innerhalb der Tabelle (horizontale Achse: Aspekte; vertikale Achse: zugeordnete Werte) auf die durchnumerierten Zeilen des Textes bezogen. Solche Aspekte können z.B. metrische, lexikalische u.a. Besonderheiten sein.

 

D e r  d r i t t e  S c h r i t t  besteht im sog. "Aspektiven Lesen": Ein Aspekt wird ausgewählt, und der gesamte Text wird hinsichtlich dieses Aspekts gelesen.

Daran schließt sich das "aspektive Lesen" für weitere interessierende Aspekte an. Durch Konzentration auf einen einzigen Aspekt "sensibilisiert sich der Leser für diesen Aspekt und seine Werte" (Mudersbach 1991, 331).

Das Ergebnis ist eine "Aspektmatrix, in der zu jeder Textstelle pro angelegtem Aspekt Aspektwerte eingetragen sind, sofern dies für eine Textstelle sinnvoll ist" (vgl. 331). Die Matrix gibt also das individuell erreichte Verständnis auf der Mikroebene wieder.

Daran seinen folgende Bemerkungen angeschlossen: Die Wissenschaftlichkeit eines Verfahrens wird nicht dadurch gefördert, daß man tabellarisch vorgeht, also vermerkbare Aspekte zeilenweise in eine Liste einträgt. Aber der Vorteil des tabellarischen Verfahrens ist sicher, daß man die verzeichneten Ergebnis sowohl waagerecht als auch senkrecht lesen kann. Die gewählten Ausdrücke, mit denen man Einzelbeobachtungen und Erwartungen sprachlich auf den Begriff bringt, könnte man insofern kontrolliert handhaben, als man sie in einer separaten Liste erläutert.

Im Vergleich zu einer linearisierten Fassung des Kommunikatprotokolls (Datenpräsen-tation im textuellen Nacheinander) ist die Ergebnisdarstellung qua Auflistung kontrollierbarer. Bei linearisierter Version ist nämlich nicht leicht feststellbar, ob einmal ein Aspektwert fehlt, ob plötzlich ein neuer Aspekt auftaucht u.a.m. Gewisse, mit der linearen Art der Vertextung gegebene, Formulierungszwänge (individual-stilistische Eigenarten und die verständliche Nei-gung, nach dem Variatio-delectat-Prinzip zu verfahren) bewirken, daß auch bei größtem Bemühen um Genauigkeit normalerweise die nötige Klarheit nicht gewährleistet ist.

Auf den ersten Blick könnte man geneigt sein, diesen Schritt mit dem Vorgehen aus Begemann (1991) zu identifizieren:

"M Steu HL 4 [...] Wende Dich während der Zweitlektüre erneut den spontan auffälligen semantischen Anomalien zu! Nimm dabei jene semantische Anomalie oder jenes Schlüsselwort zum Ausgangspunkt eines verbindenden Deutungsversuchs, die/das Dich spontan am meisten fesselt!" (Begemann 1991, 350).

Allerdings sind die Unterschiede zu Mudersbach (1991) ganz und gar gravierend; hingewiesen sei nur auf einige der Unterschiede zwischen den Ansätzen: Erstens wird in Begemann (1991) von Anfang an (Erstlektüre) nach Deutung im schulmäßigem Sinne gefahndet; zweitens gehen - es handelt sich schließlich um eine rein theoretische Analyse - Annahmen zur "Anomalie" u.a.m. in ganz traditionellem Sinne von vornherein in die Analyse ein; drittens erstreckt sich das, was Mudersbach als "aspektives Lesen" bezeichnet, in Begemann (1991) von der Zweitlektüre bis zur "Viert-/Fünft-/Sechst-(...) Lektüre" (Begemann 1991, 352); und viertens können diese Lektüre-Abfolgen höchstens für einen hypothetischen Modell-Leser rein theoretisch - entlang der vorausgesetzten Theorie - angenommen werden. Die Abfolge der Lektüreschritte aus Begemann (1991) wird kein realer Leser/keine reale Leserin in gleicher Weise nachvollziehen, obwohl die Analyseprozedur mit unglaublichem Aufwand betrieben wird und die Einzelanalysen vor allem mit Blick auf den lautlichen Bereich überaus fruchtbar sind. Denn dieses Vorgehen entspricht überhaupt nicht dem, wie der Kommunikatbildungsprozeß bei Rezipienten von Texten tatsächlich abläuft: Er läuft nämlich gewiß nicht nach den veranschlagten, streng geregelten Schritten über unzählige Lektürestufen ab.

 

D e r  v i e r t e  S c h r i t t  schließlich besteht in einer Gewichtung je nach dem Zweck der Lektüre: Zweckabhängig lassen sind bestimmte Aspekte stärker gewichten - z.B. nach "beson-ders wichtig, weniger wichtig, nicht wichtig"; die Gewichtung dient dem "Transparentmachen des eigenen Interesses" (Mudersbach 1991, 331).

Denkbar wäre, daß man mit einer solchen Gewichtung bereits beim Aufstellen der Aspektliste (zweiter Schritt) beginnt, wodurch man sich "die Auswertung der weniger relevanten Aspekte" ersparen würde (vgl.332). Das allerdings würde dazu führen, daß man zu früh Aspekte ausschließt, die sich auf einmal zu einem späteren Stadium der Analyse als ganz wichtig hervortun. Das vorzeitige Aussparen von Aspekten würde das von Mudersbach vorgesehene schrittweise Vorgehen unterlaufen; damit wäre ein Weg beschritten, welcher in Richtung jener Referenzrahmenbestätigung geht, vor welcher diejenigen Literaturwissenschaftler(innen) warnen, welche ebenfalls für die Vielseitigkeit der zu berücksichtigenden Aspekte plädieren.

 

Die "Extraktion von Textinformation (RELATEX)" bezeichnet Mudersbach als "zweite Methode des Textverstehens"; es handelt sich dabei um die Ergebnisdarstellung einer bodenständigen Interpretation von Text-Oberflächeneinheiten, bei der auf einfache Netzwerksysteme mit Relator, Argument, Argumentmodifikator und Relatormodifikator (vgl. Mudersbach 1991, 334) zurückgegriffen wird. Um die dazu Satz für Satz zu erfassenden "Relationen" aufstellen und sie zu "semantischen Netzen" (Mudersbach 1991, 332ff.) zusammenfassen zu können, ist nicht mehr vorauszusetzen, als diese Zuordnungen leisten zu können.

 

Im linearen Nacheinander wird nach dieser Methode aufgezeigt, ob und wo das Nachfolgende an Vorausgehendes angeknüpft ist (Thema-Rhema Gliederung); vgl. dazu auch Mudersbach/Gerzymisch-Arbogast (1989). Indem Textsegmente "in eine oder mehrere Relationen mit Argumenten segmentiert" werden, ergibt sich, "welche Wörter oder Wortgruppen zu den Kategorien Relator, Argument, Argumentmodifikator, Relatormodifikator gehören" (Mudersbach 1991, 334).

Dazu werden in tabellarischer Form Argumente und Relatoren zeilenweise den Textsegmenten zugeordnet: "1. Argument", "2. Argument", "3. Argument" sowie "Relator und Stelligkeit" (mit Angabe der Stelligkeit in Ziffern: 1-stellig, 2-stellig, 3-stellig). Bei der Kommunikatbildung ergänzte Relatoren werden schon hier in Klammern gesetzt, um sie als Zusatzhypothesen zu kennzeichnen.

Aus der tabellarischen Darstellung läßt sich ein graphisches Netz erstellen. Dazu werden die Relatoren als Oval dargestellt, die Argumente als Kästchen; Kreise enthalten Einträge zu Kasus und Präposition; Konjunktionen werden in Rauten geschrieben; Pfeile zeigen Rück- und Vorverweise an; Hypothesen des Lesers werden mittels durchbrochener Linien verzeichnet (vgl. Mudersbach 1991, 354-355).

 

Die dritte Methode ("Holontex") schließlich dient der Vergegenwärtigung ganzheitlicher Gesichtspunkte. Damit sind der Sache nach Gesichtspunkte der L-Interpretation angesprochen. Unter einem "Holon" faßt Mudersbach einen "strukturierten Wissenskomplex". Es handelt sich dabei um "Gesamtvorstel-lungen (Systeme), die in einem Text vom Autor angesprochen werden, ohne jedoch im Text expliziert zu werden" (Mudersbach 1991, 338). Bei demjenigen, was hier in der ganz ungünstigen "System"-Redeweise vorgetragen wird, handelt es sich um dasjenige, was sämtliche Celan-Interpret(inn)en immer schon als "Referenzrahmen" gefaßt und als "Referenzrahmenbestätigung" dort an methodischem Vorgehen moniert haben, wo vorgefaßte Interpretationshinsichten auf Gedichtzyklen, einzelne Gedichte oder auf Partien aus Gedichten bezogen worden sind. Allerdings ist der als gesonderte "Methode" gefaßte Schritt aus Mudersbach (1991) insofern differenzierter als gängige Interpretationspraxis, als im Rahmen von HOLONTEX darüber Rechenschaft abzulegen ist, welche "ganzheitlichen Systeme" angesetzt werden. Es läßt sich mithin auch diese Methode als elaboriertes Kommunikatprotokoll deuten. Der erste Schritt umfaßt die Erkundung von "Systemen", der zweite Schritt in deren Auflistung; der dritte Schritt besteht in der Überprüfung der dazu in Frage kommenden Textstellen, der vierte in der Gewichtung unter Präferenzgesichtspunkten.

 

"HOLONTEX ergänzt die beiden anderen Methoden gerade um die Interpretationsmethode, bei der der Textinterpret am besten seine Beziehung zum Text ausdrücken und seine Sicht an den Text anlegen kann, eine Sicht, die natürlich vom geschichtlichen Standort des Lesers stark geprägt ist. Die Schrittabfolge bezieht sich hier, wie bei ASPECTEX, auf den ganzen Text, nicht auf einzelne Textstellen." (Mudersbach 1991, 339).

Der erste Schritt besteht in der "Erkundung der holistischen Systeme im Text". Hier werden die von Mudersbach so bezeichneten "Systeme" sprachlich gefaßt. Es kämen also für ein Gedicht von Celan hier die in der Celan-Philologie eruierten Interpretationshinsichten ins Spiel (von chassidischer Mystik bis Sprachproblem).

Der zweite Schritt besteht im "Aufstellen der Liste der Systeme" (339); hier werden die jeweiligen Textstellen aufgrund des eigenen Kenntnisstands den "vermuteten Systemen" zugeordnet.

Der dritte Schritt ist die "holistische Lektüre des Textes"; hier werden die "holistischen Systeme" (wie für die erste Methode) einzeln an den jeweiligen Text "angelegt". Markiert werden Textstellen, die jeweiligem Systemteil "entweder entsprechen und ergänzen oder ihm widersprechen" Als Resultat entsteht so "für jedes Holon eine individuelle Auffüllung der Holonstruktur" (339).

Der vierte Schritt besteht in der "Gewichtung der System(teile)e nach dem Zweck" (339). Der "Zweck der Lektüre" wird hier gefaßt als Auswahl solcher "Systeme", die "für die Lektüre relevant sein sollen"; es läßt sich dann eine "Präferenzreihenfolge" für die betrachteten Systeme angeben (vgl. 339).

 

Mit den Methoden aus Mudersbach (1991) lassen sich auf recht einfache Weise intersubjektiv überprüfbare Aussagen über literarische Kommunikate gewinnen. Für Interpretationshinsichten, welche über explizit zu machende ganzheitliche Aspekte (nach der dritten Methode) hinausgehen, bleibt genügend Spielraum. Im Unterschied zur Auffassung Mudersbachs wird hier die Wissenschaftlichkeit eines solchen Vorgehens nicht als davon abhängig angesehen, ob die (von Mudersbach so bezeichnete) "mühselige Entdeckungsfahrt" qua Konstatierung problematischer Stellen und darauf bezogener, explizit verbalisierter, Erwartungen tatsächlich tabellarisch festgehalten wird. Für die Literaturdidaktik bietet sich eine derart systematisierte und in einzelne Schritte zerdehnte Kommunikatprotokollierung an, obwohl die linearisierte Fassung in einem sprachlich durchgeformten Text durchaus nicht diskreditiert werden sollte. Und gerade auch die ausführlichsten und interessantesten L-Interpretationen dürften - zumindest in vorausgehenden Arbeitsschritten - niemals in einem nennenswerten Gegensatz zu einer solchen Vorgehensweise gestanden zu haben.

 

 

6.3.    Zu Wissensfragen und zur Konzeption eines Celan-Wörterbuchs

 

6.3.1. Ausgangspunkte zur Illustration

 

Bevor in nachfolgenden Abschnitten auf Fragen nach Umfang und Art von Wissensvoraussetzungen eingegegangen wird, die einen Großteil der Diskussionen in der Celan-Philologie ausmachen, dient die nachfolgende Bezugnahme auf ausgewählte Gedichte erstens der Demonstration dessen, womit theoretisch unvorbelastete Leser(innen) in ihren Bemühungen zur Erlangung eines Irgendwie-Verständnisses konfrontiert werden. Zweitens erfüllen die Ausführungen zu insbesondere lexikalischen Spezifika die Rolle einer Bezugsbasis für die sich unter 6.3.4. anschließenden Erläuterungen zur Konzeption eines Bedeutungswörterbuchs zum Werk Celans.

 

Zu Illustrationszwecken werden die Textausschnitte [T1] - [T14] ausgewählt. Ausgelassene Partien sind durch [...] gekennzeichnet. Bezug genommen wird hier auf Gedicht-Partien folgender Bände: aus "Von Schwelle zu Schwelle" [T1] (I/131), aus "Niemandsrose" [T2] (I/275), [T3] (I/242), [T4] (I/270), [T5] (I/237), [T6] (I/226), [T7] (I/229); dem Band "Atemwende" gehören an [T8] (II/31) und [T9] (II/83), dem Band "Lichtzwang" [T10] (II/244) und [T11] (II/327); es folgen [T12] (II/334) aus "Schneepart", [T13] (II/108) aus "Zeitgehöft", [T14] aus "Sprachgitter" und [T15] (II/151) aus "Fadensonnen".

 

[T1]   SCHIBBOLETH

 

Mitsamt meinen Steinen,

den großgeweinten

hinter den Gittern,

 

[...]

 

Flöte,

Doppelflöte der Nacht:

denke der dunklen

Zwillingsröte

in Wien und Madrid.

 

[...]

 

Herz:

gib dich auch hier zu erkennen,

hier, in der Mitte des Marktes.

Ruf's, das Schibboleth, hinaus

in die Fremde der Heimat:

Februar. No pasaran.

 

Einhorn:

du weißt um die Steine,

du weißt um die Wasser,

komm,

ich führ dich hinweg

zu den Stimmen

von Estremadura.

 

 

[T2]   HUHEDIBLU

 

[...]

 

Wann, wannwann,

Wahnwann, ja Wahn, -

Bruder

Geblendet, Bruder

Erloschen, du liest,

dies hier, dies:

Dis-

parates -: Wann

blüht es, das Wann,

das Woher, das Wohin und was

[...]

 


Frugal,

kontemporan und gesetzlich

geht Schinderhannes zu Werk,

sozial und alibi-elbisch, und

das Julchen, das Julchen:

daseinsfeist rülpst,

rülpst es das Fallbeil los, - call it (hott!)

love.

 

Oh quand refleuriront, oh roses, vos septembres?

 

 

[T3]   EINEM, DER VOR DER TÜR STAND, eines

Abends:

ihm

tat ich mein Wort auf -: zum

Kielkropf sah ich ihn trotten, zum

halb-

schürigen, dem

[...]

 

Rabbi, knirschte ich, Rabbi

Löw:

[...]

 

 

[T4]   IN EINS

 

Dreizehnter Feber. Im Herzmund

erwachtes Schibboleth. Mit dir,

Peuple

de Paris. No pasarán.

 

Schäfchen zur Linken: er, Abadias,

der Greis aus Huesca, kam mit den Hunden

über das Feld, im Exil

stand weiß eine Wolke

menschlichen Adels, er sprach

uns das Wort in die Hand, das wir brauchten, es war

Hirten-Spanisch, darin,

 

im Eislicht des Kreuzers "Aurora":

die Bruderhand, winkend mit der

von den wortgroßen Augen

genommenen Binde - Petropolis, der

Unvergessenen Wanderstadt lag

auch dir toskanisch zu Herzen.

 

Friede den Hütten!

 

 


[T5]   ... RAUSCHT DER BRUNNEN

 

Ihr gebet-, ihr lästerungs-, ihr

gebetscharfen Messer

meines

Schweigens.

 

Ihr meine mit mir ver-

krüppelten Worte, ihr

meine geraden.

[...]

 

Wir werden das Kinderlied singen, das,

hörst du, das

mit den Men, mit den Schen, mit den Menschen, ja das

mit dem Gestrüpp und mit

dem Augenpaar, das dort bereitlag als

Träne-und-

Träne.

 

[...]

 

 

[T6]   TÜBINGEN, JÄNNER

 

Zur Blindheit über-

redete Augen.

Ihre - "ein

Rätsel ist Rein-

entsprungenes" -, ihre

Erinnerung an

schwimmende Hölderlintürme, möwen-

umschwirrt.

 

Besuche ertrunkener Schreiner bei

diesen

tauchenden Worten:

 

Käme,

käme ein Mensch,

käme ein Mensch zur Welt, heute, mit

dem Lichtbart der

Patriarchen: er dürfte,

spräch er von dieser

Zeit, er

dürfte

nur lallen und lallen,

immer-, immer-

zuzu.

 

("Pallaksch. Pallaksch.")

 

 


[T7]   EINE GAUNER- UND GANOVENWEISE

GESUNGEN ZU PARIS EMPRES PONTOISE

VON PAUL CELAN

AUS CZERNOWITZ BEI SADAGORA

 

Manchmal nur, in dunkeln Zeiten,

Heinrich Heine, An Edom

 

Damals, als es noch Galgen gab,

da, nicht wahr, gab es

ein Oben.

 

Wo bleibt mein Bart, Wind, wo

mein Judenfleck, wo

mein Bart, den du raufst?

 

[...]

 

Und wir zogen auch nach Friaul.

Da hätten wir, da hätten wir.

Denn es blühte der Mandelbaum.

Mandelbaum, Bandelmaum.

Mandeltraum, Trandelmaum.

Und auch der Machandelbaum.

Chandelbaum.

Heia.

Aum.

 

[...]

 

 

[T8]     WEGGEBEIZT vom

Strahlenwind deiner Sprache

das bunte Gerede des An-

erlebten - das hundert-

züngige Mein-

gedicht, das Genicht.

 

Aus-

gewirbelt,

frei

der Weg durch den menschen-

gestaltigen Schnee,

den Büßerschnee, zu

den gastlichen

Gletscherstuben und -tischen.

 

Tief

in der Zeitenschrunde,

beim

Wabeneis

wartet, ein Atemkristall,

dein unumstößliches

Zeugnis.

 

[T9]     COAGULA

 

Auch deine

Wunde, Rosa.

 

Und das Hörnerlicht deiner

rumänischen Büffel

an Sternes Statt überm

Sandbett, im

redenden, rot-

aschengewaltigen

Kolben.

 

 

[T10]   BAKEN-

sammler, nächtlings,

die Hucke voll,

am Fingerende den Leitstrahl,

für ihn, den einen an-

fliegenden

Wortstier.

 

Baken-

meister.

 

 

[T11]   DU SEI WIE DU, immer.

 

Stant vp Jherosalem inde

erheyff dich

 

Auch wer das Band zerschnitt zu dir hin,

 

inde wirt

erluchtet

 

knüpfte es neu, in der Gehugnis,

 

Schlammbrocken schluckt ich, im Turm,

 

Sprache, Finster-Lisene,

 

kumi

ori.

 

 


[T12]   DU LIEGST im großen Gelausche,

umbuscht, umflockt.

 

Geh du zur Spree, geh zur Havel,

geh zu den Fleischerhaken,

zu den roten Äppelstaken

aus Schweden -

 

Es kommt der Tisch mit den Gaben,

er biegt um ein Eden -

 

Der Mann ward zum Sieb, die Frau

mußte schwimmen, die Sau,

für sich, für keinen, für jeden -

 

Der Landwehrkanal wird nicht rauschen.

Nichts

                        stockt.

 

 

[T13]   ICH TRINK WEIN aus zwei Gläsern

und zackere an

der Königszäsur

wie Jener

am Pindar,

[...]

 

 

[T14]   ABER

 

(Du

fragst ja, ich

sags dir:)

 

Strahlengang, immer, die

Spiegel, nachtweit, stehn

gegeneinander, ich bin,

hingestoßen zu dir, eines

Sinnes mit diesem

Vorbei.

 

Aber: mein Herz

ging durch die Pause, es wünscht dir

das Aug, bildnah und zeitstark,

das mich verformt -:

 


die Schwäne,

in Genf, ich sah's nicht, flogen, es war,

als schwirrte, vom Nichts her, ein Wurfholz

ins Ziel einer Seele: soviel

Zeit

denk mir, als Auge, jetzt zu:

daß ichs

schwirren hör, näher - nicht

neben mir, nicht,

wo du nicht sein kannst.

 

 

[T15]   DIE FLEISSIGEN

Bodenschätze, häuslich,

 

die geheizte Synkope,

 

das nicht zu enträtselnde

Halljahr,

 

die vollverglasten

Spinnen-Altäre im alles-

überragenden Flachbau,

 

die Zwischenlaute

(noch immer?),

die Schattenpalaver,

 

die Ängste, eisgerecht,

flugklar,

 

der barock ummantelte,

spracheschluckende Duschraum,

semantisch durchleuchtet,

die unbeschriebene Wand

einer Stehzelle:

 

hier

 

leb dich

querdurch, ohne Uhr.

 

 

Die folgende Aspektliste ist nicht exhaustiv. Über die bloße Aufzählung der Aspekte hinaus wird zur Verdeutlichung von Fragen insbesondere wortbedingter Verstehensprobleme auf einige Details aus der Celan-Philologie Bezug genommen:

 

(1) Es finden sich Ausdrücke aus anderen Sprachen. Ohne die Kenntnis usueller Gebrauchsregeln dieser Ausdrücke in jeweiliger Sprache kann nicht über einen Zugang hinausgelangt werden, welcher lediglich an der jeweiligen Instantiierung der Ausdrucksseite orientiert ist.

 

Dies ist besonders augenfällig für den Titel aus [T9]. Das rumänische Verb a coagula bedeutet 'gerinnen' (von Blut, aber auch von allem, was flüssig ist und wie eine Gelatine werden kann). Wer mit der rumänischen Sprache nicht vertraut ist, wüßte nicht einmal, wo zur Klärung des Ausdrucks nachzuschlagen ist; erschließbar wäre allein die Häufung von Vokalen! Bestenfalls könnte außerdem der in Chemie und Medizin gebräuchliche Fachausdruck koagulieren assoziiert werden. Weder Wörterbücher noch Assoziationen mit ähnlichen Ausdrücken helfen weiter, um das kumi/ ori zu erschließen, mit dem Jesaja 60, 1 beginnt, und das am Ende von [T11] steht; vgl. dazu insbesondere Koelle (1997, 200f.). Ohne Kenntnis der Anspie­lungen auf Francois Villon - einschließlich des aus einem seiner Verse stammenden und nicht als Zitat kenntlich ge­machten Passage - wird man bezüglich Paris emprés pontoise z.B. nicht über ein ober­flächliches Verständnis von [T7] hinausgelangen (vgl. Geier 1988, 242 dazu). Gleiches gilt für den Ausdruck no pasaran aus [T1] und aus [T4], für Peuple/ de Paris aus [T4] und call it (hott!)/ love und die Schlußzeile aus [T2]. Wenn man nicht weiß, daß no pasaran der "Kampfruf der Republikaner und der Internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg (1936-1939)" war und ursprünglich das Losungswort der französischen Soldaten bei Verdun (vgl. Neumann 1990, 59), wird man im Kommunikatbildungsprozeß diesen Ausdruck jedenfalls nicht mit verschiedenen anderen aus [T1] und [T4] vernetzen können.

 

(2) Es finden sich Ausdrücke aus älteren Sprachstufen des Deutschen. Diesen Ausdrücken kommt Leser(inne)n, welche sprachlich nicht entsprechend vorgebildet sind, ein ganz ähnlicher - davon bisweilen ununterscheidbarer - Status zu wie den fremdsprachlichen Ausdrücken in Gedichten.

 

Wer sich nicht auskennt, wird mit den (als Zitate kursiv hervorgehoben) mittelhochdeutlichen Zeilen aus [T11], welche auf Meister Eckhart zurückgehen, nichts anfangen können. Nicht erschließbar wird auch der Ausdruck Gehugnis sein, welcher ins Neuhochdeutsche hineingeholt wird, und dem im Mittelhochdeutschen als gehugnisse die Bedeutungen zugeschrieben werden 'Gedächtnis, Erinnerung, Einbildungskraft' (vgl. dazu Konietzny 1985, 141). Zu Einzelheiten der Bezugnahme auf Meister Eckhart sei auf die Ausführungen aus Koelle (1997, 167ff.) hingewiesen.

(3) Verschiedene Ausdrücke können als recht ungeläufige Fremdwörter gelten.

 

Beispiele dafür sind frugalund kontemporan aus [T2]. Mit Blick auf ein Fremdwörterbuch lassen sich diese Ausdrücke erschließen. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, daß es sich dabei um Ausdrücke handelt, die im Rumänischen ganz alltäglich verwendet werden. Der Ausdruck frugal bedeutet soviel wie 'leicht' und 'einfach' (von Speisen, aber auch von Ideen und Vorgehensweisen), contemporan 'zeitgenössisch' und 'gleichzeitig' (der als Fremdwort verzeichnete Ausdruck schreibt sich allerdings mit "k") .

 

(4) Veraltete und landschaftlich gebundene Ausdrücke sowie seltene bildungssprachliche Ausdrücke lassen sich zwar (falls sie unbekannt sind) durch Konsultation eines Wörterbuchs erschließen, sind allerdings in ihrer gedichtinternen Bezüglichkeit damit nur zum Teil erhellt.

 

Als Beispiel sei hier auf den nicht mehr gebräuchlichen, aber dem passiven Wortschatz eventuell noch angehörenden Ausdruck zackere aus [T13] hingewiesen (zackern im Sinne von 'ackern'). Der Bezug zu Jener und Pindar erhellt sich aber nicht, wenn man nicht weiß, was der Homburger Hofrat Gerning an Knebel am 11. Juli 1805 nach Weimar geschrieben hat, nämlich: "Hölderlin, der immer halbverrückt ist, zackert auch am Pindar." (vgl. Böschen­stein 1988, 191). Für den Ausdruck zackere ist also - damit entsprechende Vernetzungsleistung bei der Kommunikatbildung zustande kommen kann - die Kenntnis des genannten Gebrauchsfixierungskontextes unabdingbar. Etwas anders verhält es sich mit dem Ausdruck Jänner. Der veraltete und österreichische Ausdruck kommt im Titel von [T6] vor. Er läßt sich leicht erschließen; und das Österreichische scheint der Erlangung eines Irgendwie-Verständnisses kaum im Wege zu stehen. Die Frage ist nur, ob man unter Interpretationsgesichtspunkten nicht zu kurz greift, wenn man es bei der Konstatierung der sprachlichen Bedeutung von Jänner beläßt. Denn sobald man (das Werk betreffende) ausgreifendere Kenntnisse besitzt, wird man dasjenige gleichsam mit dem Ausdruck verrechnen, was Celan anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises (1960) schreibt, und wobei er sich auf den Anfang von "Lenz" bezieht:

"Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein '20. Jänner' eingeschrieben bleibt? Vielleicht ist das Neue an den Gedichten, die heute geschrieben werden, gerade dies: daß hier am deutlichsten versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben?" (III/196).

Ein anderer - ebenfalls österreichischer - Ausdruck ist die Datumsangabe Dreizehnter Feber aus [T4]; vgl. dazu Neumann (1990, 61).

Als "(bildungsspr. selten)" ist im "Duden. Deutsches Universalwörterbuch" (Duden-Universalwörterbuch 1989) der Ausdruck Schibboleth verzeichnet für 'Erkennungszeichen, Losungswort’. Erst über den etymologischen Vermerk "= Ähre; Strom, nach Richter 12,5 f. Losung der Gileaditer" und das, was z.B. P. H. Neumann dazu feststellt, nämlich zur Funktion des Losungswort beim Sieg der Gileaditer über die Ephraimiter am Jordan (dort übrigens "Richter 12,6"), werden die Bezüge zu no pasaran wie Estremadura u.a.m. deutlich (vgl. Neumann 1990, 59; vgl. kritisch zu P. H. Neumann (1. Aufl. von 1968) die Ausführungen in Meinecke 1973, 10-11).

Das Sonderproblem, welche Rolle das Wissen über intertextuelle Bezüge spielt, sei auch hier (wie für Jänner) unerörtert gelassen; hingewiesen sei nur darauf, daß gleich zwei Ausdrücke (Schibboleth und no pasaran) sowohl in [T1], als auch in [T4] vorkommen.

 

(5) Auffällige fach- und sondersprachliche Ausdrücke finden sich kaum unter den angeführten Textbeispielen, ansonsten aber sehr häufig in den Gedichten.

 

Hingewiesen werden kann auf Lisene aus Fin­ster-Lisene [T11]. Im Duden-Universalwörter-buch ist der Ausdruck verzeichnet als "(Kunstwiss.): flach hervortretender, pfeilartiger Mauerstreifen zur Gliederung der [Außen]wand". Hinzurechnen kann man auch Strahlengang aus [T14]. In dem gleichen Wörterbuch ist dazu kommentiert: "(Optik): Verlauf der Lichtstrahlen in einem optischen Gerät". Der Witz ist allerdings: Für Lisene muß wenigstens eine Teilmenge dessen als Wissen verfügbar sein (oder etwas dazu in Beziehung stehendes Ähnliches), was hier im Wörterbuch angesetzt wird, wenn ein Irgendwie-Verständnis zustande kommen soll; für Strahlengang ist das aber überhaupt nicht nötig, weil die Kommunikatbildung auch von dem alltäglichen Wissen her möglich ist, welches von der Kenntnis alltagssprachlicher Ausdrücke wie Strahlen sowie Gang und gehen bezogen wird. Letzteres gilt auch für Strahlenwind aus [T8] und für die dort noch vorkommenden Ausdrücke Büßerschnee, Wabeneis sowie Gletscherstube und Gletschertisch (vgl. Gletscherstuben und -tischen). Es handelt sich hierbei, worauf Konietzny hinweist, zwar um geologische Termini; der Leser wird aber "die Landschaft auch verstehend nachvollziehen, ohne daß er weiß, daß es sich um geologische Fachtermini handelt" (Konietzny 1985, 84; vgl. ausführlich dazu 83-86). Dem Ausdruck Schrund bzw. Schrunde kann sowohl die Bedeutung 'Gletscherspalte, Felsspalte' zugeordnet werden, als auch 'Riß in der Haut' (vgl. Duden-Universalwörterbuch). Konietzny sieht in einem solchen "doppelten Bedeutungsgefüge" den Grund, daß in Fällen wie diesen ein Leser "ohne Kenntnis der geologischen Fachtermini das Gedicht verstehen kann, wenn auch nicht in seiner ganzen Bedeutungsfülle" (Konietzny 1985, 87).

Synkope aus [T14] wird im Duden-Universalwörterbuch als mehrfach polysemer fachsprachlicher Ausdruck verzeichnet: "(Musik) rhythmische Verschiebung durch Bindung eines unbetonten Wertes an den folgenden betonten", dann "(Sprachw.) Ausfall eines unbetonten Vokals zwischen zwei Konsonanten im Wortinnern (z.B. ew'ger)" sowie "(Verslehre) Ausfall einer Senkung im Vers", und schließlich "(Med.) plötzliche, kurzzeitige Ohnmacht infolge einer Störung der Gehirndurchblutung". Hier stellt sich die Frage, ob die Kenntnis nur einer der dem Formativ Synkope zugeordneten fachspezifischen Bedeutungen (Gebrauchsregeln) ausreichend ist, oder ob gegebenenfalls mehrere oder gar sämtliche der verzeichneten Bedeutungen (im Zusammenhang mit spracheschluckende Duschraum und Zwischenlaute) zu veranschlagen sind. James K. Lyon hat ausschließlich darauf hingewiesen, daß Synkope "sowohl in der Sprache wie auch in der Musik" (Lyon 1993, 264) vorkommt. Ebenfalls in [T15] findet sich der sprachwissenschaftliche Fachterminus semantisch (in: semantisch durchleuchtet); er wird aber auch in bildungssprachlichem Gebrauch im Sinne von 'hinsichtlich der Bedeutung' verwendet; zu Deutungsansätzen vgl. Lyon (1993, 267).

 

(6) Des weiteren spielt die Kenntnis der zahlreich vorkommenden Namen (Ortsnamen, Eigennamen) eine ganz wesentliche Rolle beim Aufbau eines Verständnisses.

 

Für Friaul aus [T7] hat Geier einen Bezug zu Volksliedern ausgemacht (vgl. Geier 1988, 247). Daß Czernowitz der Geburtsort von Celan ist, läßt sich der letzten Titelzeile aus [T7] entnehmen; aber wer sich nicht auskennt, muß annehmen, es handele sich bei Czernowitz um eine unbedeutende Ortschaft in der Nähe von Sadagora. Letzterer ist allerdings früher nur ein kleiner benach­barter Marktflecken von Czernowitz gewesen. Offenbar muß man zusätzlich noch etwas von demjenigen stereotypischen Wissen zur Verfügung haben, das an diesen Ortsnamen geknüpft wird, um manch eine Beziehung herstellen zu können. In Silbermann (1993) findet sich der Hinweis darauf, es sei "unerläßlich" zu wissen, "daß sich Sadagora nicht nur als Heimstatt des verfallenden Chassidismus, sondern, in der Zeit von Celans Jugend, auch als Tummelplatz von Gaunern und Pferdedieben eines zwiespältigen Rufes erfreute" (Silbermann 1993, 31).

Was [T6] angeht, muß man im Zusammenhang mit Hölderlintürme wissen, daß der Hölderlinturm in Tübingen steht; auf diesem Wissenshintergrund gibt es dann auch Verbindungen zu dem Ausdruck Schreiner (wenn er als Bezugnahme auf den Schreinermeister genommen werden darf, der in dem Turm wohnte und den Dichter beherbergte sowie versorgte) und schließlich zu Pallaksch. Damit ist gleichwohl das Gedicht nicht sozusagen durchsichtig gemacht; denn es ist ersichtlich, daß z.B. der Ausdruck Hölderlinturm in verallgemeinernder Form als Hölderlintürme vorkommt.

Für [T4] hat z.B. Neumann auf Daten hingewiesen, die über die Identifikation entsprechender Namen wie Aurora und Huesca hinausgehen: Der Sturm auf das Winterpalais stand unter der Losung, mit der das Gedicht endet; und Huesca war eine umkämpfte Stadt im spanischen Bürgerkrieg. Des weiteren weist er auf die Latinisierung des Städtenamens Petersburg in einem Gedicht von Mandelstamm hin, der neben anderen zu den "Unvergessenen" in dem Gedicht gehört (Neumann 1990, 41-64). Auch für [T1] mit Wien, Madrid und Estremadura (und den Zusammenhang, der zwischen den Ortsnamen herzustellen ist) sei auf Neumann (1968) u. (1990) hingewiesen.

Noch gravierender werden die Probleme hinsichtlich des Umfangs einzubeziehenden Wissens in vielen anderen Fällen. P. H. Neumann ist für [T1] ausführlich auf die Golem-Sage eingegangen, hier auf die Fama des 1583 verstorbenen Rabbi von Chelm - unter Bezugnahme auf eine Abhandlung von Scholem -, auf den (dazu in Beziehung gesetzten) Volksaberglauben vom Wechselbalg mit Blick auf den Ausdruck Kielkropf u.a.m. (vgl. 44-50). Die Frage, ob man all dieser Daten bedürfe, beantwortet er so:

"Auch ohne Vorwissen bleibt wohl einem Geschehen, dem nur das Aufreißen einer 'Morgentür' ein Ende zu setzen vermag, seine Unheimlichkeit. Spätestens die Anrufung des Prager Rabbiners weist freilich in Richtung der Golem-Überlieferung. Ohne deren Kenntnis scheint das Gedicht nicht verstehbar." (Neumann 1990, 50).

Die Ausdrücke Spree, Havel und Landwehrkanal aus [T12] wird man schnell auf Berlin beziehen können. Aber sind all die biographischen Kenntnisse zu Eden nötig, die Peter Szondi (Szondi 1972, 113-123) vermittelt, um z.B. einen Bezug auf die im Gedicht namentlich nicht genannte Rosa Luxemburg herstellen zu können? Ohne ein Wissen davon, daß sich mit der "Rosa" aus [T9] auf Rosa Luxemburg bezogen wird, scheinen sich z.B. nicht die "rumänischen Büffel" zu erschließen. Andererseits scheint der in [T14] vorkommende Ausdruck Genf ein mögliches Erstverständnis in keiner Weise zu behindern.

 

(7) Abgesehen von Namen finden sich Ausdrücke, die nur erschließbar sind, wenn man über entsprechende historische oder (literarisch vermittelte) anekdotische Kenntnisse verfügt.

 

Aus [T1] bis [T14] findet sich hierfür nur ein Beispiel, nämlich der Ausdruck Pallaksch, wenn man nicht solche (unauffälligen) Passagen hinzurechnen will, welche sich auf Gebrauchsfixierungen in anderen Texten zurückführen lassen, nämlich Zitate und Anspielungen. [T6] endet mit dem Lallen des umnachteten Höderlin; wie bezeugt wird, konnte der Ausdruck "das eine Mal für ja, das andere Mal für nein" stehen, weshalb Ce­lan ihn wohl zweimal setzt (vgl. Neumann 1990, 89-90).

 

(8) Für wortübergreifende Einheiten, mit welchen qua Motto oder (kursiv gesetztem) Zitat explizit auf andere Texte Bezug genommen wird, stellt sich die Frage nach Umfang und Art des zu berücksichtigenden Wissens nochmals etwas anders als für (1) bis (7). Ein Sprachverstehen kommt öfters auch ohne Kenntnis desjenigen textuellen Rahmens zustande, in welchen entsprechende Passagen in jeweiligem Originaltext gestellt sind. Den Anführungszeichen und/oder dem Kursivdruck kommt aber (neben anderen Funktionen) ein Signalwert zu, das an entsprechende Passagen geknüpfte Wissen beim Aufbau eines Verständnisses in Anschlag zu bringen.

 

Abgesehen von den kursiv hervorgehobenen Passagen aus [T11], die bereits unter (2) angesprochen worden sind, findet sich die bekannte Reminiszenz an Georg Büchner am Schluß von [T4]. Mit Blick auf "Friede den Hütten!" von Schweigen und Verschweigen zu reden bzw. das "verschwiegene Wort" in Anschlag zu bringen, wäre hier geradezu komisch, wo doch jeder Sprachteilnehmer bei der Kommunikatbildung mühelos ergänzen kann: "Krieg den Palästen!". Es handelt sich hier schlicht um eine Aussparung von Äußerungsteilen, die als verfügbar anzunehmen sind. Derartiges Wissen ist hier (auf der ersten naheliegenden Ebene) ein rein sprachliches Wissen um die Vollständigkeit sprachlich vorgefertigter Bestandteile; es ist ein zunächst ausschließlich an der Ausdrucksseite (und deren Komplettierung) orientiertes Wissen ganz im Sinne der Ausführungen aus Feilke (1994) und (1996). Dem enzyklopädischen Wissen über einen sprachlich vorgeformten Ausdruck dieses Typs kann hier all das zugerechnet werden, was im Duden 11 (Redewendungen) unter "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" verzeichnet wird:

"Diese in erster Linie als Kampfansage gegen die Reichen zu verstehende Parole stellte der sozial engagierte Dichter Georg Büchner (1813-1837) als Motto seiner radikaldemokratischen Kampfschrift 'Hessischer Landbote' voran, die er 1834 herausgab. Er übernahm damit eine Losung aus der Französischen Revolution von 1789, änderte aber die Reihenfolge der beiden Aussagen dieser Losung. Sie lautet im französischen Original: Guerre aux cháteaux! Paix aux chamières! und wird dem französischen Schriftsteller Sébastian Roch Nicolas Chamfort (1741-1794) zugeschrieben. Er soll sie als Schlachtruf für die französischen Revolutionstruppen vorgeschlagen haben." (Duden-Redewendungen).

Dem Motto "Manchmal nur, in dunkeln Zeiten" aus [T7] ist sogar - wie für entsprechende Belegbeispielangaben in Wörterbüchern - eine Autorenangabe und eine Textstellenangabe hinzugefügt: "Heinrich Heine, An Edom".

Hier ist fraglich, welche Rolle das Motto bei der Kommunikatbildung spielen kann bzw. soll; aber es ist eine Anleitung zur Orientierung. - In [T6] wiederum ist das Zitat, hier die Bezugnahme auf Hölderlins Rheinhymne (DER RHEIN), textuell eingebunden. Falls entsprechende Passage nicht als Zitat aus der Rheinhymne erkannt wird, dürfte sie als dunkel erscheinen. Die Zitierung kann gegebenenfalls als Arbeitsauftrag verstanden werden: Ermittle, wer diese Originaläußerung in welchem Zusammenhang verwendet hat!

Spätestens hinsichtlich derartiger Bezugnahmen auf andere Texte, die nicht per Kursivdruck oder gar per Anführungszeichen kenntlich gemacht sind, wird in der Sekundärliteratur die Frage nach dem Umfang des für die Erreichung eines Verständnisses zu veranschlagenden Wissens ganz und gar brisant.

 

Man wird sicher die Liste (1) bis (8) um manch einen weiteren Aspekt vervollständigen können. Gerade ein Kommunikatprotokoll im Sinne der ersten Methode aus Mudersbach (1991) würde auf zahlreiche weitere Aspekte aufmerksam machen, die anschließend exhaustiv verfolgt werden könnten. An dieser Stelle geht es allerdings lediglich darum, einige der auffälligsten Aspekte zu benennen:

 

- Es finden sich Ausdrücke, die - irgendwie - erschließbar, gleichwohl aber nicht an der kodifizierten Sprachnorm orientiert sind, so nachtweit aus [T14]. Auch kreative Schöpfungen wie BAKEN-/sammler, Wortstier und Baken-/meister aus [T10] lassen sich hier ein­reihen; vgl. auch und immer-/zuzu aus [T6].

 

- Der Zeilensprung (das Enjambement) findet sich in jedem der Beispiele; soweit Einheiten "zerlegt" werden, entsteht dadurch gegebenenfalls ein Mehrwert an Bedeutung wie in über-/-redete aus [T6].

 

- Als "Wortzerlegungen" werden in Neumann (1990, 20) neben dem Enjambement Einheiten bezeichnet, die gleichsam in spielerischer Form auseinandergerissen sind; hingewiesen sei auf Men und Schen aus [T5]. Als "Unworte" bezeichnet Geier die Variationen von Mandelbaum aus [T7] sowie Aum; letzterer Ausdruck ist nach Geier (1988, 249) "der geköpfte Baum" und "onomatopoetische Evokation des Schmerzes".

 

- Einheiten aus dem Funktionswortschatzbereich kommen öfters in herausragender Stellung vor; vgl. ABER [T14] oder die Pronomina in [T11].

 

- Offenbar ist des weiteren die Bedeutsamkeit aller Oberflächeneigen­schaften ins Kalkül zu ziehen: Interpunktion, Gedankenstri­che, Groß-und Kleinschreibung, Leerzeilen, Anordnung von Einheiten auf der Textblockzeile u.a.m.

 

Sämtliche Beobachtungen laufen aber darauf hinaus, daß man über eine Fülle von Detailkenntnissen verfügen muß, um zu einem genaueren Verständnis des jeweiligen Gedichts gelangen zu können. Wenn man über entsprechende Kenntnisse nicht verfügt, wird man z.B. die Ausdrücke Duschraum, geheizte Synkope, Flachbau und Stehzelle aus [T15] nicht mit der Holocaust-Thematik in Zusammenhang bringen können. Aber woher sollen diese Kenntnisse bezogen werden? Schließlich sind sie nirgendwo gleichsam als Wissenspakete gebündelt präsentiert. Die Konsultation eines Sprach- oder Fachwörterbuchs wird im Falle der zuletzt genannten Ausdrücke jedenfalls nicht weiterführen.

Interpretationshilfen soll Celan nicht gegeben haben, was manch ein Interpret beklagt hat. Entsprechende Bitten um eine Verständnishilfe hat er, wie bezeugt wird, mit dem Hinweis darauf beantwortet, man solle doch im Duden nachsehen oder in anderen Wörterbüchern. Gerhard Baumann berichtet, Celan habe geäußert: "Alle Worte, die in meinen Gedichten vorkommen, stehen im 'Duden'" (Baumann 1986/1992, 115). Man muß wohl davon ausgehen, daß dies als Antwort nicht allzu ernst gemeint und im wesentlichen auf nur einige Typen von Ausdrücken gemünzt war. Der Ausdruck nachtweit aus [T14] fällt nicht darunter, aber auch nicht Duschraum in jener Bedeutung, welche der Ausdruck im Rahmen des Vergasungsszenarios erhält. Und vieles von dem, was manch ein Theoretiker gänzlich (und aus verschiedenen Gründen) zu Unrecht als "Neolo-gismus" bezeichnet hat, findet sich in entlegenen Fachwörterbüchern oder in äl-teren Sprachwörterbüchern. Reichert stellt dazu fest:

 

"Celan hat ja geradezu darauf bestanden, daß er keine Neologismen verwende und daß man sich nur die Mühe zu machen brauche, das fremd Anmutende im Grimmschen Wörterbuch oder in botanischen, mineralogischen, kristallographischen bzw. Fachwörterbüchern nachzuschlagen." (Reichert 1988, 162).

 

Zu dem in [T15] (DIE FLEISSIGEN) vorkommenden Ausdruck Zwischenlaute hat Lyon darauf hingewiesen, man könne zunächst davon ausgehen, es handele sich um einen "Neologismus", hier um eine Analogiebildung zu Selbstlaut und Mitlaut. Im Grimmschen Wörterbuch wird Lyon allerdings fündig; dort ist der Ausdruck viermal belegt.

 

Man erfährt dort, so Lyon, daß das Wort "als experimenteller Begriff im achtzehnten Jahrhundert kurz in die deutsche Sprache eintrat, um bald darauf wieder zu verschwinden" (Lyon 1993, 266). Lyon geht anschließend auf die Belege bei Herder und Klopstock ein.

Für den Ausdruck Mitsammen aus ANABASIS (I/256-257) hat Hans-Michael Speier den früheren Neologismus-Verdacht unter Verweis auf das nämliche Wörterbuch ausgeräumt (vgl. Speier 1993, 268).

 

Schließlich wird in der Literatur immer wieder auf gewisse Äußerungen Celans zur Wissensfrage verwiesen, vermittelt durch die oft zitierte Einleitung von Dietlind Meinecke zu dem Band "Über Paul Celan", wo auf den Ausdruck Es-
tremadura
(vgl. oben Textbeispiel [T1]) Bezug genommen wird:

 

"Celan betonte in Gesprächen wiederholt, daß er die Neuheit eines jeden Wortes in einem Gedicht sehr hoch einschätze. Von daher, so meinte er, müßten seine Gedichte unmittelbar zu Gehör gehen. Ein bestimmtes Vorwissen hielt er oft geradezu für abträglich, so zum Beispiel bei dem oben erwähnten [D. Meinecke ist vorher kurz auf die Ausführungen von H. P. Neumann eingegangen - W.W.] Estremadura. Es habe hier keine besondere Bedeutung mehr, sagte er. Allerdings rechnete er merkwürdigerweise fast immer mit der Kenntnis der jüdischen oder chassidischen Religionsgeschichte beim Leser." (Meinecke 1973, 20).

 

Die Frage nach Umfang und Art zu veranschlagender Kenntnisbestände gewinnt in den letzten Jahren zunehmend im Rahmen von Untersuchungen an Brisanz, in welchen die verschiedenen Fassungen eines Gedichts miteinander verglichen werden. Die Genese der jeweiligen autorisierten Fassung - welche oft über mehrere handschriftliche Varianten vermittelt ist - soll Aufschluß darüber geben, auf welchen Daten ein sprachlicher Ausdruck beruht oder eine wortübergreifende Passage. Amy Colin zählt diesbezügliche Untersuchungen zu den "Grundproblemen der gegenwärtigen Celan-Forschung" (Colin 1993, 245). In Übereinstimmung mit dem, was zur Hermetikfrage und zur Textverdichtung vermerkt worden ist, stellt Colin fest, die historisch-kritische Ausgabe des Werks werde "jene Germanisten vermutlich enttäuschen, die einen heiß ersehnten Schlüssel zum Verständnis der Werke Celans suchen" (245). Betont wird in dem Zusammenhang die Eigenständigkeit der verschiedenen Varianten, hier von OSTERQUALM (II/85): Es gibt "keine Engführung verständlicher Fassungen in ein hermetisches Wortgeflecht", keinen bewußten "Verschlüsselungspro-zeß", der die Genese der einzelnen Gedichte prägt (Colin 1993, 245). Colin weist aber darauf hin, daß einige Textentwürfe entsprechende Hoffnungen zur Enttarnung gewisser Anspielungen durchaus zu "bestätigen" scheinen:

 

"So enthalten die ersten Fassungen seines Gedichts Huhediblu [...] explizite Hinweise auf Gelesenes und Erlebtes. Doch diese Quellen seines dichterischen Schaffens sind in der veröffentlichten Variante nicht mehr erkennbar. Nur noch enigmatische Wortbrocken und Zitatfragmente liegen dem Leser vor. Selbst der kundigste Germanist würde in Celans dadaistischer Verszeile 'Wann, wannwann,/Wahnwann, ja Wahn,' [...] keine Anspielung auf Arnold Zweigs Roman 'Das Beil von Wandsbeck' vermuten." (Colin 1993, 245).

 

Damit ist die Ausgangssituation deutlich genug erfaßt: Bei den Aspekten, die unter (1) bis (8) aufgelistet worden sind, handelt es sich nur um die Spitze eines Eisberges; die wesentlichen Streitfragen betreffen Bestrebungen zur Enttarnung von Daten ganz unterschiedlicher Art, welche nicht gleichsam auf der Hand liegen. Es handelt sich dabei genau um diejenige "verdeckte Reproduktion" nach Helmut Heissenbüttel, auf die Karl Riha in "Cross-Reading und Cross-Talking" mit Blick auf verschiedene Montage-Techniken eingegangen ist (vgl. Riha 1971, 82).


6.3.2. Zur Diskussion um Wissensfragen in der Celan-Philologie

 

Es gibt keine größere Arbeit, in der nicht die Rolle des beim Verstehen und Interpretieren zu veranschlagenden Wissens thematisiert wird. Eine einigermaßen befriedigende Bezugnahme auf entsprechende Wissensfragen ist aber in der Celan-Philologie nur selten erkennbar; im wesentlichen ist für die Auseinandersetzungen bezeichnend, daß Wissensbestände bzw. Kenntnisse unterschiedlichsten Typs gegeneinander ausgespielt werden.

Grundlegende Argumentationshinsichten der Auseinandersetzung um den Wissensaspekt sind - wie für fast alle anderen Fragen in der Celan-Philologie - mit den Arbeiten von Gadamer und Szondi vorgegeben. Vorauszuschicken ist aber folgendes: Es ist bei genauer Prüfung der beiden Arbeiten, nämlich Gadamer (1973/1986) und Szondi (1972), eigentlich nicht recht erkennbar, wie es dazu kommen konnte, daß diese in der Celan-Philologie immer wieder gegeneinander ausgespielt werden. Denn die von Szondi und dann Gadamer vertretenen Positionen sind durchaus nicht klar genug profiliert, um einander entgegegengesetzt werden zu können. Weil es allenthalben an der nötigen Klarheit mangelt, lassen sich die jeweiligen Ausführungen für ganz unterschiedliche Schlußfolgerungen zum Wissensproblem vereinnahmen; je nachdem, auf welche Textstellen man sich stützt, kann man Gemeinsamkeiten oder Kontroverses hervorkehren.

Peter Horst Neumann hat der Neuauflage seines Buches (1. Aufl. von 1968) das Kapitel hinzugefügt: "Was muß ich wissen, um zu verstehen?" (Neumann 1990, 100-107). Er äußert sich recht unverbindlich dazu und verweist auf Szondi und Gadamer, wo "die Probleme des 'Verstehens' dunkler Poesie so deutlich formuliert" seien, "wie vielleicht nirgendwo sonst"; er fügt hinzu: "Und es geht um die Bedeutung des Vorwissens." (Neumann 1990, 102).

 

Neumann geht auf die angebliche Kontroverse folgendermaßen ein: Die "Erfahrungsdaten" zu dem oben unter [T12] angeführten Gedicht DU LIEGST (Neumann hat übrigens nicht bemerkt, daß "Eden" nur der Titel des Beitrags von Peter Szondi ist und nicht der des Gedichts; vgl. 102) habe Szondi als "unerheblich" für ein Verständnis bezeichnet; Gadamer hingegen habe sich für "die Unersetzbarkeit solcher Informationsvorgaben ausgesprochen" (vgl. 102 und die nachfolgenden Bemerkungen dazu). Hingewiesen sei auch auf die kenntnisreichen Darlegungen von Theo Buck zur Rezeptionsgeschichte dieses Gedichts; Theo Buck setzt ebenfalls bei der Kontroverse zwischen Szondi und Gadamer an (vgl. Buck 1988, 140-141).

 

Szondi ist sicher argumentativ geschickter als Gadamer verfahren, welcher sich auf viel weitläufigere Darlegungen eingelassen hat, die sich aber bei ihm nach und nach in zunehmender Unverbindlichkeit verlieren. Szondi hat den möglichen Anschlußkommunikationen in der Celan-Philologie in dem Beitrag "Eden" (Nachlaß zu dem Gedicht DU LIEGST - vgl. [T12]) eine geradezu erdrückende Fülle an biographischen Daten präsentiert, um dann auf einmal darauf hinzuweisen, man müsse diese "empirische Prämisse hinter sich" lassen, "wenn anders das Gedicht ein Gedicht sein soll" (Szondi 1972, 121/122).

 

Er weist darauf hin, daß das Gedicht "in der Nacht vom 22. auf den 23. Dezember 1967" als ein "Nachtgedicht, ein Vorweihnachtsgedicht" (Szondi 1972, 114) entstanden sei. Am 26. Dezember 1967 sei Celan in Berlin eingetroffen (vgl. 116). An einem der ersten Abende habe Celan von Szondi den gerade erschienenen Band "Der Mord an Rosa Luxemburg und Jarl Liebknecht. Dokumentation eines politischen Verbrechens" erhalten (118), und er habe ihm das "Apartmenthouse" mit dem Namen "Eden" gezeigt, "in dem Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die letzten Stunden ihres Lebens verbracht hatten". Auf die Zeugenaussagen der genannten Dokumentation sind verschiedene Passagen in dem Gedicht bezogen: So habe man einem Zeugen geantwortet, "daß Liebknecht durchlöchert wäre wie ein Sieb"; und "über Rosa Luxemburg habe es geheißen: Die alte Sau schwimmt noch" - nach dem Bericht "einer der Mörder" (vgl. 119). Es kommen viele weitere Daten hinzu, die in das Gedicht eingehen; Szondi stellt fest: "ohne die Fahrt zur Havel, zum Landwehrkanal, am 'Eden' vorbei, ohne den Besuch des Weihnachtsmarktes, der Hinrichtungskammer in Plötzensee, ohne die Lektüre der Luxemburg-Liebknecht-Dokumentation ist das Gedicht nicht denkbar." (120). Aber er schließt dann an, Celan habe "in jenen Tagen vieles andere gesehen, gelesen, erfahren", das im Gedicht nicht vorkomme, womit die "Bedingtheit" des Gedichts durch "die Zufälle des realen Lebens" bereits "eingeschränkt" werde (vgl. 120). Die Wendung, die Szondis Ausführungen anschließend nehmen - nachdem die Ausdrücke Fleischerhaken ("Mord und Hinrichtung") und Äppelstaken ("Weihnachtsbescherung") zueinander in Beziehung gesetzt werden -, ist durchaus merkwürdig; er stellt dann nämlich fest:

"Nichts indessen wäre größerer Verrat am Gedicht und an seinem Autor. Wie sehr auch diese Verknüpfung ihre Vorbedingung in der Koinzidenz von Celans Berliner Tagen mit der Weihnachtszeit hat, sie muß diese ihre empirische Prämisse hinter sich gelassen, seine eigene Begründung sich gegeben haben, wenn anders das Gedicht ein Gedicht sein soll." (Szondi 1972, 121/122).

Die "Kenntnis der Realien", wie sie in dieses Gedicht eingegangen sind, machen, so Szondi, "noch keine Interpretation des Gedichts aus". Eröffnet werde darüber nur "die entstehungsgeschichtliche Dimension" (115). - Anschließend schreibt Szondi vom "Gedicht als Sprachgewebe", das "im Spannungsfeld von signifié und signifiant, Sinn und Laut" stehe; es konkretisiere "die Gedankenassoziation nicht so sehr diskursiv, im Nacheinander der Satzaussage, als vielmehr in dem vom Sprachmaterial bereitgestellten Ineinander, in Jakobsons Terminologie: nicht metonymisch, sondern metaphorisch" (Szondi 1972, 124).

 

In Übergehung der zuletzt genannten Analyserichtung kann für den Wissens-aspekt festgehalten werden: Durch die Ausführungen Szondis werden mögliche Interpreten auf den Weg der exhaustiven Zurkenntnisnahme biographischer Daten gelockt (mit denen Szondi aufgrund seiner Beteiligung an entsprechenden Entstehungsdaten zu dem Gedicht kokettieren kann), um sie dann in einem Zwiespalt zurückzulassen, der sich in Fragen äußert wie: Soll ist das wissen? Muß ich das alles wissen? - Konsequent müßte sich ein Rezipient des Gedichts sogar die Frage stellen: Wie gelingt es mir, erworbene Kenntnisse anschließend aus meinem Gedächtnis auszumerzen? - Im Grunde ist dies die Inszenierung einer schizophrenen Rezeptionshaltung. Als Vorgabe ist das, was Szondi zu Wissensvoraussetzungen darlegt, nicht minder problematisch wie seine Hinweise auf Walter Benjamin und gar Jaques Derrida. Durch letztere wurde - wegen sklavischer Orientierung an Peter Szondi - dem einen oder anderen Interpretationsansatz die Ausrichtung auf wirren (Sprach-)Mystizismus vorgezeichnet. Und seine Ausführungen zu Wissensfragen geben in Anschlußkommunikationen hinreichend Anlaß dafür, die schwierigen Probleme um Wissen, Verstehen und Interpretieren in unklarer Weise zueinander in Beziehung zu setzen.

Interessanterweise hat Gadamer hinsichtlich der Rolle verfügbarer (im wesentlichen) biographischer Kenntnisse überhaupt nicht viel anders als Szondi geurteilt. In dem Nachwort zur revidierten Ausgabe seiner Arbeit zu Celan stellt er die Frage: "Was muß der Leser wissen?" - und beantwortet sie so:

 

"Wer ein Gedicht richtig verstehen will, muß in jedem Falle das Private und Okkasionelle, das der Information anhaftet, wieder völlig vergessen. Es steht ja nicht im Text. Worauf es allein ankommt, ist, das zu verstehen, was der Text selber sagt, unbeschadet aller Anleitung, die aus Informationen von außen zu kommen vermag." (Gadamer 1986, 138). Und ähnlich hat sich Gadamer bereits im Nachwort zur Erstauflage seiner Arbeit geäußert:

"Man muß nichts Privates und Ephemeres wissen. Man muß sogar, wenn man es weiß, von ihm wegdenken und nur das denken, was das Gedicht weiß. Aber das Gedicht will seinerseits, daß man alles das weiß, erfährt, lernt, was es weiß - und das fortan nie vergißt." (Gadamer 1973, 130).

 

Hier verbindet sich die von Szondi ins Spiel gebrachte Erwartung einer schizophrenen Rezeptionshaltung sogar mit einer merkwürdig hypostasierend erfaßten Vorstellung davon, was das Gedicht den Rezipienten abverlange. Abgesehen von den indiskutablen textlinguistischen Annahmen (Berufung auf den Text als Wesen sui generis, dem Bedeutungen eingeschrieben sind) werden Wissensbestände gegeneinander ausgespielt ("Information" und "Privates und Ephemeres", das ihr "anhaftet"), die Gadamer an anderen Stellen wiederum nicht so deutlich voneinander abhebt.

 

Man kann die Ausführungen von Gadamer (insbesondere diejenigen aus dem Nachwort zur Neuauflage) auch als Rechtfertigung seiner frühen naiven Interpretationen lesen, die oft als wahllos assoziativ kritisiert wurden. "Ich hatte kein Lexikon zur Hand", schreibt er, - und weiter: "Ich lag in einer Sandkuhle in den holländischen Dünen und wog die Verse hin und her, 'lauschend ernst im feuchten Wind', bis ich sie zu verstehen meinte" (138). So ehrlich wie hier und so unklar und wirr anderswo die Ausführungen von Gadamer auch sind, muß gerechterweise auf folgendes hingewiesen werden: Er geht durchaus nicht davon aus, es gebe ein voraussetzungsloses Verstehen: "Kein Leser ist ganz ohne Informationen". Und weiter schreibt er:

"Der fiktive Nullpunkt der Uninformiertheit oder auch die allgemeine Zugänglichkeit von Informationen ist kein sinnvoller Maßstab für das Gedicht und seinen Leser - offenbar so wenig wie das biographische Spezialwissen Szondis." (Gadamer 1986, 126).

 

Zum ersten ist bemerkenswert, daß Gadamer Wissensbestände umfassenderer Art (welche über Daten, die dem Gedicht zu entnehmen sind, hinausgehen) biographisch geprägten Daten zurechnet. Zweitens läuft alles, was er dazu festzustellen hat - wie eigentlich nicht anders zu erwarten - auf eine (zwischen den konstruierten Extremen) vermittelnde und letztlich unverbindliche Position hinaus: Einerseits verlangt das hypostasierend erfaßte Gedicht biographische Daten; andererseits sollen diese dem Gedicht, ähnlich bei Szondi, wieder vorenthalten werden - warum soll es dem Gedicht anders ergehen als Gadamer, der sich in den Dünen befand und nicht einmal ein Lexikon zur Hand hatte? Insgesamt gelangt allerdings Gadamer - mehr implizit als explizit - zu einer durchaus vertretbaren Einschätzung entsprechender Wissensfragen.

 

Gadamer findet einen Ausweg aus dem Dilemma, indem er folgendes annimmt: Die "Spannung zwischen besonderer Information und solcher, die man aus dem Gedicht selber schöpfen kann", sei "relativ" und werde sich "im Laufe der Wirkungsgeschichte eines Werkes" abschwächen; vieles werde dann "selbstverständlich bekannt sein, so daß jeder es weiß" (130). Die "Informationen" von außen seien "oft auch kostbar" (120); Szondi habe "mit Recht im Auge" gehabt, die "verschiedenen Ebenen des Verstehens" könnten "miteinander da sein", nämlich wenn die "autobiographisch belehrte Verstehensweise" jene Präzision "voll einholt", die der "ideale Leser" eines Gedichts "aus nichts als aus dem Gedicht selbst und aus den Kenntnissen, die er besitzt, erreicht" (132).

 

Unter Hinzunahme verschiedender Äußerungen aus den Anschlußkommunikationen zu diesen Auseinandersetzungen wird schlagartig klar, wo gewisse - auf den ersten Blick merkwürdig erscheinende - Argumentationen (samt komischer Redeweisen wie "Das Gedicht sagt" dies und das; "was das Gedicht sagt" u.a.m.) ihren Ursprung haben. So verlangt Vitiello hinsichtlich der Frage des einzubeziehenden Wissens eine Rezeptionshaltung, welche ohne die vorausgehenden Erörterungen kaum nachvollziehbar wäre:

 

Die Studien Pöggelers böten, so Vitiello, "aufgrund ihres Reichtums an Hinweisen" zwar "eine unerläßliche Lektüre für alle, die sich dem Werk Celans nähern wollen", aber man solle entsprechende Daten anschließend aus seinem Gedächtnis ausmerzen:

"Einmal gewonnen, sind diese Kenntnisse jedoch sozusagen zur Seite zu legen, um nicht in den Irrtum zu verfallen, die Dichtung auf der Basis dessen, was vor und außer ihr ist, verstehen zu wollen." (Vitiello 1993, 11).

Es ist dies eine vermittelnde Position, die im Grunde gänzlich merkwürdig und abwegig ist; Lyon hätte sie schlecht in seine Zweiteilung integrieren können, auf die anschließend kurz einzugehen ist. Offenbar zu DU SEI WIE DU (vgl. oben [T11]) stellt Vitiello fest, es sei "sicher interessant zu wissen, daß Celan in einem Gedicht dieselben Worte wie Meister Eckhart gebraucht, aber bezüglich des Verstehens dessen, was nicht Celan, sondern seine Dichtung sagt, ist dies nicht der entscheidende Punkt" (Vitiello 1993, 12). Eine solche Auffassung wirft ein bezeichnendes Licht auf eine unqualifizierte Redeweise vom Wissen; es stellt sich hier viel deutlicher als bei anderen heraus, daß es notwendig ist, doch zumindest in Umrissen auf Theorien des vernünftigen Redens über Wissen und unterschiedliche (statisch oder dynamisch erfaßte) Wissensbestände einzugehen (vgl. dazu 6.3.2.2.). Daß Vitiello mit seiner Schizophrenie-Erwartung durchaus nicht allein dasteht, zeigen verschiedene ähnliche Verlautbarungen in der Celan-Philologie.

 

Menninghaus nimmt zu der Frage um Wissensvoraussetzungen (in Anschluß an die Ausführungen Szondis) eine eigenwillige, nochmals etwas anders nuancierte Position ein: Menninghaus will in Menninghaus (1988) zur Klärung einer Frage beitragen, die zuerst von Szondi aufgeworfen werde, aber in der Celan-Philologie nicht beantwortet, sondern nur "verdrängt" worden sei (Menninghaus 1988, 170). Es handelt sich um die Frage, "ob es bei Celan überhaupt eine Art Aufstieg von den Daten des Kommentars zu Lektüre und Interpretation gibt [...]" (171). Dabei sei eine "implizite Theorie" vernehmbar, die zuerst von Peter Szondi infrage gestellt werde: Man habe bedenkenlos, aber meist nicht explizit, Früchte eines gewissen "Detektivspiels" als Voraussetzung bzw. auch als "Schlüsseldaten für die Gedichtlektüre eingesetzt" (170).

Da die Ausführungen von Menninghaus durchaus auch im Hinblick auf die Konzeption eines möglichen Bedeutungswörterbuchs zum Werk von Celan von Belang sind, sei anschließend etwas ausführlicher auf dessen Darlegungen eingegangen: Den zahlreichen ausgefallenen Ausdrücken, den Anspielungen und Zitaten nachzuspüren, gilt Menninghaus als problematisch; "denn die mühselige Erschließung der fragmentarischen Daten und Terme", so Menninghaus, "erfolgt ja ganz über Mittel, die dem Gedicht extern sind - Wörterbücher verschiedenster Art, Nachlesen dessen, was Celan gelesen hat oder besser gelesen haben könnte usw." (Menninghaus 1988, 182). Er stellt des weiteren dazu fest:

 

"Denn die Vorstellung eines decodierenden Zurück zu den vermeintlich kodierten Anlässen und Anspielungen [...] nivelliert Werk wie Lektüre auf ein Rätselspiel von Codierung und Decodierung, Verschlüsselung und Entschüsselung [...]." (Menninghaus 1988, 184).

 

In Menninghaus (1988) hebt sich ein durchaus nicht unbegründetes Mißtrauen gegen zu weit getriebene Recherchen hervor. Der Sache nach trifft sich das, was Menninghaus an entsprechenden Entschlüsselungsspielen moniert, mit den Ausführungen aus Colin (1993) zu den Genese-Recherchen eines Gedichts. Menninghaus bekennt (was er an einem Gedichtbeispiel erläutert), er glaube "nicht mehr so recht an die Zuständigkeit synthetisierender Puzzle-Spiele für Celans Gedichte" (Menninghaus 1988, 176).

Die "traditionelle Domäne der Zitat- und Anspielungssuche" ist nach Menninghaus die von "Referenzen auf überlieferte Worte, Bilder, Vorstellungen, Theologica usw." (177); bei Anerkennung dessen, daß es eine "enorme Voraussetzungshaftigkeit von Celans Dichtung" (177) - und zwar aus allen denkbaren, auch aus entlegensten Gebieten - gebe, trifft er folgende Unterscheidung: Zum einen gebe es "markierte" Zitate in relativ geringer Zahl, zum anderen eine Fülle von "unmarkierten" Passagen, die einer "zweiten Gruppe von Anspielungen und Zitaten" zugerechnet werden (vgl. 178).

 

Für Passagen, die durch Anführungszeichen oder typographisch per Kursivdruck hervorgehoben sind, sieht Menninghaus nicht diejenige "Kontingenz und Äußerlichkeit", wie sie durch "zufällige Spezialkenntnisse" mit Blick auf potentielle Kandidaten der zweiten Gruppe eine Rolle spielen. Was die erste Gruppe angeht, "sagt Celan quasi selbst", so Menninghaus: "mach einen Umweg über einen anderen Text"; die methodische Frage ist hier die: "wie weit soll und darf ich das Zitat 'ausbeuten'?". - Für die zweite Gruppe stellt sich die Frage "grundsätzlicher und radikaler: soll man die Anspielungen vielleicht besser überhaupt nicht kennen?" (178).

Hingewiesen sei hier nochmals auf die Ausführungen von Karl Riha in "Cross-Reading und Cross-Talking" zur "offenen Reproduktion" und "verdeckten Reproduktion" nach Helmut Heissenbüttel (vgl. Riha 1971, 82). Hingewiesen sei auch auf die "unmerklichen Zitierungen" nach Umberto Eco, "von denen nicht einmal der Autor weiß" und bei denen es sich "um den normalen Effekt des Spiels künstlerischen Einflusses" (Eco 1987, 54) handele.

Menninghaus hat für die problematische zweite Gruppe von "Anspielungen und Zitaten" die möglichen Positionen sehr ausführlich dargelegt. Die Celan-Forschung hat, so Menninghaus, "zu ihrem größten Teil Gadamers Versuch einer Disjunktion von Dichtung und abstraktem Spezialwissen genauso ignoriert wie schon Szondis offengebliebene Frage"; sie habe Celans Dichtung "in der Tat als gelehrten Gegenstand für Gelehrte behandelt [...]" (Menninghaus 1988, 181). Wo die "Diskrepanz von wissenschaftlicher und poetischer Legitimation" überhaupt in den Blick komme, werde sie sogleich "in Harmonie umgebogen"; damit ist eine Deutung in dem Sinne gemeint, Celans Gedichte "zögen den Leser in einen Prozeß bildender Aneignung hinein, der quasi immer weitere Kreise um das Gedicht ziehe und sich dabei Texte, Theoreme und Ereignisse verschiedenster Art integriere" (181).

 

Menninghaus hat in dem Beitrag mit großer Formulierungskraft die Problemlage durchaus treffend charakterisiert. Von einem "Bildungsprogramm", das "im angestrengten und auf Zufälle angewiesenen Suchen nach isolierten [...] Daten und Fakten [...]" besteht, hält Menninghaus nichts. Statt von "Bildung im emphatischen Sinn" spricht er lieber von "einem abstrakten Datenwissen" (181). Er stellt die Frage nach der Begründung "für die Strafarbeit des Lesers, ohne 'bib-liographische Angaben in undefinierten Quellen zu suchen" (182) und nach dem "Sinn", den es machen soll, in der Celan-Philologie "Dichtung auf einer super-enzyklopädischen Kenntnis verschiedenartigster, versprengter und zumindest unmarkierter Anspielungen zu fundieren und damit die eigene (virtuelle) Lesbarkeit an die Fleißarbeit ganzer Forschergenerationen zu delegieren" (183). Seiner Meinung nach ist aber das "Faszinosum einer Celan-Lektüre" gerade "nicht notwendig gebunden an die gelehrte De- und Rekodierung spezialisierter Wissensbestände". Eine solche Auffassung habe den Vorteil, den Umgang mit dieser Dichtung, welcher auf "gelehrtes Dateneruieren" verzichtet, "nicht automatisch zur Nicht-Lektüre zu stempeln" (183).

So zutreffend viele der Bedenken gegen die sich als wissenschaftlich ausgebenden Detektivspiele sind, wird der seit Szondi und Gadamer bekannte Argumentationsrahmen in Menninghaus (1988) letztlich nicht überwunden.

 

Menninghaus verweist auf Baumann, wonach Celan "bestrebt" gewesen sein soll, "selbst alle Wegspuren wegzuwischen, die sein Gedicht im Schöpfungsvorgang zurückgelegt hatte" (Baumann 1986/1992, 116). Er argumentiert zudem auch mit der bekannten "Offenheit" und äußerst auch dahingehend Bedenken, es könnten für die eine oder andere Passage, die als Zitat oder Anspielung gleichsam "dingfest gemacht" worden ist, "jene Unbestimmtheitsvaleurs" verloren gehen, die sie "im Spiel des Textes vielleicht gerade haben soll"; die Enttarnung sei "kontraproduktiv"; dem "Spiel der Einbildungskraft" werde dann "nicht mehr genügend Raum" gelassen. Szondi wird paraphrasiert, wenn Menninghaus darauf hinweist, daß einmal gewonnene "tendenziell falsche Konkretheit einzelner Daten" kaum wieder rückgängig zu ma-chen sei (vgl. Menninghaus 1988, 187).

 

Der Schluß, zu dem Menninghaus nach wortreichen Erörterungen gelangt, ist nicht unproblematisch:

 

"Celans Geheimniskrämerei bei gleichzeitiger Anspielungswut könnte daher auf einem Bewußtsein um eine Voraussetzung von Lektüre beruhen, die ich produktives Nicht-Wissen nennen möchte. Nicht-Wissen meint dabei keine Voraussetzungslosigkeit der Lektüre, kein Nichts-Wissen, sondern eine Differenz zum Setzen auf 'Entschlüsselung' durch abstrakt-singuläres Fakten-Wissen. (Nicht-Wissen in diesem Sinn kann das Bewußtsein um die theoretische, die poetologische Voraussetzungshaftigkeit von Celans Dichtung sogar eher vertiefen als verhindern). Als Celan-Leser sollen wir dieses Nicht-Wissen vielleicht nicht so sehr in positives Wissen überführen als vielmehr stets auch als Nicht-Wissen - als ein Negativ-Positives - bewahren und in sich bewegen." (Menninghaus 1988, 187).

 

Es ist dies ein zwar sprachlich schöner, aber gänzlich unbefriedigender Schluß der verwickelten Erörterungen, der sich als freie Improvisation über ähnliche Äußerungen von Szondi und Gadamer begreifen läßt. Menninghaus mag geglaubt haben, mit seinem "produktiven Nicht-Wissen" etwas Bedeutsames ins Spiel gebracht zu haben; es ist dies aber sicher eine ganz abwegige Kreation.

 

Daß an der Kreation des "produktiven Nicht-Wissens" etwas grundsätzlich im argen liegt, ist bereits daran ablesbar, daß vielfältige Zusätze nachgeschoben werden. Es wird hier die merkwürdige Rezeptionszumutung - erst wird eine Fülle an Hintergrundsdaten geboten; dann soll sie schleunigst aus dem Gedächtnis ausradiert werden - sprachlich ins Positive gewendet und als "produktives Nicht-Wissen" auf den Begriff gebracht. Daß der Wissensbegriff völlig wirr und unklar ist, bedingt die weiteren Darlegungen: Die Unklarheiten, die bezeichnenderweise durch nachgerechte Abgrenzungen vom "Nichts-Wissen" und "Fakten-Wissen" auszuräumen versucht werden, bleiben bestehen; aber es ist das Bemühen erkennbar, dem liebgewordenen Ausdruck produktives Nicht-Wissen den Status eines Terminus zu geben. Hier gilt in der Tat, daß der Rede Sinn dunkel ist; der Sinn des Ausdrucks produktives Nicht-Wissen ist mindestens so unklar wie alles, was Celans Gedichten oft genug an Dunkelheit zugeschrieben wird. Indem mit dem Textsegment "Nicht-Wissen in diesem Sinn" qua Pronomen auf den fraglichen Ausdruck Bezug genommen wird, suggeriert Menninghaus, der Ausdruck sei vorab geklärt, es sei bereits erfaßbar, was mit dem Ausdruck gemeint ist. Davon aber kann überhaupt nicht die Rede sein; eigentlich wird alles noch schlimmer, wenn jetzt weiterphantasiert wird, der Ausdruck "produktives Nicht-Wissen" könne "die poetologische Voraussetzungshaftigkeit von Celans Dichtung sogar eher vertiefen als verhindern". Als weitere Zugabe an dunkler Redseligkeit stellt Menninghaus schließlich sogar in Aussicht, man könne als Leser das "Nicht-Wissen" als "Negativ-Positives" auffassen und gar "in sich bewegen" (Menninghaus 1988, 187). -

 

Im Umkreis der Bezugnahmen auf Szondis Ausführungen zu dem Gedicht DU LIEGST hat Derrida eine besonders extreme Position bezogen, die gar das "produktive Nicht-Wissen" zu überbieten in der Lage ist. Derrida honoriert zunächst zwar die Daten Szondis mit den Worten, dieser habe "uns unersetzbare Losungswörter für den Zugang zu diesem Gedicht" geliefert; aber anschließend stellt er fest:

 

"Und dennoch wird ein Gedicht ohne Lotsen auskommen, ohne die Komplizenschaft eines vorinformierten Dechiffrierers, ohne die 'äußere' Kenntnis eines Datums; es wird aus einer gewissen Notwendigkeit heraus - selbst allein gelassen und ohne Zeugen - zu sprechen anfangen im Sinne Celans, der vom Gedicht sagt: 'Aber das Gedicht spricht ja!, und zwar jenseits dessen, was es in die von einer Individualerfahrung datierte Einzigartigkeit einzukapseln scheint." (Derrida 1986, 39).

 

So unzulänglich im einzelnen die jeweiligen Verlautbarungen zu Wissensfragen in der Celan-Philologie auch sind - insgesamt ist erkennbar, daß eine Rückbindung an den alltäglichen Gebrauch des Ausdrucks wissen nicht in Frage gestellt ist; ja es wird eigentlich immer damit gerechnet, irgendwie schon verstanden zu werden. Die dekonstruktivistischen Mystifizierungen des Wissensbegriffs bei Derrida sind allerdings nicht mehr interpretierbar:

 

"Durch das, was ich anderswo sein einfaches Bleiben (resistance) genannt habe, spricht das Gedicht jenseits des Wissens. Es schreibt, und das, was es schreibt, ist zunächst eben, daß es sich jenseits des Wissens richtet und dort seine Bestimmung findet, indem es Daten oder Unterschriften einschreibt, die man antreffen kann, um sie zu segnen, ohne all das zu kennen, was sie datieren oder kennzeichnen. Eine Segnung jenseits des Wissens, ein Gedenken im Vergessen, durch Vergessen oder das nicht geteilte Geheimnis, die Teilung des Unteilbaren." (Derrida 1986, 75).

 

Derartigen Äußerungen verwandt ist manches von dem, was Sieghild Bogumil zu Wissensproblemen festzustellen hat. Zu dem Gedicht IN DER FERNSTEN (III/77) stellt sie die Frage, ob es "Zufall" sei, daß Celan vor seinem Tode das Gedicht mit der Formulierung die wahnfeste Zeit beende; "wir wissen es nicht", schreibt sie und schließt an:

 

"Was wir hingegen wissen und was die Poesie Paul Celans in unerwarteter und neuer Weise zeigt, ist, daß es ein menschliches Wissen gibt hinter dem Wissen, welches nur im Besitz der Dichter ist und das ihr Wort uns sagt." (Bogumil 1983, 104).

 

Am deutlichsten ist - im Umkreis der neueren Arbeiten zu Celan - noch James K. Lyon auf die Grundfrage nach Qualität und Quantität des Wissens eingegangen, das zur Erreichung eines Irgendwie-Verständnisses oder zu Zwecken einer tiefergreifenden Interpretation zu veranschlagen ist. Lyon hat (vgl. zu dessen Position auch 6.2.3.) zwei Positionen idealtypisch auseinandergehalten und belegt: die mimetische bzw. referentielle Position ("Referentialisten") und die Position, die er als "autonomistische" bezeichnet ("Autonomisten"). Referentialisten bringen vielfältige biographische, historische und andere Daten ins Spiel; Autonomisten hingegen konzentrieren sich darauf, "wie die sprachlichen Elemente in der Lyrik arbeiten"; für sie ist "die Berücksichtigung jeglicher biographischer oder geschichtlicher Aspekte 'unscientific contraband' und ein 'backdoor approach'"(Lyon 1993, 253).

 

Wenngleich die idealtypische Entgegensetzung der beiden Positionen gewisse Verzerrungen mit sich bringt, sieht Lyon doch die autonomistische Position nicht unzutreffend vertreten durch folgende Auffassungen: "Befreiung der Sprache von referentieller und lexikalischer Bedeutung", Unabhängigkeit der angenommenen poetischen Sprache "von menschlichen kommunikativen Kräften" (253), Herstellung einer textlichen Realität im Gedicht bzw. Ersetzung der äußeren Realität durch eine ganz neue (154). Hingewiesen sei vor allem darauf, was Lyon zur autonomistischen Position mit Blick auf die Holocaust-Problematik schreibt, wie sie evident in dem Gedicht ES WAR ERDE IN IHNEN (I/211) hervortritt. Wer hier zugunsten einer Rede von autonomer Sprache - unter Veranschlagung von Metaphern und der Annahme der Schaffung einer bloß sprachlichen Realität im Text - die Bezüge zum Holocaust ausspart, kann nur in die Irre gehen. Lyon hat das, was man viel drastischer zu den Auswirkungen einer derartigen Theoriesicht vermerken könnte, in vornehmer Zurückhaltung so gefaßt: Für einen Autor, der "vom Holocaust so verfolgt war wie er", führen "Behauptungen über eine autonome Sprache, die mimetische Überlegungen und identifizierbare Bezüge zu einem solchen Geschehen ausklammern, zu Fragen, die weit über die Ästhetik hinausreichen" (Lyon 1993, 258).

 

Die Ausführungen aus Lyon (1993) bieten sicher eine nützliche Orientierung im Dschungel der Argumentationen zu Wissensfragen. Allerdings geht nach allem, was dazu in vorausgehenden Kapiteln ausgeführt worden ist, erstens die implizit von Lyon vertretene Zeichentheorie (vgl. den Titel: "Der Holocaust und nicht-referentielle Sprache") windschief an einer vertretbaren zeichentheoretischen Position vorbei. Und zweitens wird - weil der Autor ausschließlich in demjenigen literaturwissenschaftlichen Bezugsrahmen argumentiert, der ihm zugänglich ist - überhaupt nicht deutlich, worauf die Zweiteilung im wesentlichen beruht: Sie beruht nämlich weithin auf der traditionellen Auffassung, es könne eine strikte Grenzlinie zwischen sprachlichem Wissen im engeren Sinne einerseits und Weltwissen bzw. enzyklopädischem Wissen andererseits gezogen werden. Soweit tatsächlich die einen oder anderen Autoren der jeweiligen Ausrichtung eindeutig zuzuordnen sind (Referentialisten vs. Autonomisten), wird damit sicher ein problematischer Kenntnisstand reflektiert. Im einzelnen dürfte es den jeweiligen Theoretiker(inne)n - wegen verfügbarer Immunisierungsstrategien - ein leichtes sein, sich gegen die Vereinnahmung zugunsten einer der beiden Seiten zur Wehr zu setzen.

Es sind mit einer derartigen Einteilung von Zugangsweisen zu dichterischen Werken selbstverständlich ganz grundsätzliche Probleme aufgeworfen, die mit dem Streit um Interpretationen im Zusammenhang stehen (vgl. dazu die Ausführungen unter 6.2.3.) und auch außerhalb der Celan-Philologie heftig diskutiert werden.

 

Hingewiesen sei an dieser Stelle nur auf eine Kontroverse außerhalb der Celan-Philologie: Der bedeutende Germanist Albrecht Schöne äußert sich in Schöne (1993) in einem Anhang, in dem es um die Kritik an seinem Versuch zu Goethes Hymne "Auf dem Harz im Dezember 1777" geht, welche der Kritiker Klaus Weimar vorgebracht hat, so:

"Es handelt sich bei diesem Spätableger der Staiger-Schule um eine in programmatischer Weise strikt auf textinterne Wahrnehmungen beschränkte, dabei in Ansätzen strukturalistisch verfahrende 'Modellanalyse'. Erklärtermaßen nur 'mit Wörterbuch und Bibel' ausgerüstet ('Surrogate verlorener Sprachkompetenz'), geht der Verfasser also vor, als ob er mehr nicht kenne und wisse - ja: als ob er mehr zu wissen und weitere Kenntnisse in Anschlag zu bringen, von vornherein in die Irre ginge und überhaupt unzulässig sei. Wörter freilich bezeichnen in der Regel nicht nur sich selbst und können auch dann, wenn sie einen poetischen Verbund eingehen, textexterne Bedeutungen bewahren oder annehmen und in das Gedicht hineinholen; 'etwas Sachkenntnis aus zeitgenössischen Quellen' also läßt Weimar immerhin zu [...]. Welche das sei und wieviel davon, macht er nicht deutlich - wohl aber, daß das eine auf andere Goethesche Schriften gestützte, gar schon 'biographische' Sachkenntnis keinesfalls sein dürfe." (Schöne 1993, 235/236).

Albrecht Schöne glaubte sich rechtfertigen müssen, weil er "aus dem 'Sinn und Ton des ganzen Unternehmens' dieser Harzreise" unter Zuhilfenahme biographischer Zeugnisse versucht hat, "die auf sie bezogenen 'geheimnisvollen' Verse zu deuten." Er stellt zu seiner Motivation fest:

"Und das aber nicht, weil ich den Rückgriff auf biographische Zeugnisse für ein universal verwendbares Interpretationsrezept hielte, sondern weil es autobiographisch angelegte Dichtungen gibt, die sich allererst einem solchen Zugriff erschließen, und weil man unserem reich sortierten Handwerkskasten unterschiedlicher Methoden vernünftigerweise doch diejenigen Instrumente entnehmen sollte, die dem jeweiligen Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Bemühungen angemessen erscheinen, also etwas zutage zu fördern vermögen." (Schöne 1993, 236).

In Goethes Harzreise seien entsprechende Zeugnisse vorhanden, weil sich Goethes Äußerungen auf die "sonderbaren Bilder" dieses "dichterischen Protokolls" der "Wallfahrt" in den Harz beziehen. Deshalb handele es sich, so Schöne, bei seiner Deutung nicht um eine "Außenansicht des 'Eigentlichen'", sondern um etwas, was "eine Einsicht eröffnen kann in das, was hinter den Wortoberflächen" steht, "von ihnen verdeckt, aber in ihnen gegenwärtig" (Schöne 1993, 236). Deshalb erscheint Schöne die Arbeit des Kritikers "verfahrenstechnisch gerade deshalb" als "lehrreich, weil er den Scheuklappenversuch seiner 'immanenten Interpretation' an einem denkbar ungeeigneten Gegenstand vornimmt und vorführt, zu welch zweifelhaften oder abwegigen Deutungskonstruktionen man in einem solchen Fall beinahe zwangsläufig gelangt" (Schöne 1993, 237).

Und George Steiner stellt zu dem "Rückgriff der Philologie auf das Biographische, auf die Intentionalitäten des Schriftstellers oder Künstlers oder Komponisten" fest, es sei dies "ein Minenfeld" (Steiner 1990, 223). Für ihn ist das "Spektrum vorstellbarer Interaktionen zwischen Leben und Werk, der philosophisch und semantisch unsichere Status des Selbst als Denk- und Sprechgestalt" allzu "fließend, linguistisch zu labil, als daß sich irgendeine deterministische Verbindung herstellen ließe". Parallelen zur Celan-Philologie lassen sich herstellen, wenn er zu Shakespeare feststellt:

"Unsere Überzeugung, daß irgendeine tiefe Verwirrung des Geistes und der Sexualität das Entstehen von King Lear und Timon of Athens begleitet hat, mag nichts als triviale Rationalisierung sein: Wir haben in keinem Fall auch nur einen Fetzen von Evidenz." (Steiner 1990, 224).

 

Lyon nimmt eine Position ein, die zwischen Abstraktionisten und Referentialisten vermittelt. Da vorab zwei extreme Standpunkte idealtypisch einander entgegegengestellt worden sind, fällt die Schlichtung erwartungsgemäß aus: Die einseitige Orientierung an der sprachlichen Seite von Gedichten führe zu wenig tragfähigen Ergebnissen; und "ohne die menschliche Hälfte der Sprachbezüge zu kennen", enden "in vielen Gedichten", so Lyon, entsprechende Bemühungen um ein Verständnis "mit weniger als nichts" (258):

 

"Man kann nicht genug über die in einem Gedicht wirkende Sprache wissen, und wenn diese Sprache sich auf konkrete Erfahrungen bezieht, schließen Leser, die diese Beziehung bewußt ignorieren, eine Dimension des Gedichts aus, ohne die es unvollständig ist." (Lyon 1993, 258).

 

Sollte sich also der Streit zwischen Autonomisten und Referentialisten in ganz einfacher Weise dahingehend auflösen, möglichst vollständig die irgendwo von irgendwem zur Verfügung gestellten Hintergrundsdaten zu einem Gedicht unterschiedslos - sei es mehr Sprachwissen oder mehr Weltwissen (inklusive biographisches Wissen) heterogener Art - in Anschlag zu bringen? Lyon meint hier (im Rahmen seiner Konstruktion) eine die jeweilige Gegenseite begütigende Position einnehmen zu müssen. Er läßt damit eine unentschiedene Haltung erkennen; aber der Tendenz nach gehen seine Ausführungen in die Richtung, keine Begrenzungen für die einzubeziehenden Wissensbestände vorzusehen.

 

Seine durchaus treffenden Beispiele beziehen sich vor allem auf biographische Daten. Mit Blick auf das Gedicht TODTNAUBERG (II/225) weist er zurecht darauf hin, daß kaum "ein auch nur partielles Verständnis" zu vermitteln ist, wenn man nicht weiß, daß das Gedicht nach dem Besuch bei Heidegger im Schwarzwald geschrieben wurde, und ohne Darstellungen zu "Celans quälender Ambivalenz dem Philosophen gegenüber zu berücksichtigen" (259). Wie hier die Kenntnis biographischer Daten zum Verhältnis von Celan und Heidegger unabdingbar ist, sind zum Verständnis des Gedichts ZÜRICH, ZUM STORCHEN (I/214) Daten zum Zusammentreffen Celans mit Nelly Sachs in Zürich erforderlich (Lyon 1993, 259).

 

Ralf Zschachlitz hat in seiner Arbeit sehr deutlich auf ein "möglichst großes Wissen" gesetzt; Celans Dichtung sei "insoweit elitär, als sie ein möglichst (all)umfassendes Wissen als Ideal fordert" (Zschachlitz 1990, 168). Zu der Frage, ob der Leser "über die Anlässe und die Entstehungsgeschichte der Gedichte informiert" sein müsse, nimmt Zschachlitz folgendermaßen Stellung: Eine Rezeptionshaltung, nach der die Gedichte als "Verrätselungen und Puzzles betrachtet" (166) werden, lehnt er ab; aber zu den Darlegungen von Szondi und Gadamer äußert er sich kritisch folgendermaßen:

 

"Doch ist weder Gadamers negativer Bescheid zur Frage, ob der Leser etwas über die Entstehung und die Ursprünge der verarbeiteten Motive wissen müsse, überzeugend, da dessen immanente Interpretationen zum ersten Zyklus von ATEMWENDE über weite Strecken wahllos assoziativ sind [...], noch löst Szondi in der Interpretation des Gedichts DU LIEGST seine ablehnende Haltung zur Frage des Wissens über die Entstehungsgeschichte ein, da er solch biographisches Wissen als Schmuggelware mit in die Interpretation einbringt. [...] Wäre Celans Gedicht DU LIEGST heute noch ohne Szondis Informationen lesbar?" (Zschachlitz 1990, 166).

 

Kritisch geht Zschachlitz auch auf das "produktive Nicht-Wissen" nach Menninghaus ein (er bezieht sich dabei auf einen anderen Beitrag als den vorab zitierten); die Lösung von Menninghaus hält Zschachlitz für "alles andere als adäquat" (167).

 

Allerdings argumentiert er in penetranter Weise gesellschaftspolitisch insofern, als er folgendes ins Spiel bringt: Es gebe "im Bereich der gesellschaftlichen Produktion noch Kreise, die dem Nicht-Wissen der produzierenden Klasse Positives abzugewinnen vermögen"; eine solche "Forderung" sei "nicht nur unproduktiv, sondern reaktionär", weil Dichtung auf einen "rein formalen Protest" (166) reduziert werde.

Zutreffend wird sicher folgendes gesehen: Bei den Versuchen, die Dichtung Celans "als unmittelbar zugänglich" darzustellen und "geistig vermittelte objektive Inhalte der Dichtung in den Hintergrund" (168) zu rücken, handele es sich um die "wohlmeinenden Versuche, Celans Dichtung für eine möglichst breite Rezeption zu retten" (Zschachlitz 1990, 167).

 

Zschachlitz spricht sich (im Unterschied etwa zu Menninghaus) recht deutlich dafür aus, "Bildung" sowie "Wissen und Erfahrung" in einem sehr ausführlichen Sinne für das Verständnis dieser Dichtung zu veranschlagen; denn, so Zschachlitz: "eine wachsende Bildung kann ihr alles andere als schaden" [...]. Aufgrund verschiedener problematischer Bezugnahmen - insbesondere ausgerechnet auf Derrida; vgl. 164-165 - bleiben die Ausführungen von Zschachlitz letztlich nicht minder unverbindlich als diejenigen der von ihm kritisierten Autoren: Die "in Form von montierten Zitaten aus allen Bereichen eingeschriebenen Daten" sollten nach Zschachlitz als "Gegenworte" erkannt werden; und dies wiederum sei nur möglich in einer "geistvermittelten Solidarität" (168) zwischen Autor und Leser.

 

Nicht ganz von der Hand zu weisen ist, daß es einer "stillen Übereinkunft zwischen Autor und Leser" bedürfe, einer "Solidarität", einer "Neudurchdringung von Wissen und Theorie durch das Gefühl", die (durch Kenntnisse) "angeeignet" sein müsse (165). Zschachlitz bemüht sich sogleich darum zu erläutern, daß das "Zustandekommen eines Einverständnisses mit dieser Lyrik" kein "mystisch-unmittelbares Einverständnis" (165) sei. Aber worauf er hier hinweist, sind unverbindliche Äußerungen für etwas, das auch Leser(innen) von Groschenromanen mit ihrem Autor/ihrer Autorin verbindet; insofern führen die Ausführungen von Zschachlitz im Kontext der Erörterung von Wissensfragen mit Blick auf das Werk Celans nicht weiter.


Als Fazit der knappen Sichtung zum Umgang mit Wissensfragen in der Celan-Philologie läßt sich folgendes festhalten:

 

(i) Es wäre naiv anzunehmen, es ginge hier ausschließlich um die Klärung disziplininterner Sachfragen zu dem Status unterschiedlicher Wissensbestände. Vielmehr zeichnen sich die Auseinandersetzungen in der Celan-Philologie dadurch aus, daß anstehende Sachfragen in durchaus auffälliger Weise von der jeweils geleisteten Imagearbeit (im Sinne von Holly 1979) beherrscht werden: Wer sich auf persönliche Bekanntschaft mit Celan berufen und gar Äußerungen Celans zu dieser Frage in die Diskussion einbringen kann, hat sicher sozusagen gute Karten im Meinungsstreit um Wissensfragen. (Man kann voraussagen, daß noch einige Büchlein im Umkreis der "Ich und Celan"-Zeugnisse auf den Markt kommen werden). Die besten Karten haben noch jene, welche darüber hinaus ihre Mitwisserschaft bei der Entstehung des einen oder anderen Gedichts anführen können, wie seinerzeit Peter Szondi. Die Nachgeborenen aber müssen sich damit begnügen, was ihnen Giséle Celan mitgeteilt hat, oder in welchem Umfang ihnen von Erec Celan der Zugang zu der einen oder anderen Urfassung eines Gedichts erlaubt wurde (vgl. dazu Vorworte zu verschiedenen Monographien, aber auch Aufsätzen).

Das Wissenschaftsspiel stellt sich in der Celan-Philologie weithin als Wissensspiel und Spiel um Wissensvorsprung heraus, das manchmal (weil es auch ein Spiel um Macht ist) sehr ernst gespielt wird.

 

Letzte Illusionen, es könne den Interpreten-Göttern und -Göttinnen um nichts sonst als um wissenschaftliche Bemühungen zur Klärung von Wissensfragen gehen, kann in Einzelfällen gänzlich zu Nichte gemacht werden: Nach mündlicher Mitteilung durch einen bedeutenden rumänischen Literaturwissenschaftler hat eine deutsche Interpreten-Göttin mit aller Gewalt die Übersetzung der Arbeit eines ausländischen Celan-Forschers ins Deutsche zu verhindern versucht.

 

Als musterbildend für das - erst später in der Celan-Philologie einsetzende - eifersüchtige Hüten dessen, was man einmal selbst eruiert hatte, kann das Kokettieren Szondis mit jenen Daten aus "Eden" angesehen werden, welche anderen nicht zugänglich waren. Wissenschaftler(inne)n, denen persönliche Bekanntschaft mit dem Autor nicht vergönnt und der Zugang zu apokryphen Äußerungen oder ursprünglichen Textfassungen verwehrt ist, bleibt im Grunde nur die Möglichkeit, sich zumindest gegen übertriebene biographische und literarhistorische Recherchen auszusprechen. Ihnen gilt der Rückgang auf den Schreibprozeß - vor der autorisierten Fassung des jeweiligen Gedichts - als irgendwie blasphemisch; aber auch sie können sich auf Szondi und (insbesondere) Gadamer berufen. Ihre Kontrahenten aber möchten am liebsten die Denkvorgänge des Autors im Nachhinein enttarnen und lückenlos nachvollziehbar machen. Insgesamt sind die Auseinandersetzungen weniger verwandt mit einer als wissenschaftlich ansprechbaren Erörterung von Wissensfragen, denn mit Handlungstypen, welche bei der Exegese heiliger Texte immer schon eine Rolle gespielt haben dürften. Dafür spricht, daß nicht nur apokryphe Schriften eifersüchtig gehütet und gegen das Wissen von Konkurrent(inn)en ins Spiel gebracht werden; es zeigt sich bereits an der Rolle, welche mündlich bezeugte Äußerungen des Autors in jeweiligen Argumentationen beider Seiten spielen.

 

 

(ii) Aber das Spiel um Daten ist nicht nur ein Spiel des Habens und Verfügenkönnens über Daten in der Rolle von Wissensbeständen und damit des Ausweises der Wissenschaftlichkeit entsprechenden Vorgehens. Es geht - auch - um den Gegenstand; und der Gegenstand ist das jeweilige Gedicht. Die Grundfrage kann darin gesehen werden: Muß nicht ein - gutes - Gedicht ein sprachliches Gebilde sein, zu dem ein unmittelbarer Zugang möglich ist? Diese Frage ist von Szondi und Gadamer gleichermaßen in ganz persönlich gefärbter und ansprechender Weise erörtert worden; menschlich sympathisch und wesentlich bekenntnishafter ist sie von Gadamer als von Szondi beantwortet worden; aber letzterem lag und gelang es aufgrund seines Naturells eher, seinen Ausführungen den Ton einer sachlich-analytischen Darlegung zu geben. Die Antworten sehen ähnlich aus; doch ist der Weg, auf dem zu den Antworten gelangt wird, durchaus unterschiedlich.

Insofern läßt sich die Rede von einer Kontroverse zwischen Szondi und Gadamer in gewisser Hinsicht rechtfertigen. Aber diese - versteckte - Kontroverse sieht anders aus, als sie in Deutungen im Umkreis der Anschlußkommunikationen zu den beiden Autoren hervortritt: Im Kern besteht das Problem dieser Kontroverse nämlich darin, daß das Verhältnis von Verstehen und Interpretieren unklar erfaßt wird. Und in der unterschiedlichen Priorität, die dem Verstehen bzw. dem Interpretieren zukommt, läßt sich ein Unterschied im Zugang zu Wissensproblemen der beiden Autoren erkennen. Ein Verstehen kann sich problemlos, unmittelbar und spontan einstellen. Gerade wenn in diesem Sinne von Verstehen nicht verstanden wird, ist Anlaß gegeben, zu interpretieren. Man kann natürlich auch sofort mit dem Interpretieren beginnen; aber das ist nicht der normale Ablauf bei der Erstkonfrontation mit einem Gedicht (gleiches gilt für ein Musikstück oder den ersten Eindruck, den man von einem Bild hat).

Wenn zu Beginn des Abschnitts - etwas überzogen - die Inaussichtstellung einer schizophrenen Rezeptionshaltung angesprochen wurde, so läßt sich das nun genauer folgendermaßen erläutern: Szondi hat das Verhältnis von Verstehen und (nachfolgend gegebenenfalls einsetzendem) Interpretieren auf den Kopf gestellt: Erst wird eine Vielzahl an - insbesondere biographischen - Daten präsentiert, wie sie gerade für das Interpretieren kennzeichnend sind und notwendig in Anschlag zu bringen erscheinen mögen. Für das Interpretieren (in seinem Sinne) wird anschließend von Szondi dasjenige Absehen der vom ihm vorab zur Verfügung gestellten Daten (exteriorisiertes Wissen) erwartet, welches eigentlich nur auf das sich problemlos einstellende Verstehen (in dem unter 5.3.3.2. erläuterten Sinne) bezogen werden kann. Relativ zu dieser Auffassung zum Verhältnis von Verstehen und Interpretieren wird von Szondi die Abfolge umgekehrt. Nach einem interpretatorischen Vorlauf kann man aber nicht zum spontanen Verstehen zurückkehren.

 

Abgesehen davon widerspricht die Vorstellung, man könne ein bewußtseinspräsentes Wissen anschließend absichtlich außer Acht lassen, allen Ergebnissen (nicht nur) der modernen Gehirnforschung und Psychologie. Für Rezipienten, welche die von Szondi präsentierten Daten zur Kenntnis genommen haben, haben entsprechende Daten anschließend den Status eines im Langzeitgedächtnis verankerten und abrufbaren Wissen. Die Erwartung, Rezipienten könnten die Informationen, welche sie aus den gegebenen Daten abgeleitet haben (und welche dann im individuellen Bewußtseins die Rolle eines Wissens spielen), anschließend vergessen machen, ist nicht einlösbar.

 

Gadamer ist - relativ zu Szondi - umgekehrt vorgegangen: Zuerst hat er in einem, in der Literatur oft als naiv qualifizierten, Vorlauf etwas an gewissen Gedichten zu verstehen versucht und in Texten exteriorisiert. In einem zweiten Schritt hat er dann die Frage gestellt, wieviel man eigentlich sonst noch - unter Zuhilfenahme von Wörterbuchern und anderen Quellen - wissen müsse. Er hat also das Verhältnis von Verstehen und Interpretieren (in eigener Praxis) in der richtigen Reihenfolge dargeboten: An das Verstehen - samt unsystematischem Protokoll des vermeintlich Verstandenen - schließt sich die Frage nach dem Interpretieren an. Bedauerlicherweise hat er wie Szondi dahingehend geurteilt, man solle dann, wenn man vorher etwas ausführlichere Kenntnisse über dies und jenes (gemeint ist auch hier: biographische Kenntnisse) erlangt habe, sie anschließend vergessen.

 

 


6.3.3. Wissensfragen unter besonderer Berücksichtigung neuerer sprachwissenschaftlicher Arbeiten

 

6.3.3.1. Einleitende Bemerkungen

 

Der alltagssprachlich verfügbare nominale Ausdruck Wissen wird in theoretischen Bezügen - in der Sprachwissenschaft ebenso wie in literaturwissenschaftlichen Arbeiten - überwiegend in dem Bewußtsein verwendet, daß bei seiner Erwähnung die Verläßlichkeit des damit Gemeinten einigermaßen gesichert ist. Soweit überhaupt der Versuch unternommen wird, den Ausdruck irgendwie zu präzieren, sind dazu strittige theoriebezogene Fragen Anlaß. Naturgemäß heben sich semantiktheoretische Erörterungen als Auslöser für die Problematisierung von Wissensfragen hervor, hier insbesondere Fragen nach dem Status theoretisch eruierter Bedeutungseinheiten.

Im Rahmen eines sprachwissenschaftlichen Handeln, in welchem theoretisch eruierte Bedeutungseinheiten als sprachimmanente Gegebenheiten erfaßt worden sind, war bereits angelegt, was später zur Differenzierung verschiedener Wissensbestände führen sollte: Die Infragestellung eines Eigenverständnisses, nach welchem ausschließlich sprachwissenschaftlich und nicht sachwissenschaftlich gehandelt werde, wenn die nämlichen Erfahrungsbereiche nach Merkmalen (Semen, Noemen etc.) und in lexikalischen Paradigmen strukturiert dargeboten wurden, für welche einschlägige Fachkompetenzen immer schon zur Verfügung standen. Auf Gegenstandsbereiche, in welchen man tatsächlich ausschließlich als Sprachwissenschaftler(innen) hätte agieren können, nämlich auf den gesamten Funktionswortschatzbereich, hatte man sich in der entwickelten strukturellen (ehemals: strukturalistischen) lexikalischen Semantik gerade nicht eingelassen. In Wolski (1986) war angesichts der Beschäftigung mit Partikelproblemen die Beobachtung einer einseitigen Orientierung an gewissen Beispielklassen Anlaß, auf den geheimen Rückversicherungsvertrag mit sprachexternen Kompetenzen deutlich hinzuweisen. Die Rückversicherung bestand für viele untersuchte Wortschatzbereiche in unausgesprochenen Anleihen bei denjenigen Kenntnissen, über welche die jeweils zuständigen Experten in reichhaltigerem Maße verfügen als jene, die vorgeblich rein sprachwissenschaftlich a r -g u m e n t i e r t ,  aber selektiv sachwissenschaftlich  g e h a n d e l t  haben.

Für die frühe Phase korreliert also einem Selbstverständnis, nach welchem sprachwissenschaftliches Handeln sich an sprachimmanenten Gegebenheiten (Darstellung minimal sich abgrenzender Oppositionsverhältnisse) zu orientieren habe - mit Blick auf die jeweiligen Ergebnisdarstellungen - das, was man als Sprachwissen bezeichnet; Ergebnisdarstellungen wurden dahingehend gedeutet, es sei ausschließlich sprachliches Wissen exteriorisiert worden.

Die frühere gleichsam holzschnittartige Gegenüberstellung von sprachlichem und enzyklopädischem Wissen wurde zunehmend erst mit der sog. pragmatischen Wende weiter differenziert als "kollektives Wissen", "Handlungswissen" u.a.m. Soweit ganz unterschiedliche Einflüsse aus Psychologie, Philosophie und Künstliche-Intelligenz-Forschung argumentativ ins Spiel gebracht wurden, hat sich das Spektrum des Redes über Wissensarten wesentlich erweitert. Das immanentistische Selbstverständnis hat sich allerdings am deutlichsten über die generative Orientierung in ihren Spielarten bis zur Installation einer kognitiven Linguistik vererbt (vgl. zu den "Wissensmodulen" nach Bierwisch auch die Ausführungen unter 3.2.2.).

Erst seit unter dem Titel der kognitiven Wissenschaften - mit jeweiliger Schwerpunktbildung in interdisziplinärer Ausrichtung - die KI-Forschung und die Computerwissenschaft, die kognitive Psychologie, gewisse philosophische Orientierungen sowie die Neurowissenschaften und die so bezeichnete kognitive Linguistik zusammengebracht worden sind, gewinnen die Auseinandersetzungen um unterschiedliche Wissensbestände jene Unübersichtlichkeit, wie sie den gegenwärtigen Stand der Argumentationen ausmachen: "Frames", "Scrips", "mentale Modelle", "Plans", "Szenarios", "Stereotypen", "Prototypen", "Modu-larität" und "Holismus", "wissensbasierte Systeme", "Datenbanken", "personal and generic (semantic and perceptual) memories" u.a.m.

 

Insbesondere die Künstliche-Intelligenzforschung hat zur "Ausdifferenzierung von Wissenssorten geführt" und damit "zu Begriffsbildungen, wie sie unter Voraussetzung der klassischen Konzeption unmöglich sind - etwa Begriffe wie 'unsicheres Wissen', 'vages Wissen' und insbesondere 'inkonsistentes Wissen'" (Felix/Kanngießer/Rickheit 1990, 28). Zu Theorien über die "Speicherung" von Wissen im Gedächtnis, zu Wissenstypen wie "deklaratives" und "prozedurales" Wissen und zum Wissenserwerb sei auf den instruktiven Beitrag von Rainer H. Kluwe mit dem Titel "Gedächtnis und Wissen" in dem "Lehrbuch Allgemeine Psychologie" (Kluwe 1990) hingewiesen.

 

Die frühere Unterscheidung zwischen Sprachwissen und Weltwissen nimmt sich von hierher als nicht minder bieder aus denn diejenige Unterscheidung, welche man im literaturwissenschaftlichen Diskurs zwischen biographischem Wissen zu einem Autor (inklusive geschichtlichem Wissen) trifft, und von welcher Perspektivierung ein an Textoberflächeneinheiten anschließbares Wissen abgehoben wird.

Bevor unter 6.3.2.2. auf ausgewählte neuere, für einschlägig befundene Arbeiten zu Wissensfragen eingegangen wird, sind einige vorbereitende Bemerkungen nötig; sie ergeben sich bereits von daher, daß jede Erörterung von Wissensfragen selbstverständlich von sprachtheoretischen Vorentscheidungen abhängig ist (vgl. dazu auch Busse 1992, 79). Im Rahmen vorliegender Arbeit dient der unter 3.2., 3.3. und 3.5. skizzierte sprachtheoretische Ansatz dazu, die aus unterschiedlicher theoretischer Perspektive vorgetragenen Differenzierungen zu Wissenstypen einordnen zu können. Dazu ist zunächst auf folgende Aspekte des Zugangs zu entsprechenden Differenzierungsbemühungen aufmerksam zu machen: (1) Definitionsproblem, (2) Beobachterproblem, (3) Statusproblem.

 

 

(1)     Zum Definitionsproblem:

 

Was als Wissen bezeichnet wird, läßt sich bestenfalls charakterisieren, aber kaum mit Anspruch auf Gültigkeit definieren. In der einschlägigen Literatur werden Definitionsversuche auch kaum einmal unternommen; vielmehr wird Wissen normalerweise als nicht definitionsfähiger und nicht definitionsbedürftiger Basisausdruck genommen, an den sich plausibilitätsgestützte Hypothesen zu unterschiedlichen Typen des Wissen bzw. - in kognitiver Redeweise - "Wis-senssystemen" oder "Kenntnissystemen" anschließen.

 

Zu erwarten ist allerdings, daß die jeweils angesprochenen Wissenstypen wenigstens klar voneinander unterschieden werden. Dies ist durchaus nicht stets gegeben. Sicherlich läßt es sich nicht vermeiden - und in der Regel wird es so gehandhabt - , daß die ins Auge gefaßten Wissenstypen im laufenden Text mit Hilfe anderer Ausdrücke paraphrasiert werden und so der Ausdruck Wissen - auch nach dem Variatio-delectat-Prinzip - in verschiedenen Kombinationen mit nicht näher erläuterten Epitheta vorkommt.

 

Und wo man glaubt, eine Definition von Wissen geleistet zu haben, ist der Ausdruck Definition nicht in einem wissenschaftstheoretisch haltbaren Sinne verwendet. Obwohl es unterschiedlich strikte und weiche Auffassungen zu dem gibt, was man als Definition fassen kann (vgl. dazu ausführlich Wiegand 1989c, 539-542), ist diesbezüglich unbedingt für eine möglichst strikte und gegen eine laxe Redeweise von "Definition" zu plädieren.

 

Ulrich Reimer hat in einer instruktiven "Einführung in die Wissensrepräsentation" (Reimer 1991) folgende "Definition" von Wissen gegeben:

"Als das Wissen eines Wissensträgers definieren wir die Menge aller von ihm als wahr angenommenen Aussagen über die repräsentierte Welt, die tatsächlich wahr sind." (Reimer 1991, 6).

Bei dem vorstehenden Text handelt es sich erstens um eine verkürzte Erfassung dessen, was mit Wissen gemeint werden kann (Wissen als die "wahr angenommenen Aussagen"). Die Ausführungen beinhalten zweitens die problematische philosophische Annahme, es könne eine Instanz geben, die in der Lage ist, die Menge der wahren Aussagen, welche über die Welt getroffen werden, von den falschen abzusondern. Drittens handelt es sich nicht um eine Definition; denn keiner der dem Definiendum zugeordneten Definiensausdrücke (wahr, angenommen, Aussagen, repräsentierte Welt, tatsächlich) ist seinerseits definiert. Ebenfalls nur vermeintlich definiert sind die anschließend vom Wissen abgehobenen "Überzeugungen", welche bestimmt werden als "Aussagen" eines "Wissensträgers", "von denen er glaubt, sie seien wahr" (vgl. Reimer 1991, 6). Relativ zu dem, was in Felix/Kanngießer/Rickheit (1990, 27) kritisch zu älteren Wissenskonzepten ausgeführt wird, handelt es sich hierbei um eine Variante des platonischen Wissenskonzepts; demzufolge "weiß eine Person a eine Proposition p genau dann, wenn p wahr ist, wenn a glaubt, daß p, und wenn a für diesen Glauben gute Gründe geltend machen kann".

 

Angeschlossen werden kann an die Charakterisierung Konerdings, der verschiedene neuere Versuche zur terminologischen Bestimmung von Wissen gesichtet hat und feststellt:

 

"Wissen findet zur Bezeichnung eines handlungs- bzw. verhaltensrelevanten mentalen Zustands einer Person Verwendung, wobei sich dieser Zustand entweder über ein bestimmtes sprachliches oder anderweitiges Verhalten 'zeigt'" (Konerding 1993, 83-84).

 

 

(2)     Zum Beobachterproblem:

 

Wissen ist nicht der direkten Beobachtung zugänglich; ein kognitives Etwas kann nur als so und so bestimmtes Wissen ausgewiesen werden, indem - relativ zu einem Primärtext - mindestens ein sekundärer Text produziert wird. Wissen ist folglich ein Interpretationskonstrukt: "kommunizierbare Wissensvergegenwärtigung und -darstellung (auch von sogenanntem stillschweigenden Wissen)" ist - in den Worten Konerdings - "auf die Verwendung von Sprache angewiesen" (Konerding 1993, 129). Konerding weist darauf hin, daß Wissensinhalte "offensichtlich nur über die in ihnen erscheinenden und wahrgenommenen Token kultureller Einheiten und diese wiederum über kommunikationscodegemäße sprachliche Zeichen kommunikativ 'zum Ausdruck' zu bringen, zu identifizieren und zwecks analysierender Bestimmung zu vergegenwärtigen" sind (vgl. Konerding 1993, 127). Das gilt auch für Konzeptionen, in denen "unter Bezug auf das Wissen, das beobachteten Personen zugeschrieben wird", häufig "von intraindividuellen 'Konzepten'/'Begriffen' und 'konzeptionellen Strukturen'" gesprochen wird (vgl. ebda. 88).

 

Konerding argumentiert diesbezüglich ganz ähnlich wie Feilke (vgl. 3.4.4. und dazu auch die Ausführungen in nachfolgendem Abschnitt 6.3.3.2.), wenn er feststellt:

"Erst vermittels einer kohärenten Beschreibung, d.h. einer kontextbedingt selektiv verfahrenen, perspektivisch beschränkten, sprachgeleiteten Rekonstruktion, wird ein Erlebnis, als ein erinnerter und typisierter Wahrnehmungsinhalt, eine Vorstellung einem Individuum rational, d.h. den sich sprachlich manifestierenden Erklärungs- und Begründungsprinzipien und -praktiken der Kommunikationsgemeinschaft gemäß (vgl. auch Luckmann 1980: 39), zugänglich." (Konerding 1993, 129).

Von hierher begründet sich die Kritik an solchen Ansätzen, in deren Rahmen - wie z.B. in Bierwisch (1983, 63) - die intraindividuellen "konzeptuellen Strukturen" ganz "explizit gegenüber jeder Art sprachlicher Struktur abgegrenzt" werden, oder in denen andererseits (wie in Engelkamp 1985, 292) "die Wortbedeutung mit sogenannten 'Konzepten' identifiziert wird" (vgl. Konerding 1993, 88 und die kritischen Erörterungen, die daran angeschlossen werden). Konerding will zeigen, wie individuenspezifisches stillschweigendes Wissen im Sinne von Frames - als gleichsam kleine, kompakte "Pakete" - statt unter Rückgriff auf "Konzepte" bestimmt werden kann (87). Das "praktisch Eingespielte, Unreflektierte und Selbstverständliche" ist nach Konerding "kaum inventarisierbar"; erst "konkrete Störungen in der Ausübung einer bestimmten Praxis" zwingen die Individuen "zu einer Rekonstruktion bzw. Bestimmung eines speziellen Situationstyps im Sinne einer Ad-hoc-Modellierung (retro-oder prospektive Rationalisierung - vgl. etwa Lenk 1978: 332/33)." Die Modellbildung vollzieht sich dann "zumeist extrem zweck- und kontextspezifisch und in der Regel mittel- oder unmittelbar mit Hilfe der Sprache." (Konerding 1993, 86).

Hingewiesen sei des weiteren darauf, daß man für praktisch eingespielte Handlungsroutinen manchmal den Ausdruck sprachliches Können bevorzugt und davon sprachliches Wissen abhebt. Sprachliches Können ist danach ein "dem Bewußtsein nicht oder nur in sehr beschränktem Maße zugänglicher Bereich der Kognition", während sprachliches Wissen "als ein Teil der vom Menschen kognitiv konstruierten Wirklichkeit" erfaßt wird, "der dem Bewußtsein vollständig zugänglich ist und zum Teil sogar bewußt aufgebaut wird" (Kappest 1995, 77). In vorliegender Arbeit wird demgegenüber davon ausgegangen, daß sprachliches Können und sprachliches Wissen entgegen den Ausführungen von Kappest nicht als "zwei vollständig voneinander getrennte Strukturen" (Kappest 1995, 77) aufgefaßt werden können: Denn auf "Können" wie auf "Wissen" kann gleichermaßen (aus individuenspezifischer wie aus extrakommunikativer- resp. Beobachter-Perspektive) generisch mit dem Ausdruck Wissen Bezug genommen werden; und beides wird nur gewahr qua Zuschreibung in Texten.

Verwiesen sei zur Auffassung von Wissen als Interpretationskonstrukt vor allem auch auf Busse (1992, 82) und die dort zu diesem Aspekt angegebene Literatur. Dietrich Busse weist in einem ähnlichen Zusammenhang wie dem aus Konerding (1993) zusätzlich darauf hin, daß jede "Exemplifikation" von Wissen "in neuen Handlungen" geeignet ist, "neues Wissen" zu erzeugen. Aus der "Dynamik von Musteranwendung und Musterverschiebung" folgt, daß niemals "ausgemacht" ist, "ob eine bestimmte Sprachverwendung nun 'fertiges', 'altes' Wissen lediglich reproduziert oder 'neues' erzeugt" (Busse 1992, 82). Das führt zu einem weiteren Aspekt, der anschließend anzusprechen ist.

 

 

(3)     Zum Statusproblem:

 

Es ist zwar aus verschiedenen Gründen nicht unproblematisch, Wissen statisch als Bestand aufzufassen, wenngleich 'Beständigkeit' stereotyp mit dem Ausdruck Wissen assoziiert wird. Allerdings erscheint es gleichfalls als überzogen und nicht der nötigen Klarheit förderlich, im Unterschied zu statischen Auffassungen Wissen generell als "Fähigkeit" zu bestimmen. Derartige Kontroversen sind nur unter Hinweis dadurch ausräumbar, daß im Rahmen entsprechender Einschätzungen zum Status von Wissen auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus argumentiert wird. Busse stellt zu dem Aspekt von Statik und Dynamik fest:

 

"Sprachlich Handeln heißt deshalb nicht, fertiges Wissen, das selbst unangetastet bliebe, lediglich 'anzuwenden', sondern: auszuprobieren, was mit den sprachlichen Mitteln, über die man verfügt, kommunikativ unter je spezifischen Bedingungen möglich ist." (Busse 1992, 82).

Schließlich gelangt Busse zu der Feststellung: "Wissen ist weniger eine Substanz, als vielmehr eine Fähigkeit". Er versteht darunter z.B. "die Fähigkeit eines Textrezipienten, aufgrund einer wahrgenommenen Zeichenkette zu einer Deutung, dem Verstehen einer Textbedeutung zu gelangen"; und dafür "ist die Aktualisierung unterschiedlichster Sorten von Wissen eine unabdingbare Voraussetzung" (Busse 1992, 163). - Obwohl letzteres sicher zutreffend ist, wird mit "Wissen" als "Fähigkeit" allerdings an einen ebenfalls wieder schlechtbestimmten (und deshalb unterschiedlich ausdeutbaren) Ausdruck weiterverwiesen: Ein Wissen, welches als propositionaler Gehalt in einem daß-Satz exteriorisierbar ist, so z.B. daß P. Celan aus der Bukowina stammt, ist keine Fähigkeit. Entsprechendes Wissen befähigt gegebenenfalls dazu, eine Textpartie besser zu verstehen.

Die Rede vom Wissen als Fähigkeit ist also nur auf eine relativ abstrakte Ebene zu beziehen, auf welcher es zum Beispiel darum geht, gewissen statischen Auffassungen zur Organisiertheit des Wissens entgegenzutreten. Sie greift nicht für einzelne sprachlich benannte - anders sind sie aber nicht zu haben - Wissensinhalte. Deshalb ist es durchaus günstig, daß Busse nicht rigoros urteilt, sondern "Substanz" und "Fähigkeit" im Sinne eines Mehr oder Weniger zum Wissen in Beziehung gesetzt hat. Begründet liegt dies darin, daß von der Auffassung, daß Sprecher über ein relativ stabiles Wissen verfügen, nicht abgerückt werden kann. Allerdings muß dies nicht beinhalten, sich Wissen im Gedächtnis statisch bzw. in Form einer Datenbank organisiert vorzustellen.

Schmidt argumentiert gegen wissensorientierte Modelle, welche ihre "Fähigkeitssysteme" modular am Vorbild der Arbeitsweise von Computern orientieren; in solchen Modellen werde Wissen "meist als abgespeicherter Kenntnisstand konzipiert" (Schmidt 1994, 128). Unter Bezugnahme auf Busse führt er aus:

"Im Unterschied zu Modularitätsmodellen arbeitet D. Busse - ähnlich wie hier vorgeschlagen - mit einem Konzept von Wissen als Fähigkeit [...]" (Schmidt 1994, 128).

Schmidt bestimmt an anderer Stelle Wissen "als eine Fähigkeit in der Kommunikation" und "nicht als sedimentierter Bestand an einem Ort im Gehirn". Dadurch "verlieren", so Schmidt, "storage- and retrieval-Modelle von Gedächtnis ihre Plausibilität"; entsprechend "sollten auch Schemata als prozedurale Muster" und "nicht als Wissens-Bestände im Sinne von Datenbanken konzipiert werden" (Schmidt 1994, 135; vgl. auch 76 mit Verweis auf Ergebnisse der Gehirnforschung). Wissen charakterisiert er "als - erkennbare und verlernbare, mehr oder weniger hoch entwickelte - Fähigkeit, Gedanken zu produzieren und weiterzubearbeiten [...]" (77).

Nicht übersehen wird - gerade entsprechend dem Argumentationsgang vorliegender Arbeit - die Vorsilbe "be-" in bearbeiten, welche Schmidt gegen das "ver-" aus Verarbeitungstheorien setzt; vgl. dazu auch die Ausführungen unter 5.3.3.6. zur Konstruktion eines spezifisch poetischen Verstehens nach Begemann (1991). In Schmidt (1994) werden somit die Weichen zur theoretischen Beurteilung dieser Probleme richtig gestellt. In den überaus ausführlichen Passagen, in denen Schmidt auf die Dissertation von Helmut Feilke Bezug nimmt, geht er mit Blick auf "kollektives Wissen" nochmals kritisch auf Speicherauffassungen ein; er hebt dabei den für ihn wichtigen Aspekt hervor, daß Wissen "im kognitiven System nach sozialen Regeln erzeugt wird" (Schmidt 1994, 102).

Auch Scherner weist im Rahmen seines "Spuren"-Konzepts (Textverstehen als "Spurenle-sen"), das an Überlegungen Viehwegers anschließt und einer kognitiven Orientierung, die sich in der Unterscheidung von "Wissenssystemen" eng an Bierwisch (1983) anlehnt, auf Unterschiede zu psychologisch geprägten Auffassungen hin:

"Eine erste Spezifizierung des 'Wissens'-Begriffs wird durch den Zusatz 'textevozierbar' vorgenommen. Dieser Ausdruck wird hier statt des in der kognitiven Psychologie üblichen Begriffs 'textgeleitet' ('data driven') verwendet, weil mir daran liegt, den Möglichkeitscharakter dieser Evokationen gegenüber einer strengeren Steuerung durch den 'Text' zu betonen. Es kommt eben darauf an, was der jeweilige Rezipient aus den 'Spuren' herausliest. Daher habe ich im Schema auch eine Zuordnung zu den älteren von mir bisher verwendeten Begriffen 'Sprachbesitz' und 'Horizont' vorgenommen, die die Subjektabhängigkeit der jeweiligen Textverarbeitung im Unterschied zu den sonst vorgeschlagenen 'Kenntnissystemen' ausdrücklich miterfassen." (Scherner 1994, 337).

 

 

6.3.3.2.  Zur Differenzierung von Wissenstypen

 

Zur Differenzierung von Wissenstypen ist unter summarischer Erfassung der Ergebnisse neuerer und neuester Arbeiten eine kaum noch überschaubare Vielfalt an Ausdrücken für Teilkenntnisse zu verzeichnen.

 

Abgesehen von paraphrasierenden Bezugnahmen auf jeweilige Wissenstypen finden sich, ohne diese mit den jeweiligen Arbeiten zu diesem Komplex zu verrechnen, z.B. folgende Ausdrücke: Sprachwissen, Weltwissen, enzyklopädisches Wissen, Musterwissen, Interaktionswissen, Common-Sense-Wissen, Alltagswissen, Themenwissen, Vorwissen, Perzeptionswissen, Emotionswissen, Evaluationswissen, Normenwissen, Kontextwissen, Dauerwissen, Laufwissen, Wahrnehmungswissen, Diskurswissen, Lebenswelt-Wissen; konzeptuelles, intuitives, stillschweigendes, sprachliches, soziales, epistemisches, episodisches, virtuelles, idiomatisches, linguistisches, grammatisches, zeichenbezogenes, sympathisches, natürliches, semantisches, wissenschaftliches, generisches, gemeinsames, aktiviertes sowie situationelles Wissen u.a.m.

 

Der Grund für diese Vielfalt ist darin zu suchen, daß sämtliche geistige Fähigkeiten Kandidaten sind, welche man qua sprachlicher Etikettierung einem Wissenstyp zuordnen kann; hinzu kommt, daß entsprechende Zuschreibungen bzw. Zuordnungen zu dem einen oder anderen Wissenstyp theorieabhängig und damit perspektivebedingt sind.

In der Menge der Arbeiten zu Wissensfragen sind alle Möglichkeiten der Typologisierung realisiert (wenngleich an dieser Stelle nicht präsentiert): von einer weitläufigen Aufsplitterung nach unterschiedlichen Wissenstypen (maximalisti-sche Position) bis hin zur Subsumierung einiger sprachlich benannter Typen unter einem einzigen übergeordneten Wissenstyp (minimalistische Position). Auch unter Praktikabilitätserwägungen scheint eine Einteilung mittleren Differenzierungsgrads - irgendwo zwischen minimalistischer und maximalistischer Position - für günstig gehalten werden zu müssen.

Es geht an dieser Stelle nicht um den Versuch, die verschiedenen Typologisierungsversuche ausführlich darzustellen oder sie gar um eine neue Variante zu bereichern. Die Berücksichtigung einiger für fruchtbar gehaltenen neuere Arbeiten steht im wesentlichen unter der Fragestellung, ob sich daraus neue Gesichtspunkte zur Einschätzung der in der Celan-Philologie geführten Debatten um Wissensfragen gewinnen lassen. Eingegangen wird auf folgende Aspekte: auf die Unterscheidung von Sprachwissen und Weltwissen (1), auf weitere Wissenstypen (2) und (3) auf die Nutzbarmachung der Frame-Konzeption zu praktischen Zwecken.

 

 

(1)     Zur Unterscheidung von Sprach- und Weltwissen:

 

Versuche, das Verhältnis von Sprachwissen und Weltwissen (enzyklopädisches Wissen) zu bestimmen, stehen nach wie vor im Zentrum der Aufmerksamkeit ganz unterschiedlicher theoretischer Ausrichtungen. Soweit diese Wissenstypen nicht jeweils intern weiter differenziert sind, wird in entsprechenden Ansätzen eine minimalistische Position vertreten.

Busse bezeichnet die Bemühungen um eine Grenzziehung zwischen Sprachwissen und Weltwissen als "eine der schwierigsten Fragen der Semantik" (Busse 1992, 79); für ihn ist der Ausdruck Weltwissen "nur eine Metapher für Wissen schlechthin" (vgl. 144). Heinemann und Viehweger stellen fest:

 

"Ob es gerechtfertigt ist, einen eigenen Kenntnisbereich 'enzyklopädisches Wissen' anzunehmen, ist eine Frage, deren Beantwortung ganz entscheidend davon abhängt, welche Annahmen bezüglich einer Modellierung des Lexikons und des sprachlichen Wissens für die Prozesse der Textverarbeitung getroffen werden." (Heinemann/Viehweger 1991, 95).

 

Scherner hebt hervor, daß "sich diese Abgrenzungsfrage natürlich der praktischen Lexikographie bei der Erarbeitung jeder Bedeutungsangabe" stellt, daß dies Problem aber noch nicht lange "theoretisch reflektiert" werde. Unter Verweis auf Arbeiten Viehwegers und eines weiteren Autors aus dem Zeitraum bis 1988 gelangt Scherner zu dem Schluß, daß die "jüngsten Überlegungen" hierzu "die Notwendigkeit einer Trennung zwischen 'Sprachwissen' und 'Weltwissen' betonen" (Scherner 1994, 328).

Wiegand hat aus lexikologischer und metalexikographischer Perspektive wohl einen der profiliertesten Beiträge dazu geleistet, Fragen im Umkreis von Sprach- und Weltwissen zu entschärfen und einer sprachwirklichkeitsnahen Klärung zuzuführen. In Wiegand (1988a) wird dem generischen Ausdruck enzyklopädisches Wissen ein "enzyklopädisches Sachwissen" zugeordnet, dem semantischen Wissen ein "nichtenzyklopädisches Bedeutungswissen"; in einem Überschneidungsbereich dazwischen steht das "enzyklopädisch gegenstandskonstitutive Bedeutungswissen"; im Rahmen dieser Konzeption kann "das enzyklopädische Sachwissen vom enzyklopädischen Bedeutungswissen nicht strikt getrennt werden" (vgl. Wiegand 1988a, 773f.).

 

Ausfilterbar ist somit durchaus ein rein sprachliches Wissen (hier: Bedeutungswissen); dies Wissen läßt sich (am Beispiel Zitrone) als propositionaler Gehalt in der daß-Formulierung exteriorisieren, z.B. "daß ein substantivischer Prädikator (hier 'Zitrone') usuell dazu verwendet wird, um die sprachliche Teilhandlung des Prädizierens zu vollziehen." (Wiegand 1988a, 774). Sobald Wissensinhalte anderen Typs ins Spiel kommen, läßt sich nicht mehr strikt zwischen Sprach- und Weltwissen unterscheiden; das schließt nicht aus, daß man theorieabhängig zu "begründeten Unterscheidungen" (Wiegand 1988a, 773) gelangen kann.

Zum handlungstheoretischen Ansatz, in dessen Kontext die Ausführungen aus Wiegand (1988a) stehen, sei auf 3.3. verwiesen. Für Ausdrücke, mit welchen sich auf etwas in der/einer Welt bezogen wird, gilt hiernach: In Alltagsdialogen über Bedeutungen und in Bedeutungsbeschreibungen (von Linguisten, Psychologen und KI-Wissenschaftlern) gleichermaßen steht im Zentrum die Formulierung der Bezugsregeln von Ausdrücken. Wer die Bezugsregeln beherrscht, hat ein Wissen davon, "daß etwas das und das, also etwas Bestimmtes, ist (und nicht dies oder jenes als etwas anderes Bestimmtes)" (Wiegand 1988a, 773). Dieses Wissen bezeichnet Wiegand als "gegenstandskonstititives Bedeutungswissen". Die Sicherstellung des jeweiligen Bezugs wird mithin dadurch geleistet, daß gewisse Mindestbedingungen gegeben sind; ein Ausdruck wird nicht nur geschaffen oder erschaffen, sondern tritt qua sprachlich erfaßbarer Eigenschaften als so und so bestimmter Ausdruck ins individuelle Bewußtsein. Bei dem dazu zu veranschlagenden Wissen handelt es sich um eine "Art des alltäglichen Wissens" (773), um ein "gemeinsames Wissen", um ein "mehrheitlich akzeptiertes" und "relativ stabiles" Wissen. Es besteht aus einem "Kategorienwissen", dem "ein stereotypisches Wissen assoziiert ist". Zur Varianz derartigen Wissens stellt Wiegand fest:

"Das gegenstandskonstitutive Bedeutungswissen ist nicht bei allen Sprechern in jeder Hinsicht gleich; besonders das stereotypische Wissen variiert, und es kann nicht strikt vom enzyklopädischen Sachwissen getrennt werden; wenigstens hat m. E. niemand (auch bei den Psychologen) eine Methode vorgelegt, wie dies möglich sein soll. Die empirischen Befunde aus neurolinguistischer oder psycholinguistischer Feder, die angeblich für eine Trennung von sprachlichem und enzyklopädischen Wissen sprechen, lassen sich sämtlich auch anders interpretieren; [...]" (Wiegand 1988a, 773).

Obwohl die Akzente in einer kognitiven Semantiktheorie theoretisch anders gesetzt werden, gelangt Monika Schwarz diesbezüglich zu der gleichen Auffassung - auch unter Berücksichtigung von Ergebnissen aus der Aphasieforschung (vgl. Schwarz 1992, 94-98):

"Eindeutige Kriterien für eine Trennung von lexikalischem und enzyklopädischem Wissen liegen nicht vor. Es ist zudem gedächtnispsychologisch äußerst unplausibel, von zwei mentalen Wissenssystemen auszugehen (nicht nur aus ökonomischen Gründen)." (Schwarz 1992, 93).

Für die fachsprachliche Lexik ("fachenzyklopädisches Bedeutungswissen", "fachenzyklo-pädisches Sachwissen") stellen sich die Verhältnisse kaum anders dar; nur werden die usuellen Bezugsregeln - bestenfalls - qua Definition festgelegt, wodurch zugleich ein wissenschaftlicher Gegenstand "konstituiert" wird (vgl. Wiegand 1988a, 775).

 

Minimalistisch ist der Ansatz insofern, als lediglich mit Blick auf nennlexikalische Einheiten der Größenordnung Wort argumentiert wird und aus dem Bereich des Sprachwissens ausschließlich das Bedeutungswissen in den Blick gerät.

Zum Sprachwissen zählt weiteres Wissen, das der sprachlichen "Komplexbil-dung auf unterschiedlichen Strukturebenen" dient (vgl. Heinemann/Viehweger 1991, 94), so insbesondere syntaktisches, phonologisches und morphologisches Wissen, "das es ermöglicht, mit Hilfe dieser Strukturen Äußerungszusammenhänge aufzubauen und als solche in ihrem Aufbau durchschaubar und interpretierbar zu machen" (Scherner 1994, 326). Dazu sind in einschlägigen Arbeiten im einzelnen sehr unterschiedliche Vorschläge zur Differenzierung ebenso gemacht worden wie zu dem "enzyklopädischen Wissen" (vgl. neben Heinemann/-Viehweger 1991 auch Busse 1992, daneben auch Heringer 1988 und 1984, Feilke 1994 sowie Scherner 1994).

 

- Die Ausführungen aus Busse (1992) sind ein Beispiel für eine extrem maximalistische Position zu Wissensfragen.

Versucht wird, "wenigstens einige Kriterien der Beschreibung der inneren Struktur des Sprachwissens zu formulieren". Dazu wird vorab eine "generelle Differenzierung des verstehensrelevanten Wissens vorgeschlagen" (Busse 1992, 141). Als Koordinaten werden unterschieden: "Ebenen des Wissens", "Typen des Wissens" sowie "Modi des Wissens". "Ebenen des Wissens" werden nach ihrer Perspektivität differenziert: "Zeitachse" (nach "Vorgeschich-te", "Jetztzeitpunkt des Verstehensmoments", "prospektierte Nachgeschichte") sowie "Auf-merksamkeitsverteilung (Fokussierung)" nach "Kernfokus", "Fokusumfeld" und "Relevanz-bereich" (d.h. notwendig zu aktivierender Ausschnitt des Weltwissens)" (141); diese Ebenen bilden nach Busse das, was man "in traditioneller Terminologie" als "das 'Sprachwissen' im engeren Sinne bezeichnet" (147). Auf der Aufmerksamkeitsachse wird "der Begriff 'Weltwissen' verortet". Zur "epistemischen Vorgeschichte" (zugehörig der ersten Ebene) im engeren Sinne zählt Busse nur den "unmittelbar notwendigen und zu aktivierenden Ausschnitt des Weltwissens" (143).

Recht unmotiviert werden unterschieden: "Diskurswissen" und "Restliches Weltwissen" (147-148). Was Busse unter "Diskurswissen" erfaßt, ist "selbstverständlich unterstelltes bzw. paradigmatisches oder stillschweigend vorausgesetztes Wissen". In der bisherigen Forschung sei "dieser Wissensbereich", so Busse, "so gut wie gar nicht berücksichtigt worden" (147). Bedauerlicherweise wird nicht klar, was genau darunter zu fassen ist; der einzige Hinweis ist der, es handele sich um das, was man in der frühen Textlinguistik "'Präsuppositionen' genannt hat" (148). Zum "(restlichen) Weltwissen" werden von Busse all jene Wissenselemente gerechnet, die "durch die anderen Schichten noch nicht erfaßt sind", die aber "potentiell aktivierbar" sind. Dasjenige, was "man in traditionellen Interpretationstheorien als 'Hermeneutik' oder 'Textinterpretation' im engeren Sinne bezeichnet hat", so Busse, "spielt sich weitgehend auf diesen Ebenen des diskursiven und Weltwissens ab" (148).

Busse will nicht in die von ihm kritisierte Aufteilung von Sprachwissen und Weltwissen zurückfallen. Die Grenze zwischen Sprachwissen im engeren Sinne und anderem Wissen, die er nicht als "scharfe Grenze" begreift, soll anders gezogen werden als bisher üblich; es stünden dann nicht mehr "zwei monolithische Wissensblöcke als diametral gegenüber". Vieles von dem, was andere Theoretiker dem Sprachwissen zurechnen würden, grenzt Busse aus; gleichwohl verbleibt ihm ein Kern "von auf sprachliche Zeichen und ihre Strukturierung bezogenem Wissen". Hierzu zählen: phonetisches und phonologisches Wissen, graphematisches und morphologisches Wissen, Wortarten-Wissen, syntaktisches und referentielles Wissen.

Semantisches Wissen wird nicht gesondert herausgehoben, weil die Semantik für Busse dasjenige ist, "was das ganze Modell erklären soll"; letztlich sind alle textuellen und epistemischen Funktionen "der Semantik untergeordnet". Ein Teil dessen, was dem semantischen oder Bedeutung-Wissen zugerechnet wird, fällt in Busse (1992) unter "referentielles Wissen". Zutreffend gesehen wird, daß es Schichten des Sprachwissens gibt, die nicht auf "semantisches Wissen" reduziert werden können, z.B. "phonematisches Wissen" (151). Zu begrüßen ist auch, daß Busse - wenn er schon Feindifferenzierungen erheblichen Umfangs schafft - dafür argumentiert, "referentielles" und "prädikatives Wissen" von solchem Wissen zu unterscheiden, "das etwa die Strukturierung (aber auch Modi) von Textelementen betrifft". Nach Busse sollte darauf hingewiesen werden, daß viele Wortarten "keine referentielle, sondern eine syntaktische Bedeutung" (153) haben bzw. eine "Relationsfunktion" (154). Für Synsemantika wird daher ein "rein innersprachliches Wissen" (155) veranschlagt. Diese Auffassung trifft sich mit dem, worauf schon in Wolski (1986) nachdrücklich hingewiesen worden ist, auch wenn dort nicht Wissenstypen unterschieden werden. Abstand genommen wird davon, so Busse, "die Semantik von Textelementen allein auf die hier auf das Sprachwissen reduzierte Referenzfunktion zu reduzieren" (155).

Von den zahlreichen Wissenstypen, die Busse unterscheidet, sei lediglich - weil in anderen Konzeptionen darauf überhaupt nicht eingegangen wird - auf das "diskursiv-abstrakte Wissen" hingewiesen. Dazu zählt Busse "alles rein ideelle, philosophische, wissenschaftliche, ideologische, Weltbild-bezogene usw. Wissen, das nicht auf unmittelbarer eigener sozialer oder perzeptueller Erfahrung des Textproduzenten beruht, sondern rein diskursiv, d.h. über textuelle sprachliche Kommunikation konstituiert und erworben wird". Dieser Wissenstyp umfaßt, "was als nicht-erfahrungsweltliches 'Thema' einer Kommunikation bzw. eines Textes fungieren kann" (158). Deutbar sind die knappen Ausführungen dazu so, daß es dabei um ein "Wissen" geht, das z.B. Rezipienten eines Gedichts von Celan in Auseinandersetzung mit der Celan-Philologie erworben haben, und das gegebenenfalls in der Rolle des Vorwissens bei dem Textverstehen und für die Interpretation in Anschlag gebracht werden kann. Es würde sich derartiges Wissen dann allerdings mit dem überschneiden, was Busse als "(restliches) Weltwissen" bezeichnet.

 

- Feilke hat in einer ausführlichen, interdisziplinär angelegten, begriffstheoretischen Erörterung das mit "Common sense" Gemeinte diskutiert. Der Common sense ist "ein auf die ökologischen Bedingungen menschlichen Handelns bezogenes und durch diese Bedingungen pragmatisch konstituiertes und stabilisiertes intuitives Wissen" (Feilke 1994, 363; vgl. auch 66). Das "sprachliche Wissen, die Kompetenz" ist "wesentlich pragmatisch"; gleiches "gilt auch für das Weltwissen, soweit es kommunikativ konstituiert ist" (363). Als "Leistung der Systemtheorie" (nach N. Luhmann) hebt Feilke heraus, daß "der Begriff des Common sense als kommunikativ konstituiertes soziales Wissen erklärt werden kann" (363) bzw. "als kommunikativ konstruiertes soziales Wissen" (102). Zum Verhältnis von "Common-sense-Wissen", Sprachwissen und Weltwissen stellt Feilke fest, es sei "nicht möglich, von Common sense als einem sprachlichen Wissen zu sprechen, ohne zugleich das sprachliche Wissen selbst als Common sense-Wissen zu charakterisieren" (143); "sprachliches Wissen" ist "selbst zum großen Teil ein Common sense-Wissen" (31). Das "kommunikativ konstituierte Common-sense-Wissen" ist aber auch "ein Wissen über Themen und Strategien der Schematisierung von Themen für kommunikative Zwecke" (89); somit wird auch der "Fundus des Themenwissens" als "Common-sense" bezeichnet (vgl. 88).

Am Beispiel einer Rede, in der auf zahlreiche historische und wirtschaftliche Vorgänge angespielt wird (vgl. 214-215), erläutert Feilke sein Verständnis von "Weltwissen". Zu den "Wissenselementen" zählt hier "ein mehr oder weniger umfangreiches Weltwissen" (Kenntnis historischer Zusammenhänge und "Wissen über" gewisse wirtschaftliche Vorgänge); derartiges Wissen bezeichnet Feilke als "epistemisches Wissen über systemische und historische Bedingungen der sozialen Praxis". Dies ist, so Feilke, "verknüpft mit sogenanntem episodischem Wissen [...], also individuellem Erlebniswissen, d.h. biographischen Episoden und deren Interpretation"; es sind dies "Formen des Vorwissens" (218). Zu genaueren Begründungen der Position vgl. Feilke (1994, 119f.). Im wesentlichen wird die "idiomatische Kompetenz" - erfaßt als "Fähigkeit zum Gebrauch und zur Interpretation" von Ausdrücken - "sowohl vom Weltwissen wie vom 'konstitutiven' Sprachwissen i.e.S." abgehoben (vgl. Feilke 1994, 220). Der Schluß, zu dem Feilke schließlich gelangt, ist der gleiche wie bei vielen anderen Theoretikern, nämlich daß es "außerordentlich problematisch ist, sprachliches Wissen und Weltwissen strikt voneinander trennen zu wollen" (226). Denn das "Kennen eines Ausdrucks als eines Elementes einer kommunikativen Praxis ist beides zugleich (!)", nämlich sprachliches Wissen und ein "spezifischer Typ von Weltwissen", aufgefaßt als "Kenntnis eines Handlungsschemas oder Ablaufschemas" (226).

Traditionell werden im Zusammenhang mit Fragen der Deutung von Nominalkomposita Wissensprobleme aufgeworfen. Feilke disktuiert am Beispiel Straßenhändler unter anderem ältere Ansätze, in denen Weltwissen dafür verantwortlich gemacht wird, wenn wir "nicht an jemand denken, der mit Straßen handelt"; nach Feilke liegt dies vielmehr an der "lexikalischen Bedeutung des Kompositums, an seiner Funktions- oder Gebrauchsbedeutung" (Feilke 1994, 336); vgl. auch Heringer (1984) zu den Nominalkomposita.

Da Feilke im Rahmen eines Ansatzes argumentiert, der sich von der kognitiven Linguistik unterscheidet, kommt eine Abgrenzung grammatischer Kenntnisse von anderen "Kenntnis-systemen" bzw. "Wissenssystemen" nicht in Betracht, wie sie z.B. in Felix/Kanngießer/-Rickheit (1990, 28) vorgesehen ist oder auch von Bierwisch. In seiner Kritik an Bierwischs säuberlicher Unterscheidung zwischen einem "sprachlichen Kenntnissystem" und den - für die Äußerungsbedeutung hinzutretenden - "Kenntnissystemen" ("Weltwissen" und "Interaktions-wissen") hebt Feilke hervor, daß die Grenzlinie "keinesfalls dort" verläuft, "wo sie Bierwisch ziehen möchte" (Feilke 1994, 338; vgl. auch 315ff.).

 

- Scherner hingegen geht im Unterschied zu theoretischen Auffassungen aus Feilke (1994) davon aus, daß erst die "moderne Kognitionswissenschaft" den "Begriff 'Weltkenntnis'" habe deutlicher machen können und verweist dazu auf Bierwisch (1983). Gerade die Untersuchungen "über die Struktur von Raumverhältnissen" haben nach Scherner gezeigt, daß wir "neben unserer Sprachkenntnis über ein 'konzeptuelles System'" verfügen, "das als Einordnungsinstanz für die innersprachlichen Bedeutungsanteile der im Textverlauf verketteten sprachlichen Zeichen fungiert" (Scherner 1994, 329). Deshalb ersetzt Scherner "den komplexen Begriff der 'Weltkenntnis' (des 'Sachwissens', 'der Stoffkenntnis', des 'enzyklopädischen Wissens' u.a.)" durch den des "konzeptuellen Wissens" (329/330). Das "konzeptuelle Wissen" stellt die "kognitive Basis" dar für die "je unterschiedlichen Füllungen dieses außersprachlichen Wissens". Hypothesen zur Strukturierung "dieses kognitiven Bereichs" sind nach Scherner die verschiedenen schemaorientierten Ansätze (Frames, Skripts, Szenarios etc.). Zum Gesamtbereich des konzeptuellen Wissens zählt Scherner auch kognitive Operationen über diesem Wissen - vgl. dazu ganz ähnlich Bierwisch (1987a, 11) - , die als "allgemeine Denkgesetze", "Fähigkeiten zum logischen Folgern", "Operationen des Assoziierens, Analogisierens und überhaupt jeglichen Inferierens wirksam sind" (330).

 

- Heringer hat mit Blick auf Nominalkomposita (des Typs Fischfrau) im Rahmen der "Theorie gemeinsamen Wissens" insbesondere Bedeutungsprobleme angesprochen (Heringer 1984, 6f.). Nach Heringer müssen wir uns kontextlos "mit unserem semantischen Wissen und dem generischen Wissen" behelfen, also mit dem, "was einem assoziativ in den Sinn kommt" (vgl. 7). Das "gemeinsame Wissen" ist großenteils "Dauerwissen"; bedeutsam für das Verständnis ist das "aktivierte Wissen", das als eine "laufende Buchführung" vorgestellt wird, "die ständig auf der Höhe des kommunikativen Geschehens ist". Deshalb wird das "aktivierte Wissen" auch als "Laufwissen" bezeichnet, das sich "aus verschiedenen 'Quellen' nährt" (vgl. 8). Solche Quellen sind zunächst der unmittelbare Kontext und das "situationelle Wissen in der konkreten Kommunikation": Wissen um Sprecherkonstellationen, "Wahrnehmungswissen" u.a.m. (vgl. 9). - Dritte Quelle des "Laufwissens" ist das "episodische Wissen" (das "Teil des Dauerwissens" ist): gemeint ist damit "gemeinsames Wissen über früheres Geschehen", auch eine "narrative Potenz, insofern zu ihrem Verständnis eine Geschichte gehört" (vgl. 9). Vierte Quelle des Laufwissens ist das "generische Wissen": "Kenntnis der Bedeutung der Lexeme, aber auch das Wissen über allgemeine Formen und Zusammenhänge der Welt, der Kultur, des sozialen Umgangs, stereotyper Vorgangs- und Handlungsfolgen usw. und über entsprechende Annahmen der Individuen, also darüber, was normal ist" (vgl. 9).

Etwas deutlicher sind die Unterscheidungen in Heringer (1988) getroffen. Das "gemein-same Wissen" hat vier Komponenten: "grammatisches Wissen", "lexikalisches "Wissen", "Weltwissen" (Wissen "über Kultur, soziale Gepflogenheiten, Wertsysteme und Normen") sowie "Kontextwissen" (bzw. "laufendes Wissen"). Daneben unterscheidet Heringer als fünften Wissenstyp, den er "eher als universal und nicht an eine einzige Sprache gebunden" ansieht: "allgemeine Grundsätze und Strategien der Kommunikation", unter Einschluß der Konversationsmaximen (vgl. Heringer 1988, 6).

 


(2)     Zu weiteren Wissenstypen:

 

- Abgesehen von internen Differenzierungen zählt zum festen Bestand sämtlicher Arbeiten dasjenige Wissen, das in Heinemann/Viehweger (1991, 96) als "Interaktionswissen" bezeichnet wird und dort nach "Illokutionswissen" und "Wissen über allgemeine kommunikative Normen" unterteilt wird (vgl. 96ff.).

 

In Busse (1992) finden sich im Rahmen der dreizehn unterschiedenen Wissenstypen gleich mehrere Aspekte, von denen mindestens darunter fallen: Wissen über "die im bisherigen Text- bzw. Kommunikationsverlauf konstituierte Textwelt", über "gesellschaftliche Handlungs- und Interaktionsformen", über "Textsorten und Argumentationsmuster" (vgl. Busse 1992, 149ff.).

Scherner, der dazu insbesondere an Viehweger/Heinemann (1991) anschließt, zählt zum "Interaktionswissen", das "in der gesellschaftlichen Praxis einer Kultur fundiert ist": "Wis-sens-Muster für ganze Illokutionssequenzen, wie sie in 'Texten' aller Art vorkommen", das "prozessuale Wissen der Verständnissicherung", "Textsortenwissen", die Grice'schen "Maxi-men der Kommunikation" u.a.m.

 

In der Berücksichtigung weiterer Wissenstypen bzw. "Kenntnissysteme" oder auch "Wissenssysteme" unterscheiden sich die hier berücksichtigten Konzeptionen erheblich voneinander.

 

- "Metakommunikatives Wissen" wird z.B. in Heinemann/Viehweger (1991, 108f.) gesondert angesetzt, nicht aber in Scherner (1994), sinngemäß aber in Busse (1992) berücksichtigt. Am deutlichsten unterschieden finden sich weitere "kognitive Voraussetzungssysteme" bzw. "Kenntnissysteme" in Scherner (1994) erfaßt:

 

- Scherner hebt "Emotions- und Evaluationswissen" als zwei weitere Kenntnissysteme hervor, die eine "von der Forschung bisher völlig unterschätzte Rolle in der sprachlichen Kommunikation spielen, deren Berücksichtigung sonst im Okkasionellen oder Intuitiven verbliebe" (Scherner 1994, 334). Aber auch bereits in Busse (1992) wird unter die Wissenstypen die "Präsenz von 'Emotionalem'" sowie Wissen über "(eigene oder gesellschaftliche) Bewertungen, Einstellungen usw." (Busse 1992, 149-150) eingereiht.

 

Scherner schließt zu dieser Differenzierung - sinngemäß, aber etwas anders gefaßt - an die von Siegfried J. Schmidt in verschiedenen Arbeiten getroffene Unterscheidung dreier "Grundfunk-tionen Ästhetischer Kommunikation" an: "kognitiv-reflexive", "moralisch-soziale" und "hedo-nistisch-emotionale" Funktion (vgl. Schmidt 1980/1991, 151); es geht dort - entgegen Scherners Darstellung; vgl. Scherner (1994, 333) - gerade nicht um Dimensionen von "Sprach-verarbeitungsprozessen"!

 

- Scherner hebt das "Perzeptionswissen" als eigenes Kenntnissystem hervor, das er "neben dem 'konzeptuellen Wissen'" etablieren will (Scherner 1994, 331). Im wesentlichen scheint die Berücksichtigung dieses Kenntnissystems inspiriert durch die Untersuchung Bierwischs zu den Dimensionsadjektiven und dem dort vorgestellten theoretischen Rahmen; vgl.:

 

"Die phonologische Struktur wird durch artikulatorische und perzeptive Muster interpretiert, die semantische wird auf konzeptuelle Repräsentationen bezogen. Diese vermitteln zwischen den hier nicht im einzelnen diskutierbaren Systemen der Wahrnehmung, Motorik, Motivation, der sozialen Interaktion und sind nicht zuletzt die Ebene gedanklicher Operationen, also des meist, aber nicht notwendig auch sprachlich realisierten Schließens, Planens, Problemlösens." (Bierwisch 1987a, 11).

 

Motiviert wird die Einführung dieses Kenntnisystems unter Bezugnahme auf Bühlers "ich-jetzt-hier-Origo" und der Berücksichtigung von Ausdrücken, "deren Referenz sich vor allem im unmittelbaren Wahrnehmungsraum der Sprechsituation erfüllt" (Scherner 1994, 330); vgl. auch:

 

"Zu den sich im Textverlauf manifestierenden 'Spuren', die den Bezug zwischen dem Formulierten und dem kopräsent Wahrnehmbaren herzustellen gestatten, sollen hier auch solche ikonischen Textphänomene (vgl. Dressler 1989: 12ff.) gerechnet werden, für die die wahrzunehmende Textgestalt selbst die Bezugsebene bildet (z.B. beim Reim, bei der Alliteration, bei Parallelismen, Klangstrukturen und Strophenformen etc.), d.h. bei Phänomenen, die insgesamt nicht die kognitiv-semantische Ebene, sondern die Textgestalt in ihrer Eigenschaft als Wahrnehmungsdatum betreffen. Die Textausdrucksseite selbst wird damit zur in der Rezeptionssituation wahrzunehmenden Textgestalt. Auch Phänomene dieser Art sollen hier zum Bereich des 'Perzeptionswissens' gerechnet werden." (Scherner 1994, 332).

 

Damit wird ein (in anderen Arbeiten meist ausgesparter) Aspekt erfaßt, mit dem sich bei Akzeptierung der kognitionstheoretischen Annahmen - insbesondere denen zur "kognitiv-semantischen Ebene" - an Ausführungen Bierwischs anschließen läßt. Busse hat dieses Wissen als "perzeptuell gestütztes Wissen über die nicht-textuellen Bestandteile der äußeren Kommunikationssituation, differenziert nach (a) lokaler und (b) sozialer Situation" (Busse 1992, 149) ebenfalls berücksichtigt.

 

- Das "Musterwissen" liegt nach Scherner "auf einer generelleren Ebene, die erkennen läßt, wie alle Kenntnisreservoirs ihrerseits in Mustern strukturiert und immer nur über die Inanspruchnahme dieser Muster textuell wirksam sind" (Scherner 1994, 335). Muster des "konzeptuellen "Wissens" sind die "Frames", "Skripts" etc.

 

"Zum 'sprachlichen Wissen' gehören z.B. die Kenntnis von 'Satzmustern', 'Wortbildungsmustern' und 'Phrasenmustern'[...]. Als Wahrnehmungsmuster können z.B. serielle Komplettierungen, die Phänomene der Größen-, Form- (usw.) Konstanz sowie die Figur - Grund - Konstruktion angesehen werden. Zu den Mustern des 'Interaktionswissens' gehören z.B. 'Handlungsmuster' und 'Illokutionstypen'. Desgleichen vollziehen sich emotionale oder evaluative Einschätzungen über entsprechende Muster." (Scherner 1994, 335).


Busse hat im Vergleich dazu "Frames", "Skrips" u.a.m. unter "Wissen über allgemeine alltagspraktische Handlungs- und Lebensformen" (Busse 1992, 157) eingeordnet. Auch dort werden die "Rahmen" als "allgemeine Muster" aufgefaßt, aus denen sich "Schlußfolgerungen" auf "weitere, nicht-ausgedrückte Rahmen-Bestandteile bzw. Wissenssegmente" (Busse 1992, 90) ziehen lassen. Daß "Mustern" - insbesondere "Frames" und anderen Konzeptionen - der Sonderstatus einer "generellen Strukturierungsinstanz" (Scherner) zukommt, wird aus anderer theoretischer Perspektive insbesondere in Konerding (1993) bestätigt.

 

 

(3)     Zur Nutzbarmachung der Frame-Konzeption für praktische Zwecke:

 

Konerding hat in kritischer Auseinandersetzung mit dem Frame-Begriff ein Verfahren zur Systematisierung desjenigen Wissens entwickelt, das für Substantive unterschiedlichen Typs in unterschiedlicher Weise zu veranschlagen ist. Es geht hier also nicht um die phänomenologische Analyse von Alltagswissen oder um die innere Differenzierung von Wissensbeständen, sondern um die Frage der sprachgebundenen Vergegenwärtigung von Wissen, um ein "theoretisch begründetes Verfahren zur Ermittlung und Darstellung stereotypischen stillschweigenden Wissens" (Konerding/Wiegand 1995, 101) als mögliche Grundlage für eine praktisch fruchtbare Systematisierung von Wörterbuchartikeln.

Ein Darstellungsmodus und ein entsprechendes Darstellungsformat für entsprechendes Alltagswissen wird in Konerding (1993) in Auseinandersetzung mit vorhandenen Frame-Konzeptionen und damit verwandten Ansätzen gewonnen, die "unverzichtbarer Bestandteil der Theoriebildung" innerhalb der interdisziplinär arbeitenden "Cognitive Science" sind (Konerding 1993, 19). In der KI finden konkrete Frames - in der Deutung durch Konerding - "als Texte einer bestimmten Sorte zur praxisgebundenen Darstellung thematisch zentrierten Wissens Verwendung" (78).

 

Bisher ist eine systematische "Fundierung der Frameformate im Sinne spezieller Textstrukturen" (Konerding 1993, 78) nicht erfolgt. - Im Rahmen sogenannter Wissensbasen, die in einem bestimmten symbolischen und damit maschinensprachlich interpretierbaren Format dargestellt werden, besteht die Wissensbasis normalerweise aus symbolisch codierten Texten, "die das sogenannte 'bereichsspezifische Wissen' [...] darstellen bzw. 'repräsentieren'" (Konerding 1993, 13). In der KI-Forschung wurde von Beginn an mit Modellen des "common sense-Wissens und -Denkens" gearbeitet", welche "die Grundlage für Lexikonkomponenten von Programmen zum 'Verstehen' natürlichsprachlicher Texte abgeben" (vgl. 49). Zu den in jeweiliger Repräsentationssprache abgefaßten Texten stellt Konerding fest: Im Vergleich zu Texten in natürlicher Sprache gewinnt man den Eindruck, man sei "mit den Rudimenten einiger schlecht gemachter Bedeutungserläuterungen in einem einsprachigen Wörterbuch konfrontiert und nicht mit 'Datenstrukturen', die ein reichhaltiges stereotypisches menschliches Wissen zu Gegenständen und Situationen des Alltags darstellen" (Konerding 1993, 51).

 

Konerding faßt den Ausdruck Frame "generisch zur Bezeichnung aller Abarten, Varianten und Phänomene", welche "unter dem Stichwort 'chunk of knowledge' [...] zusammengefaßt werden" (vgl. 23).

 

Es reihen sich hier vielfältige schemaorientierte Ansätze ein, die im wesentlichen auf die Gestalttheorie zurückgehen (vgl. neben Konerding 1993 auch Reimer 1991 und Schwarze/Wunderlich Hrsg. 1985). - In der "Frame/Scene-Dichotomie" nach Charles J. Fillmore (1977, 62/63) sieht Konerding eine "abstrahierende Unterscheidung", welche "auf die traditionsbedingte idealisierende Unterscheidung von Sprache und 'außersprachlicher' Wirklichkeit zurückgeht" und welche in dieser "groben Setzung" die verschiedenen Modalitäten der Wissens- und Wirklichkeitskonstitution allzu sehr vereinfacht (vgl. Konerding 1993, 44-45). Für die spätere Ersetzung von "scene" durch "story" vgl. Konerding (1993, 47-49); zur Verwandtschaft mit dem Stereotypenkonzept nach Putnam vgl. ebd. 58.

 

Konerding schließt an die Konzeption von Marvin Minsky an, der Wissensinhalte mittels Framerepräsentationen "an lexikalische Elemente und definite und indefinite Beschreibungen in einer natürlichen Sprache anbindet" (Konerding 1993, 28). Im Zusammenhang mit Theorien zur Organisation des Gedächtnisses und zu Zwecken der Repräsentation von Wissen in einer Maschine werden von Minsky höherstrukturierte Wissenseinheiten angenommen, um "die Effektivität des Common-Sense Denkens plausibel" zu machen (vgl. Konerding 1993, 6). In der Minsky-Skizze (Minsky 1975) werden die das Weltwissen repräsentierenden Datenstrukturen sozusagen als zusammen verfügbare "Wissenspakete" (7) vorgestellt. Ausgehend von den spekulativen Ausführungen aus Minsky (1975, 246), nämlich Frames als Fragebündel zu erfassen, entwickelt Konerding für Substantiva ein Verfahren zur Konstruktion von Frames. Frames werden als Textgerüste bestimmt, welche durch jeweilige Fragen bzw. Themen zustandekommen. Die Leitidee ist die, daß sich einem typischen Bezugsgegenstand eines Substantivs "jeweils nur bestimmte Prädikatoren sinnvoll oder regelgemäß zuschreiben" (Konerding/Wiegand 1995, 105) lassen. So kommen für den Substantivtyp "Gegenstand - Konkretum - Artefakt - Diskontinuativum" als Prädikatorenklassen z.B. Prädikatoren zur Charakterisierung von Form, Farbe, Maßen, von wesentlichen Teilen des Gegenstands u.a.m. in Betracht, nicht aber für Substantive, die der Bezeichnung von Abstrakta dienen (vgl. Konerding/Wie-gand 1995, 109ff. oder die ausführlichen Vorschläge für Matrixframes in dem Anhang aus Konerding 1993).

 


6.3.3.3.  Resümee zu Wissensfragen

 

Obwohl in neueren wissenstheoretischen Ansätzen aufgrund unterschiedlicher theoretischer Ausgangspunkte auch terminologisch sehr große Unterschiede bestehen, ergeben sich doch in zentralen Fragen zahlreiche Berührungspunkte.

 

- Auch wenn Fragen der Abgrenzung von "Sprachwissen" und "Weltwissen" nach wie vor kontrovers beurteilt werden, dürfte unter Berücksichtigung der Argumente aus Wiegand (1988a), Busse (1992) und anderer Theoretiker eine strikte Abgrenzung nicht mehr als plausibel angesehen werden können. Im einzelnen sind neben Wiegand (1988a) die insbesondere zum "Weltwissen" angebrachten Differenzierungen aus Busse (1992) sowie Heringer (1984a) und (1988) fruchtbare Erweiterungen zur globalen Gegenüberstellung der beiden Wissenstypen.

 

- Unstrittig ist insbesondere die Veranschlagung von "Interaktionswissen", wenngleich interne Differenzierungen dazu unterschiedlich ausfallen (vgl. insbesondere Heinemann/Viehweger 1991 und Busse 1992).

 

- Bei weiteren Wissenstypen, so "Perzeptionswissen" sowie "Emotions- und Evaluationswissen" nach Scherner (1994) und in ähnlicher Fassung auch in Busse (1992), handelt es sich um noch nicht sehr eingespiele Differenzierungen, denen gleichwohl unter dem Gesichtspunkt der Systematisierung kognitiver Voraussetzungssysteme ein Gewicht zukommt. Selbstverständlich wird damit die Frage aufgeworfen, wo die Grenzen zur Berücksichtigung auch anderer Bereiche der Kognition (Motorik u.a.m.) zu ziehen sind.

 

- Die Frame-Konzeption wird in ihren zahlreichen Varianten vor allem in Scherner (1994) und Busse (1992) als Integrationsbasis unterschiedlicher Wissenstypen angesehen. Vor allem Busse weist darauf hin, daß auch in dichterischen Texten "aus wenigen sprachlich ausgedrücken Indizien" Schlußfolgerungen "auf weitere, nicht ausgedrückte Rahmen-bestandteile bzw. Wissenselemente" (Busse 1992, 90) gezogen werden. Anspielungen kann ein Textproduzent "in seinen Text-Bau-Plan einplanen, wenn es sich um relativ verläßliche Wissensmuster handelt". Busse weist zutreffend darauf hin, daß dies ganz und gar nicht nur für die Literatur gilt. Vielmehr ist jede sprachliche Verständigung "weit mehr 'anspielen', d.h. virtuoser Umgang mit wechselseitig vorausgesetzten Wissensbeständen, als es meist vermutet wird" (Busse 1992, 90). Vor allem dem Verfahren zur Ermittlung und Darstellung "stereotypischen stillschweigenden Wissens" aus Konerding (1993) kommt in diesem Zusammenhang ein bedeutender Stellenwert zu. Ausgearbeitet ist dieses Verfahren bisher nur für Substantive unterschiedlichen Typs.

 

Wie unter 6.3.2. aufgezeigt, wird in den verschiedenen Stellungnahmen aus der Celan-Philologie nicht an neuere wissenstheoretische Überlegungen angeschlossen. Es wird im wesentlichen der Eindruck vermittelt, es gebe fertiges Wissen, das lediglich auf Textstellen anzuwenden sei. Dies zeigt sich gerade in dem zentralen Bezugspunkten, unter denen Fragen des Wissens thematisiert werden: auf der einen Seite der "fiktive Nullpunkt der Uninformiertheit" (wel-cher von Autoren, die ihn ins Spiel bringen, sofort in Frage gestellt wird), auf der anderen Seite die "allgemeine Zugänglichkeit von Informationen", welche gleichfalls in Frage gestellt wird (vgl. Gadamer 1973/1986, 126). Dazwischen liegt all das, was moderne Wissenstheorien an Differenzierungsangeboten zur Verfügung stellen, und worauf in vorausgehendem Abschnitt ausschnittweise verwiesen worden ist.

Auch in Menninghaus (1988) werden Wissensfragen im Rahmen dieser Konstellation betrachtet: "Nichts-Wissen" einerseits und "Fakten-Wissen" andererseits. Auch hier wird Wissen als statisch und als in ungebührlicher Weise - von außen - herantragbarer Bestand ("Fakten") betrachtet. Vor allem treten dabei, wie auch in Szondi (1972), biographische Kenntnisse - "episodisches Wissen" nach Heringer - als Teil des allgemeinen Weltwissens in den Blick ("Kenntnis der Realien"; vgl. Szondi 1972, 115). Die Annahme eines - von außen herantragbaren - Wissens (aufgefaßt als statischer Bestand) wird besonders deutlich in Extremversionen der Bezugnahme auf Wissensaspekte, so wenn angenommen wird, es gebe "menschliches Wissen [...] hinter dem Wissen" (Bogumil 1983, 104). Damit scheint der kognitive Status von Wissen für - esoterisch erfaßtes - Künstlerwissen reserviert zu werden.

Der Streit wird insgesamt somit vor allem um "Mittel" geführt, die dem Gedicht vollkommen "extern" (vgl. Menninghaus 1988) sind, die aber oft der Referenzrahmenbestätigung dienen. Es ist diese Kritik durchaus berechtigt, soweit im Rahmen von L-Interpretationen veranschlagtes Wissen nicht als "textevo-zierbar" (Scherner 1994, 337) anzusehen ist bzw. nicht dem "unmittelbar notwendigen und zu aktivierenden Ausschnitt des Weltwissens" (Busse 1992, 143) zugerechnet werden kann. Dazu zählt - neben dem biographischen Wissen - vor allem auch der Einbezug "nicht unmittelbar notwendigen" Fachwissens aus unterschiedlichen Disziplinen: "fachenzyklopädisches Wissens" nach Wiegand, "diskursiv abstraktes Wissen" nach Busse. Nicht stets deutlich gesehen wird, daß jede Exteriorisierung von "Wissen" wiederum "neues Wissen" erzeugen kann (Busse 1992, 82). Immerhin stellt Zschachlitz - im Anschluß an die Bemerkung, Szondi habe biographisches Wissen als "Schmuggelware" eingebracht - die Frage: "Wäre Celans Gedicht DU LIEGST heute noch ohne Szondis Informationen lesbar?" (Zschachlitz 1990, 166). Die gleiche Frage ließe sich bezüglich solchen Fachwissen stellen, welches Ergebnis von Wörterbuch-Re-cherchen ist.

Es kann folglich nicht darum gehen, Wissen unterschiedlichen Typs gegeneinander auszuspielen, sondern nur darum, in wieweit die Nachvollziehbarkeit im Hinblick auf jeweilige Gedichtpartien gewährleistet ist, auf welche Bezug genommen wird. Die Frage der Nachvollziehbarkeit stellt sich mit gleichem Gewicht aber auch für diejenigen Texte, in denen "Wissen" exteriorisiert wird, das individuenspezifisch sehr unterschiedlich sein kann.

Die nachfolgenden Ausführungen, welche diesen Abschnitt beschließen, verstehen sich nicht als L-Interpretation. Es handelt sich um ein - in linearisierter Fassung präsentiertes und nur für die Anfangspartie ausgeführtes - Kommunikatprotokoll zu einem Gedicht Celans unter dem sprachreflexiven Aspekt der Demonstration der dabei individuell veranschlagten Wissenstypen:

 

ABER

 

(Du

fragst ja, ich

sags dir:)

 

Strahlengang, immer, die

Spiegel, nachtweit, stehn

gegeneinander, ich bin,

hingestoßen zu dir, eines

Sinnes mit diesem

Vorbei.

 


Aber: mein Herz

ging durch die Pause, es wünscht dir

das Aug, bildnah und zeitstark,

das mich verformt -:

 

die Schwäne,

in Genf, ich sah's nicht, flogen, es war,

als schwirrte, vom Nichts her, ein Wurfholz

ins Ziel einer Seele: soviel

Zeit

denk mir, als Auge, jetzt zu:

daß ichs

schwirren hör, näher - nicht

neben mir, nicht,

wo du nicht sein kannst.

 

Der Titel des Gedichts ist insofern ungewöhnlich, als damit ein sprachbezogener Ausdruck zum Thema gemacht wird. Neben dem textsortenbezogenen Wissen, daß es sich hier um ein Gedicht handelt, kann mehreres als Inhalt sprachlichen Wissen ausgewiesen werden, so: daß man sich mit Ausdrücken dieses Typs nicht auf etwas in der Welt beziehen kann. Daß man in Alltagsdialogen normalerweise eine Partikel nicht thematisiert, ist bereits dem linguistischen Wissen zuzurechnen; gleichwohl dürfte sich auch Laien erschließen, daß die Thematisierung einer Partikel ungewöhnlich ist. Mit dem mindestens zu veranschlagenden Bedeutungswissen hat es die eigentümliche Bewandtnis, daß für aber als Konjunktion üblicherweise Laien- und Expertenwissen darin übereinkommen: "drückt einen Gegensatz aus". Linguistisch würde man diesbezüglich genauer davon reden, daß mit aber - in der Rolle eines Operators - ein Gegensatz zwischen satzwertigen Gliedern hergestellt wird; der erste Teil, dessen propositionaler Gehalt im deklarativen oder im interrogativen Satzmodus faßbar ist, kann auch nur (wie im Gedicht) gedanklich vorausgehen. Für einen Partikelforscher wird der Titel des Gedichts - anders als für einen Laien - auch sofort die Frage aufwerfen, ob nicht etwa von einer Verwendungsinstanz des Funktionstyps 'Modalpartikel' auszugehen ist wie für den Ausdruck ja, der in nachfolgender Klammerung steht. Ein derartiges sprachliches Wissen (Typ: "Wortartenwis-sen") kann nur von Linguisten aktiviert werden - aber in geeigneter Weise auch erst, seit es die moderne Partikelforschung gibt; früher war die Zuordnung eine andere. (Für den Titel, aber auch für das zu Beginn der mittleren Zeile des Gedichts stehende aber ist eine solche Deutung nicht annehmbar. Bei mündlicher Präsentation des Gedichts allerdings schließt sich das Titel-aber bei kurzer Pause als Modalpartikel der nachfolgenden Partie an). Zu den Schlußfolgerungen, die aus dem Titel zu ziehen sind, kann des weiteren auch gehören, daß es sich hier gegebenenfalls um das Substantiv Aber handelt.

Damit sind zugleich einige Aspekte dessen genannt, was im Sinne einer "laufenden Buchführung" nach Heringer bei sukzessiver Zurkenntnisnahme von Daten im Lektüreprozess weiterhin eine Rolle spielen kann: Der aus aber - egal, ob Konj., Modalpartikel oder Substantiv - gewinnbare Gegensatzaspekt dürfte weiterverfolgt und als musterbildend erfaßt werden. Ohne daß dies nun exhaustiv mitvollzogen werden muß, sei nur darauf hingewiesen, daß bereits die in Klammern gesetzte erste Strophe (vgl. Scherner zum "Perzeptionswissen") ein Beispiel für ein Gegensatzmuster bzw. Muster der Entgegensetzung von A und B ist - und zwar sowohl der Konstruktion nach, als auch in der Gegenüberstellung von Du und ich. Zugleich wird mit dieser Strophe - der Ausdruck Strophe wird hier nicht problematisiert - das Nachfolgende als Antwort auf eine Frage ausgewiesen. Es bedarf keiner Überschreitung des Wissens von allgemeinen Konversationsbedingungen, um feststellen zu können, daß sämtliche sich an die erste Strophe (nach dem Doppelpunkt) anschließenden Passagen als Antwort auf eine nicht bekannte Frage (dem Vortext angehörende Fragehandlung X) zu erfassen sind. - Wer als Du und wer als ich anzusprechen ist (vgl. für andere Gedichte diesen immer wieder in der Celan-Philologie angesprochenen Aspekt), also die "textexterne Referenz" nach Busse, ist dem zuzurechnen, was von Polenz "Interpretativen Bezug" (v. Polenz 1985, 132) nennt; vgl. Busse (1992, 92f. dazu). Nach Busse ist dieses Wissen als "restliches Weltwissen" auf der "Aufmerksamkeitsachse" (148) angesiedelt. Daß Konstellationen mit pronominalen Formen in Celans Gedichten auch sonst vorkommen und was in der Celan-Philologie dazu alles an Deutungshinsichten ins Spiel gebracht wird, könnte dem potentiell aktivierbaren "diskursiv-abstrakten Wissen" nach Busse (Busse 1992, 158) zugerechnet werden. Den Laien-Rezipienten ist es unnötiges Vorwissen im Umgang mit vorliegendem Gedicht; die Laien werden relativ zu einer prototypischen Rollenverteilung in Alltagsdialogen - und ggf. damit in Übereinstimmung stehender Muster aus dichterischen Texten - dahingehend urteilen: Mit dem Du ist ein nicht näher spezifiziertes anderes Individuum gemeint, mit dem ich das dichterische Ich. Aus Beobachterperspektive (Celan-Forscher) ließe sich diese Zuordnung als "Default-Wert" qualifizieren, der aufgrund "diskursiv-abstrakten Wissens" nach Busse, gewonnen aus intertextueller Perspektive, gegebenenfalls nur vorläufig Gültigkeit besitzt.

Der Antwort-Ankündigung aus der ersten Strophe, welche durchaus umgangssprachlich gefaßt ist (fragst ja, sags) und sich leicht erschließt, kontrastiert in der zweiten Strophe das komprimierte "Strahlengang, immer, die / Spiegel, nachtweit, stehn / gegeneinander [...]". - Hier sei aus Anlaß der Illustration von Wissensproblemen die Aufmerksamkeit auf den Ausdruck Strahlengang gerichtet: Zu einem Erstverständnis dieser Partie reicht - trotz syntaktischer Eigentümlichkeiten - für Strahlengang das sprachliche Wissen aus, daß es sich um eine Substantivierung jenes Vorgangs handelt, daß "Strahlen gehn"; hier könnte man auf das idiomatische Wissen bzw. auf die idiomatische Prägung nach Feilke (1994) Bezug nehmen und auf Prägungen verweisen wie "Von der Sonne gehen Strahlen aus". - Wer naturwissenschaftlich bewandert ist, wird den Ausdruck als Fachwort (Terminus) aus der Optik identifizieren; der Ausdruck bezeichnet den "Verlauf der Lichtstrahlen in einer opt. Anordnung; speziell bei opt. Abbildungen der Verlauf bestimmter ausgezeichneter Strahlen, die zur Konstruktion des Bildes dienen." (vgl. Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden; Bd. 22, Mannheim 1977, S. 637). Das gegenstandskonstitutive Bedeutungswissen, hier das "fachenzyklopädische Bedeutungswissen" nach Wiegand ist relativ zu einer Theorie gegeben; in ihm erschöpft sich nicht das Wissen über den Terminus. Zum Fachwissen über Strahlengang gehört noch mehr - zum Beispiel, wie die optische Anordnung zum Zwecke der Berechenbarkeit von Lichtstrahlen zu gestalten ist. Solches Wissen ist "fachenzyklopädisches Sachwissen" (vgl. Wiegand 1988a, 775). - Da das Wissen im Sinne der "Arbeitsteilung" nach Putnam in einer heterogenen Gesellschaft geteilt ist, läßt sich nicht oder nur per Befragungen angeben, was zum Mindestwissen für Strahlengang gehört. Gut genug motiviert ist der Ausdruck - auch ohne Zurkenntnisnahme von Spezialwissen - im Sinne beispielsweise von 'Durchgang von/für (Licht)Strah-len'. Ein Celan-Forscher mag in einer fortgeschrittenen Phase der Interpretation zudem die gleichsam in die Enge geführten Strahlen mit jener "Engführung" assoziieren, die Teil seines diskursiv-abstrakten Wissens im Sinne von Busse (1992) über Schlüsselausdrücke im Werk Celans ist - gewonnen aus textvergleichender Perspektive. - Im Grimmschen Wörterbuch wird übrigens angeführt: "(der tag) betrit im strahlengange unser land Schubart ged. 1825 Novalis schr. 1" sowie "str. im auge (beim brechen der einfallenden strahlen durch die linse), LUE-GER 1, 573" und auch "die Strahlengänge im Maulwurfsbau BREHM thierleben 2, 375".

Dem Alltagswissen (hier "enzyklopädisches Sachwissen" nach Wiegand) dürfte wohl zuzurechnen sein, daß Licht sich geradlinig ausbreitet, daß es bei kurzen Entfernungen keine Zeit zu brauchen scheint, daß es nur dann erkannt wird, wenn es auf ein Auge fällt, u.a.m. Dies und anderes alltägliche Wissen über das, was ein Strahlengang sein mag bzw. welche Bedeutung dem Ausdruck Strahlengang zuzuordnen ist, kann aktiviert werden. Ein Teil davon muß aktiviert werden, damit in Verbindung mit die Spiegel Kohärenz zustande kommt. Man könnte hier in Anschluß an das, was mit Blick auf die neueren Arbeiten zu Wissensproblemen erläutert worden ist, von einem "Strahlen-Frame" bzw. "Strahlengang-Frame" reden und ad hoc folgende Aspekte mit ihren möglichen Belegungen anführen: Lichtquelle (natürlich bzw. künstlich), Medium (Spiegel), Ausbreitungsart (gradlinig), Zeitfaktor (entfernungsunab-hängig), Erkennungspunkt (Auge). Eventuell könnte noch hinzutreten: der Geltungsbereich (Abstraktion für Abbildungsverhältnisse) sowie der Orts- bzw. Raumfaktor (ortsunabhängige Geltung). Man braucht dazu nicht von einer textübergreifenden Systematik dieser Aspekt auszugehen, oder gar anzunehmen, der Autor habe derartiges einkalkuliert; diese Aspekte lassen sich im Analyse- bzw. Interpretationsprozeß leicht herausfiltern. Sie bilden im Sinne von Lang (1982) eine gemeinsame Einordnungsinstanz. Die Nomination Strahlengang läßt sich wegen fehlenden Artikels auch ohne Rückgriff auf die Versuchsanordnung in der Optik als abstrakt begreifen: Es wird etwas aus dem Diskusuniversum herausgegriffen (identifiziert) und damit in den Aufmerksamkeitsbereich gerückt, von dem nachfolgend etwas prädiziert und das damit spezifiziert wird; wegen der Obligatorik der im Bezugsrahmen von Strahlengang stehenden Spiegel - hier könnte man durchaus auch mit der Isotopie argumentieren - erhält der Ausdruck den bestimmten Artikel: die Spiegel. Die neue Diskurs-Entität wird qua definitem Artikel als bekannt angenommen; erklären ließe sich das über Erwartbarkeiten eines gegebenen Rahmens bzw. "Musters" für "Interaktionswissen" im Sinne von Scherner. Der nachgestellte Ausdruck immer kann - relativ zu den ad hoc angeführten Aspekten - als Belegung des Zeitfaktors aufgefaßt werden. Zu der Semantisierung des nicht-lexikalisierten Ausdrucks nachtweit sei in aller Kürze nur folgendes angemerkt: Sie gelingt qua Analogien in Rückgriff auf vorhandenes Sprachwissen, hier auf Fügungsmuster mit weit als zweiter Komponente (vgl. z.B. unweit) und nacht als erster Komponente (z.B. nachtfarben, nachtblau, nachtschwarz). Deutbar ist der Ausdruck dann z.B. im Sinne von 'weit wie die Nacht', womit also ein Ort- bzw. Raumaspekt im Sinne von Frame-Konzeptionen aktualisiert wird. Für die / Spiegel, nachtweit, stehn / gegeneinander bleibt qua Spezifizierung durch nachtweit offen, ob es um den Öffnungsgrad der Spiegel oder um die Distanz geht, die sie zueinander oder von einem Beobachterstandpunkt aus aufweisen. Relativ zur alltagsweltlichen Fixiertheit materieller Gegenstände - Spiegel sind Artefakte - in Raum- und Zeitkoordinaten wird eine bildliche Vorstellung geschaffen, deren Abstraktheit in statischer Entgegensetzung der Spiegel erfaßbar ist. Was an Vorstellungen zu den - zwischen den Spiegeln - hin- und herlaufenden Strahlen für die Abbildung bzw. Nicht-Abbildung zu folgern ist, läßt sich relativ zu dem "Wissen über die sinnlich erfahrene, äußere (materielle, d.h. nicht-soziale) Welt" (vgl. Busse 1992, 149) erschließen. Der statische Aspekt wird durch das stehn - im Unterschied z.B. zu fliegen- betont, wenngleich das eine Positionierung auf einer festen Unterlage nicht beinhalten muß. Qua Enjambement rückt gegeneinander auf die nächste Zeile und erhält damit Eigengewicht (vgl. "Perzeptionswissen" nach Scherner).

Wenn nun auch für diesen Ausdruck, nämlich gegeneinander, das zwangsläufig - weil "textevokativ" - mehrmals ins Blick gerückte Gegenüberstellung- bzw. Gegensatzmuster ins Spiel zu bringen ist, wie es durch das titelgebende Aber aufgrund von Sprachwissen zuerst evoziert wurde, dürfte manch einem Theoretiker die L-Interpretation erreicht worden sein. Allerdings werden an dieser Stelle aus den Ergebnissen der Kommunikatverbalisierung keine weiterreichenden Schlüsse (z.B. qua Veranschlagung von Intertextualitätsaspekten) gezogen; somit ist mit der Bezugnahme auf Gegensatzmuster nicht der Punkt dessen erreicht, was z.B. Busse oder auch von Polenz unter "Interpretation im weiten Sinne" verstehen, oder was im Anschluß an Schmidt unter L-Interpretation gefaßt worden ist. Vielmehr handelt es sich um die Eruierung eines "holistischen Systems" (nach Mudersbach), das aus individuenbezogener Perspektive als Kommunikatprotokoll vorgetragen wird, gleichwohl aber - interpretationsabhängig; aus Beobachterperspektive - als L-Interpretation erfaßt werden kann (was jedem unbelassen bleibt). Aus wissenstheoretischer Perspektive wiederum ließen sich die, aus vorstehenden Ausführungen ersichtlichen, sprachreflexiven Bezugnahmen auf das, was zuvor im laufenden Text expliziert worden ist, als Exteriorisierung "metakommunikativen Wissens" (im Sinne von Heinemann/Viehweger 1991) fassen.

Als Setzung - darin vergleichbar dem artikellos gesetzten Ausdruck Strahlengang und dem ebenfalls an den Zeilenanfang gerückten Ausdruck Spiegel - ist auch der Ausdruck ich bin zu erfassen. Durch die Gruppierung der Einheiten erhalten diese generell an Gewicht; das gilt auch für ich bin, welches am Ende einer Zeile steht (Aspekte wie "Hebungsprall", "Binnenreim", "Vokalismus" etc. sollen hier außer Betracht bleiben). Daß derartiges überhaupt registriert wird, ließe sich theoretischerseits mit einem Wissenstyp erfassen, welcher als Musterwissen von der regulären Anordnung schriftlicher Verwendungsinstanzen in Textblöcken (vgl. zur Argumentation im Rahmen der Meta-Lexikographie, hier "Anordnungsformen", Wiegand 1989) erfaßt werden könnte. Mit Blick auf die berücksichtigten Arbeiten zu Wissenstypen dürfte dies am ehesten dem "Perzeptionswissen" nach Scherner oder dem "perzeptuell gestützen Wissen" nach Busse zuzuordnen sein. Die Ausdrücke gegeneinander und hingestoßen stehen untereinander in einem Textblock; auch hierdurch mag wieder eine Gegensatz-Lesart in der Rolle einer gemeinsamen Einordnungsinstanz (bzw. eines "Musters") evoziert werden. Der die Kohärenz gewährleistende Anschluß durch ich bin läßt sich am einfachsten mittels der interferierten Vergleichs-Lesart im Sinne von 'so wie' erfassen.

 

 

6.3.4. Ein Vorschlag, Ergebnisse zum Werk Celans lexikographisch zur Verfügung zu stellen

 

6.3.4.1. Vorbemerkung

 

Will man es nicht bei der gleichsam individuenspezifischen und folgenlosen Erörterung von Wissensproblemen mit Blick auf das Werk Celans belassen, stellt sich die Frage: Wie kann das - qua Vergegenwärtigung in Texten - bisher in der Celan-Philologie angehäufte Wissen denjenigen vermittelt werden, die sich umfassend über das Werk orientieren möchten? Es ist dies eine Frage, die - um mit Celan zu sprechen - nur "im Neigungswinkel der eigenen Existenz" beantwortet werden kann. Beantwortet wird die Frage nachfolgend, indem die Konzeption eines Bedeutungswörterbuchs zum Werk Celans vorgestellt wird.

Eine solche Konzeption wiederum kann nur unter Bezugnahme auf das Forschungsfeld der neueren und neuesten Metalexikographie in geeigneter Weise in Angriff genommen werden. Das dazu zur Verfügung gestellte Fachwissen ist zum großen Teil in den Beiträgen aus den "Handbüchern zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft" (hier "Wörterbücher"; HSK 5.1, 5.2 und 5.3) sowie in den Bänden des internationalen Jahrbuchs "Lexicographica" präsentiert. Da entsprechende metalexikographische Forschungen, die wesentlich mit dem Namen H. E. Wiegand verbunden sind, als sprachwissenschaftlich abgesichert werden können, besteht nicht die Gefahr, daß die nachfolgend skizzierte Unternehmung ebenso auf Sand gesetzt wird wie verschiedene textlexikographische Projekte, die es zum Werk Celans gegeben haben soll.

Vorauszuschicken ist, daß die nachfolgend in Umrissen skizzierte Konzeption in Übereinstimmung mit allem steht, was in vorausgehenden Kapiteln - ausgehend von der sprachtheoretischen und textlinguistischen Grundorientierung - zu Fragen der Bedeutung, des Verstehens, des Wissens etc. dargelegt worden ist.

Im Bewußtsein, daß mit der Verwirklichung der darzulegenden, recht unkonventionellen Vorschläge in der Autorenlexikographie in gewisser Hinsicht ein Extremwert erreicht würde, ist von vornherein die Frage mit bedacht, wer eigentlich aus einem Wörterbuch zum Werk Celans welchen Nutzen ziehen soll. Diese Frage stellt sich um so dringlicher unter Berücksichtigung des Umstands, daß Kenntnisse zum Werk Celans gewöhnlich kaum über folgendes Celan-Stereotyp hinausgehen dürften: Autor der TODESFUGE, Verfasser weiterer schwerverständlicher Gedichte, bedeutender Nachkriegsautor, der vor allem den Holocaust thematisiert hat.

Für die Idee zu einem Celan-Wörterbuch ist nicht ausschlaggebend, daß Celan ausgiebig Wörterbücher benutzt hat, daß der ein "passionierter Wörterbuchleser" war (Pausch 1981, 36) und daß andere dem nachgespürt haben, welche Wörterbücher das gewesen sein könnten. Die immer wieder insbesondere von Menninghaus gegenüber wildem Recherchieren vorgetragene Kritik an solchen Arbeiten, welche das Werk zu einem "Rätselspiel" im Sinne eines "Zurück zu den vermeintlich kodierten Anlässen" und Anspielungen "nivelliert" (Men-ninghaus 1988, 184 u. 1987), ist überhaupt nicht von der Hand zu weisen. Sicherlich wären z.B. dahingehende Recherchen dem Gedicht "extern", aufgrund welcher Anlässe Celan in ABER formuliert hat: die Schwäne, / in Genf (und nicht z.B. "in Paderborn"). Soweit Menninghaus allerdings unter "Mittel, die dem Gedicht extern sind", auch "Wörterbücher verschiedenster Art" einreiht (vgl. Menninghaus 1988, 182), muß dem widersprochen werden. Wörterbücher als Berufungsinstanz für wortbedingte Verstehensprobleme waren immer dazu da, bei der Textinterpretation problematischer Textstellen behilflich zu sein. P. N. Denisov hat in einer Arbeit, die in Wolski (1982) aus dem Russischen übersetzt worden ist (zitiert hier als Denisov 1977/1982), festgestellt:

 

"Vom Gesichtspunkt eines 'sozialen Auftrags' für Wörterbücher her gesehen gibt die Geschichte der Lexikographie [...] eine überaus gehaltvolle Antwort: Als älteste Wörterbücher erwiesen sich die Übersetzungswörterbücher; und von den einsprachigen sind es diejenigen unverständlicher Wörter. Dies ist die informative Funktion bzw. die Nachschlagefunktion des Wörterbuchs. Es ist eben dasjenige Moment, um dessen willen sie im Altertum erstellt wurden, sie in heutiger Zeit erstellt werden und man sie auch in Zukunft immer erstellen wird. Das Wörterbuch ist das permanente Gedächtnis einer Gesellschaft." (Denisov 1977/1982, 95-96).

 

Obwohl im Rahmen des vorliegenden Beitrags mit Blick auf einen anderen Wörterbuchtyp argumentiert wird als in Denisov (1977/1982), wo es um das "sprachpädagogische Wörterbuch" geht, und auch in einem ganz anderen Theo-rierahmen, lassen sich dessen Ausführungen durchaus auf das Autorenwörterbuch beziehen:

 

"Wörterbücher waren immer mit Lehrtexten und anderen Texten verbunden. Kommentierung und Glossierung sakraler und klassischer literarischer Texte vereinen häufig eine philologische und praktische Erklärung von Wörtern und Redewendungen in sich. Es ist natürlich zu vermuten, daß diese Züge des Wörterbuchs, die in ihren Wurzeln zu den Quellen des Schrifttums und der Philologie führen, in einem universellen sprachpädagogischen Wörterbuch [...] ihre Widerspiegelung finden müssen." (Denisov 1977/1982, 97-98).

 

Verwiesen sei von hierher, nämlich daß Wörterbücher "zu den Quellen des Schrifttums und der Philologie führen", aus dem Bereich der Literaturwissenschaft auch auf die mehrfach zitierte Arbeit von George Steiner. Für Steiner "verkörpert sich" im "Impuls zu Rezeption und Aufnahme" ein "anfänglicher fundamentaler Akt des Vertrauens" (Steiner 1990, 207). Für die "Begegnung mit Sprachen, die nicht unsere eigenen sind", empfiehlt er, was sich ohne Einschränkung auf das Werk Celans beziehen läßt:

 

"Lexikalische cortesia, der erste Schritt der Philologie, ist das, was uns in den großen Wörterbüchern verweilen läßt, sowohl denen des allgemeinen Sprachgebrauchs wie denen spezieller Gebiete. Das ist es, was uns das theologische, politische und regionale Vokabular eines Dante eröffnet, seinen Wortschatz (den er uns zum Geschenk macht). Das Lexikalische macht uns die juristischen, militärischen, botanischen und handwerklichen Wortbestände und Referenznetze greifbar, mit denen Shakespeare die verschwenderischen Präzisionen seiner Wortwelt einfängt. Wir lernen zu hören, was Goethe aus der Alchemie übernimmt, Joyce aus heimischer Mundart. Die Bemühung und der Ertrag haben einen Rang der Bedeutungsartikulation, wie er auch auf Musik zutrifft. Ein selbstverständliches, unablässiges Nachschlagen im Oxford English Dictionary, im französischen Littré befähigt uns dazu, die Entfaltung geschichtlicher Kontinuität und Veränderung in den Wörtern selbst und innerhalb der Textkörper, deren organische Bestandteile diese Wörter sind, zu hören." (Steiner 1990, 208).

 

Nachfolgend ist in aller Deutlichkeit herauszustellen, daß sich die vorgeschlagene Konzeption zu einem Autoren-Bedeutungswörterbuch in fast jedem Punkt von dem unterscheidet, was in älteren und auch neueren Arbeiten zu diesem Wörterbuchtyp bisher festgestellt worden ist (vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen unter 6.3.4.2.). Abgesehen von sonstigen konzeptionellen Spezifika ist zentraler Ausgangspunkt derjenige, daß zu einer ausführlichen Beschäftigung mit einem einzelnen Gedicht Celans oder mit einem ganzen Gedichtzyklus nicht auf das in Texten exteriorisierte Wissen von Textauslegern verzichtet werden kann. In Übereinstimmung mit dem, was bereits in Wolski (1995) dazu ausgeführt worden ist, heißt dies, daß die zur Verfügung stehenden Ergebnisse aus der Celan-Philologie auf die als Stichwörter angesetzten Einheiten zu beziehen sind. Zu berücksichtigen sind also mit Blick auf Einzeldaten auch ganz kontroverse Deutungshinsichten. Es geht folglich überhaupt nicht darum, irgendwelchen Lemmazeichen (zu bearbeitende Einheiten im Wörterbuch) qua Ko- bzw. Kontextinterpretation eine vermeintlich autoreigene Bedeutung zuzuordnen, was hier durchaus als Affront gegen sämtliche anderen Auffassungen zur Rolle eines Autorenwörterbuchs zu verstehen ist (vgl. nachfolgend unter 6.3.4.2.). Damit wird gewährleistet, daß das mögliche Verständnis von Rezipienten nicht in eine bestimmte Richtung gelenkt wird; vielmehr sollen die an jeweiliges Lemmazeichen adressierten und in einem geeigneten Format präsentierten Daten die Rolle von Angeboten spielen, sich mit Hilfe von Fremd-Reflexionen ein eigenständiges Verständnis erarbeiten zu können.

 

 

6.3.4.2.        Zur Textlexikographie mit Blick auf die Konzeption eines Bedeutungswörterbuchs

 

Der Ausdruck Textlexikographie wurde erstmals in Wiegand (1984) als Terminus eingeführt und folgendermaßen definiert:

 

"Textlexikographie ist derjenige Teil der Sprachlexikographie, in dem Sprachnachschlagewerke speziell in dem- bzw. denjenigen schriftlichen Text(en) erarbeitet werden, die das lexikographische Korpus bilden" (Wiegand 1984, 590).

 

Die im Definiens vorkommenden Ausdrücke, die im Theoriezusammenhang ebenfalls definiert sind (weil im Rahmen einer Axiomatik aufeinander bezogen), können an dieser Stelle übergangen werden; festgehalten sei, daß hier die Autorenlexikographie als definierbarer Teil der Textlexikographie ausgegrenzt und daß der Textlexikographie die "Langue-Lexikographie" als Kohyponym parallelisiert wird. Zu einer etwas anderen Zuordnung von Textlexikographie und Sprachlexikographie sei auf Reichmann (1991) verwiesen und auf die Ausführungen aus Wiegand (1994).

Wenn der Gebrauch sprachlicher Ausdrücke eines Autors lediglich dokumentiert wird, führt das zu Textwörterbüchern, die als Formwörterbücher bezeichnet werden. Datentypen in solchen Wörterbüchern sind mindestens die Belegstellenangabe oder der Belegtextnachweise; Namen für derartige Nachschlagewerke sind Index und Konkordanz (vgl. Wiegand 1986a, 165). Formwörterbücher sind durch den Einsatz von Computern schnell herzustellen, weshalb deren Anzahl im Bereich der Autorenlexikographie in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat (vgl. dazu auch Wiegand 1994, 231). Anders ist die Lage bei dem zweiten Typ von Autorenwörterbüchern: dem Bedeutungswörterbuch.

 

In der Celan-Philologie wird die Frage nach dem Wert der - einzig zur Verfügung stehenden - Wörterbücher des Typs Formwörterbücher entweder überhaupt nicht gestellt, oder sie wird implizit im Umkreis von Diskussionen um die sogenannte "Parallelstellen-Interpretation" thematisiert. Im wesentlichen überwiegt die Skepsis, was jedenfalls eine systematische (also nicht nur gelegentliche) Bezugnahme auf Formwörterbücher angeht; vgl. dazu Wolski (1995, 73-74).

Auf die Formwörterbücher zu Teilen des Werks von Celan wird an dieser Stelle nicht eingegangen; Details aus Neumann (1969), Nielsen/Pors (1981), Fleischer (1985) und Pors (1989) sind in Wolski (1995, 69-74) untersucht worden. Es zeigt sich im wesentlichen, daß Lemmatisierungsfragen erhebliche Probleme aufwerfen.

 

Bedeutungswörterbücher sind solche Textwörterbücher, für welche das Prinzip der semantischen Kommentierung gilt; in ihnen wird der Gebrauch "dokumentiert und " - jedenfalls erfaßt dies den Status quo solcher Wörterbücher, wie an dieser Stelle hinzugefügt sei - "interpretiert" (Wiegand 1994, 233). Die Erstellung solcher Wörterbücher ist nach Wiegand "die zentrale Aufgabe der germanistischen Autorenlexikographie". Sie gerät angesichts "der Computereinsetzer am Formwörterbuch" zunehmend "aus dem Blickfeld", auch weil Bedeutungswörterbücher nicht den schnellen Erfolg versprechen (vgl. Wiegand 1986a, 169). Wiegand schließt die Bemerkung an, daß für das Deutsche "die Lage bei den Bedeutungswörterbüchern ziemlich miserabel" ist, wenn man von der Goethe-Lexikographie absieht (Wiegand 1986a, 167).

 

Die Verhältnisse im Bereich z.B. der russischen Autorenlexikographie (Puschkin-Wörterbuch, u.a.) oder auch der rumänischen (Eminescu-Wörterbuch) sind bei uns vollkommen unbekannt. Im Rahmen der Vorarbeiten zu einem Celan-Wörterbuch erscheint es als unbedingt erforderlich, neben den älteren russischen Wörterbüchern dieses Typs auch die neuen Projekte (z.B. Dostojewski-Wörterbuch in Moskau) zur Kenntnis zu nehmen. Geplant ist in dem Zusammenhang, diesbezügliche Ergebnisse aus der russischen und rumänischen Lexikographie per selbst geleisteter Übersetzungen und Teilübersetzungen in ähnlicher Weise vorzustellen wie in Wolski Hrsg. (1982), wodurch die Errungenschaften der allgemeinen gemeinsprachlichen russischen Lexikographie bei uns bekannter geworden sind.

 

Die abstrakt formulierten Zielsetzungen eines Autoren- Bedeutungswörterbuchs beruhen meist auf sprachtheoretischen Annahmen, welche - aufgrund der sich völlig davon unterscheidenen Orientierung vorliegender Arbeit - mit Blick auf ein Celan-Wörterbuch überhaupt nicht geteilt werden können. Unter Bezugnahme auf die Ausführungen unter 3.5.1.4. sei an dieser Stelle apodiktisch darauf hingewiesen: Wer von der Annahme einer poetischen Sonderfunktion der Sprache ausgeht, wer sprachkünstlerische Äußerungen als "Dichtersprache" bzw. "poetische Sprache" theoretisiert und diese der Alltagssprache entgegensetzt, wäre schlecht beraten, sich an die Aufgabe eines Bedeutungswörterbuchs gerade zum Werk Celans zu machen; das Scheitern eines derartigen Versuch kann vorausgesagt werden. Auch wer die Dichterwelt von Metaphern umstellt sieht und Metaphern - traditionell oder modernistisch inspiriert - lexikographisch zu erarbeiten gedenkt, kann nur in die Irre gehen - gerade bei, aber nicht nur bei Celan allein (vgl. auch Wolski 1995, 75 dazu).

Die Einwände gegen bisherige Verlautbarungen zum Autorenwörterbuch lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

 

E r s t e n s :  Deutlich zu widersprechen ist Äußerungen von Josef Mattausch (welche hier stellvertretend für ähnliche Auffassungen stehen), ein Autorenwörterbuch solle "Einsichten in die Poesiesprache" ermöglichen - wenn damit mehr gemeint ist als Einsichten in die kreative Ausnutzung von Wortbildungsmöglichkeiten des Deutschen oder die Herstellung subtiler Bezüglichkeiten zwischen Ausdrücken. Gleichfalls im Unterschied zu Mattausch wird es mit Blick auf die hier vorzuschlagende Konzeption eines Celan-Wörterbuchs ganz und gar nicht als das "eigentliche Aufgabenfeld der Autorenlexikographie" angesehen, eine "genaue, intensive Textinterpretation" zu leisten, "die gerade das Besondere und Individuelle in den Blick nimmt und vor 'schwierigen Stellen' nicht zurückweicht" (Mattausch 1990, 1552).

Abgesehen davon, daß es bei Celan nur "schwierige Stellen" gibt und es (nach allen dazu vorgebrachten Einwänden; vgl. 2.2.2. und 3.5.1.4.) überhaupt nicht darum gehen kann, "Einsichten in die Poesiesprache" zu ermöglichen, ist - gerade mit Blick auf Celan - jeder Versuch, eine "genaue, intensive Textinterpretation" zu leisten, als Versuch am untauglichen Objekt anzusehen. An derartige Vorstellungen allerdings hat z.B. Thorsten Roelcke angeschlossen, wenn er als "Grundfunktion von Autorenbedeutungswörterbüchern "die Interpretation eines autorenbezogenen Textkorpus" (Roelcke 1995, 5) ausmacht. Die Konzeption eines Bedeutungs-Wörterbuchs, wie sie hier vorgeschlagen wird, kann es also nicht mit dem zutun haben, was Roelcke - ausgerechnet in der Einleitung zu dem gleichen Band von "Lexicographica", in dem der theoretisch ganz anders orientierte Beitrag Wolski (1995) erschienen ist - mit dem Autorenbedeutungswörterbuch qua verbalem Anschluß durch "bzw." sofort mit diesem verbindet: das "Autoreninterpretationswörterbuch" (vgl. Roelcke 1995, 5).

Was der Autorenlexikographie als Aufgabenstellung zugewiesen wird, zeigt eigentlich nur, daß man sich an solchen Mustern literarischen Schaffens orientiert hat, für welche eine konsensfähige "Textinterpretation" im Sinne eine ko- und kontextspezifischen Ausdeutens verschiedener Textstellen verstanden wird, die im Wörterbuch auf das zu bearbeitende Lemmazeichen bezogen werden.

Es macht die - an traditionellen Mustern kreativer dichterischer Sprachleistungen entwickelte - Sichtweise von Aufgaben der Autorenlexikographie sicherlich dort einen Sinn, wo man eine besondere Distanz zum gegenwärtigen Sprachgebrauch feststellen kann (wie z.B. mit Blick auf die Sprache Goethes), und wo ein Werk nicht insgesamt unter den Gegebenheiten außerordentlicher Textverdichtung steht. Für das Goethe-Wörterbuch ist es sicher sinnvoll, die "individuell occasionelle Anwendung eines Wortes auf die verschiedenen Seinsbereiche [...] neben den resultativen, allgemein gültig gewordenen Bedeutungen besonders sorgfältig darzustellen" (Goethe-Wörterbuch, Einleitung Spalte 11). Für das Goethe-Wörterbuch gewinnt denn auch die Frage an Gewicht, wie das "allgemeine Sprachgut" (ebenda, Spalte 4) eigentlich zu behandeln ist. Unter Berücksichtigung von Gegebenheiten des Werks von Celan kann somit kaum einmal eine Übereinstimmung mit den generell für die Autorenlexikographie gefaßten Zielsetzungen erkannt werden.

 

Z w e i t e n s :  Die Grenzlinie zur sogenannten "Langue-Lexikographie" läßt sich im Rahmen der Argumentation vorliegender Arbeit und hinsichtlich des geplanten Wörterbuchs nicht so ziehen, wie sie üblicherweise - im Sinne einer Erfassung des Status quo der Praxis von Autorenlexikographie - erfaßt wird. Zwar geht es - grundsätzlich betrachtet - in der Autorenlexikographie durchaus "um die durch die jeweiligen Textschreiber realisierte und damit mehr oder weniger individualisierte Sprache mit allen ihren Besonderheiten, ihren Nuancen auf allen Ebenen, ihren Abweichungen vom Usuellen, ja ihrer vermeintlichen Fehlerhaftigkeit" (Wiegand 1994, 233). Aber Textlexikographie und Langue-Lexikographie können nicht abstrakt in dem Sinne entgegengesetzt werden, daß gewisse "langue-Aspekte" im Sinne einer bloßen Auch-Verfügbarkeit für die "Textlexikographie" veranschlagt werden (vgl. so aber Wiegand 1994, 233). Im Falle der "Textlexikographie" wird - von einer solchen Gegenüberstellung ausgehend - relativ zu einem Rahmen, den ein Textkorpus abgibt, und aufgrund von Annahmen über den Sondercharakter dichterischer Sprache die Entstehung eines eigenwilligen Sprachkosmos erwartet. Ein solcher aber wäre für beliebige Texte beliebiger Textsortenzugehörigkeit zu haben, wenngleich dies in vielen Fällen sehr uninteressant wäre! Im Grunde kann aber anderes als textsortenspezifische Fixiertheit eines Ausdrucks in schriftlichen und mündlichen Verwendungsinstanzen - einschließlich aller auch dort zu habenden und zum Tragen kommenden Kreativität - auch für die "Langue-Lexikographie" keine Basis abgeben; gleichwohl ist hier die Übergehung individuenspezifischer sprachlicher Differenzierungen zugunsten einer Kommentierung aus der Totalperspektive (einer "Langue") ein Verfahren, das nicht gerechtfertigt werden muß. Da an eine Entgegensetzung von "Langue"- und "Textlexikographie" aufgrund der dazu angeführten Begründungen nicht angeschlossen werden kann, verbleibt als Bezugspunkt lediglich gültig, daß es in der "Textlexikographie" darum geht, daß "Sprachnachschlagewerke speziell zu dem- bzw. denjenigen schriftlichen Text(en) erarbeitet werden, die das lexikographische Korpus bilden" (Wiegand 1984, 590). Damit nämlich kann auch dem Rechnung getragen werden, was die Besonderheiten eines Celan-Wörterbuchs ausmachen soll.

 

D r i t t e n s :  Es wird für ganz ungeeignet gehalten, die Unterschiede zwischen Autoren- und sonstiger Sprachlexikographie auf der Folie der aus dem linguistischen Altreservoir früherer Einführungskurse in die Linguistik stammenden Differenzierung nach "langue" und "parole" zu sehen, oder gar auf der Basis überholter strukturalistischer Systemauffassungen davon auszugehen, der Wortschatz eines Autors könne als "semantisches System interpretiert" werden; vgl.:

 

"Damit leitet das Autoreninterpetationswörterbuch eine Interpretation der sogenannten parole als langue, selbst wenn es hierbei örtlich eine dieser Interpretation der parole als langue untergeordnete Interpretation der parole als parole vornimmt." (Roelcke 1995, 6-7).

 

V i e r t e n s :  Eine "Individualsprache" gibt es überhaupt nicht! Was es gibt, sind individuell geprägte Erfahrungen, die sich aus Beobachterperspektive - unter Rekurs auf sprachliche Äußerungen eines Individuums - relativ zu gängigen Gebrauchserwartungen eines Ausdrucks als teilweise  a n d e r e s  Sprach- und Weltwissen ausweisen lassen. Die Konstruktion einer "Individualsprache" kann nur auf der Folie strukturalistischer Sprachauffassungen qua Durchschnittsbildungen vorgängiger Abstraktionen wie "langue" und "parole" fiktiv angesetzt werden. Weder Celan noch sonst jemand hatte eine "Individualspra-che", die als "das Sprachsystem, insbesondere das semantische System des Wortschatzes eines Autors" (Roelcke 1995, 6) aufgefaßt werden könnte. Für ähnlich problematische Auffassungen aus dem Bereich der Celan-Philologie sei auf die Ausführungen unter 3.4.5. und 3.5.1.4. hingewiesen.

 

 

6.3.4.3. Skizze eines Bedeutungswörterbuchs zum Werk Celans

 

Zur Erläuterung der bis dato entwickelten Konzeption zu einem Bedeutungswörterbuch wird auf folgende Aspekte eingegangen: (1) Zielsetzung des Wörterbuchs und Klärung seines Typs, (2) Wörterbuchbasis, (3) Lemmatisierungsfragen, (4) Zentrale Textsegmente der Wörterbuchartikel, (5) Nötige Vorarbeiten.

 

 

(1)     Zielsetzung des Wörterbuchs und Klärung seines Typs:

 

Zur Bestimmung der Zielsetzung eines derartigen Wörterbuchs muß, wie bereits in Wolski (1995, 76) erläutert, über floskelhafte Darlegungen des Typs "Förderung eines genauen Textverständnisses" hinausgegangen werden. Das Wörterbuch wird insgesamt den Charakter eines kulturhistorischen Wörterbuchs erhalten, da es auch wesentliche Bezugspunkte des Geisteslebens der Zeit Celans erschließt.

 

Einen Schwerpunkt bildet dabei sicherlich die Vorgeschichte und Nachgeschichte des Faschismus mit Namen und Daten, wie sie sich aus der Perspektive einer individuellen Erfahrung im Werk Celans niedergeschlagen haben. Vernetzt damit und in vielfältiger Weise darauf bezogen sind Fragen im Umkreis von Kunst und Sprache, die im Geistesleben nach dem Faschismus diskutiert wurden. Da Celan in kritischer Auseinandersetzung mit seiner Zeit sehr viele Daten bis hin zur biblischen Geschichte ins Spiel gebracht hat, werden auch kulturhistorische Daten in gesonderten Wörterbuchartikeln präsentiert.

 

Ein solches Wörterbuch, das Geist und Ungeist dokumentiert, könnte - wie das in Wolski (1995, 76) gefaßt worden ist - auch über den engen Kreis schöngeistiger Celan-Interpret(inn)en hinaus von großem Interesse für alle sein, die bereit sind, "der Daten" (in den Worten Celans) "eingedenk" zu bleiben.

Dem Typ nach wird das Wörterbuch ein leicht standardisiertes "Gesamtwerk-wörterbuch" sein, und zwar nach dem Typologiekriterium der Korpuszusammensetzung. Da ein semantischer Kommentar obligatorisch ist, wird es ein Bedeutungswörterbuch sein. Mit Mattausch schließlich kann es - mit einigen Einschränkungen, die hier übergangen werden können - den "thesaurischen Wörterbuchformen" (Mattausch 1990, 1553) zugerechnet werden.

Da die bisher dazu entwickelten Vorstellungen im Vergleich zu dem, was ansonsten von Autoren-Wörterbüchern erwartet, in ihnen angestrebt und auch verwirklicht worden ist, als durchaus eigenwillig erscheinen müssen, stellt sich die Frage, in welcher Weise sich ein solches Wörterbuch überhaupt von einem Kommentar unterscheidet. Dazu sei festgestelt: Ein Kommentar, aufgefaßt als textnahe Leseanleitung, dient im Unterschied zu einem Wörterbuch nur der punktuellen Klärung gewisser Textsegmente des Werks (sprachlicher Ausdrücke von der Größenordnung Wort bis hin zu Text-Passagen). Ein solcher Werk-Kommentar würde aufgrund der Rezeptionslage des Werks von Celan nicht nur erhebliche Lücken für viele Teile des Werks aufweisen; vor allem kann er gerade in dem Bereich eigentlich nur versagen, woran im Rahmen der Konzeption gerade besonders gelegen ist, nämlich die Deutung nicht in eine bestimmte Richtung festzulegen, sondern Vielseitigkeit der Bezüglichkeiten im Werk aus unterschiedlicher Perspektive aufzuzeigen.

 

Der Kommentar würde sich nämlich bei zu großer Ausführlichkeit den Vorwurf der Langatmigkeit einhandeln, könnte zusätzliche Verwirrungen stiften und/oder mit Blick auf ausgewählte Passagen eine einseitige Sicht vermitteln. Im Unterschied zu einem Werk-Kommentar kommt aber dem Bedeutungswörterbuch die Aufgabe zu, jeden sprachlichen Ausdruck zu lemmatisieren und dem als Lemma angesetzten Ausdruck mindestens eine Erläuterung zuzuordnen. Wenn eine derartige Erläuterung - einem der unterschiedenen Typen nach - als "Kommentar zur Bedeutung" (vgl. nachfolgenden Abschnitt "Zentrale Textsegmente der Wörterbuchartikel") erfaßt wird, so ist der Ausdruck Kommentar selbstverständlich anders verwendet als in dem Sinne, in dem dieser als Werk-Kommentar von der L-Interpretation abgegrenzt wird. Hinzuweisen ist des weiteren darauf, daß ein ausgearbeitetes Verweissystem wesentlicher Bestandteil des Wörterbuchs sein muß und nur im Rahmen eines Wörterbuchs geeignet verwirklicht werden kann; ein Werk-Kommentar wäre damit überfordert. Die Vernetzung von Ausdrücken, die dem Werk entstammen, mit solchen, die über dessen Deutung hinzuzuziehen sind, ist nur mit einem Wörterbuch zu erreichen.

 

 

(2)     Wörterbuchbasis:

 

Der Terminus Wörterbuchbasis wird hier so aufgefaßt wie in Wiegand (1984). Zu den Primärquellen, die das lexikographische Korpus ausmachen, zählt eine Teilmenge des in der - vorläufig - verfügbaren vollständigen Gesamtausgabe erfaßten Werks von Celan. Von einer Teilmenge ist hier deshalb die Rede, weil Briefe und Übersetzungen nicht dazuzählen sollen; diese können aber in geeigneter Weise in den Außen­texten des Wörterbuchs dokumentiert werden. Wünschenswert wäre ein rascheres Vorankommen der historisch-kri­tischen Ausgabe des Werks, sodaß man sich ausschließlich auf diese stützen könnte (vgl. dazu Wolski 1995, 78-80).

Da daran gedacht ist, Arbeiten zum Werk Celans in dem Wörterbuch weitläufig zu berück­sichtigen, bilden diese eine Schicht der Sekundärquellen. Dabei wird (mit noch zu nennenden Einschränkungen) nach der Maxime verfahren, jede Einseitigkeit zu vermeiden. Als Sekundärquellen weiteren Typs können dieje­nigen Wörterbücher gelten, aus denen Daten zu den Stichwör­tern zu gewinnen sind, welche zu dem Werk Celans angesetzt werden.

 

 

(3)     Lemmatisierungsfragen:

 

In dem Wörterbuch wird es nur die glattalphabeti­sche Anordnungsform geben, also nur striktalphabetische Ma­krostrukturen ohne Gruppierung. Dafür maßgeblich sind besondere Entscheidungen, welche für die Leitelementträ­ger (also die Lemmata) getroffen werden: Aufgrund der Besonderheiten des Werks von Celan kommt eine andere als eine zeichenformgetreue, d. h. orthographie- und typographiegetreue, Fassung der Leitelementträger des Lemmabestands nicht in Betracht; Nennformen bzw. Grundformen derjenigen Einheiten, die zum Lemmabestand zählen, werden mithin nicht konstruiert.

 

So wird z.B. der sprachliche Ausdruck verformt aus ABER nicht auf die infinitivische Normalform verformen zu­rückgeführt; WEGGEBEIZT aus [T8] (vgl. unter 6.2.1) wird in der vertikalen Lemma­reihe nicht z.B. zum Leitelementträger wegbeizen; zudem bleiben die Kapi­tälchen erhalten. Um den Ausdruck Hölderlintürme aus [T6] per Leitelement aufzufinden, werden Benutzer nicht zu dem Lemma Hölderlinturm geleitet, um dort den Ausdruck erst in der Belegstellenangabe als Hölderlintürme aufzufinden.

Nicht durchhalten läßt sich und nicht durchgehalten werden sollte die skizzierte Vorgehensweise in bestimmten Fällen; vgl. dazu Wolski (1995, 81).

 

 

(4)     Zentrale Textsegmente der Wörterbuchartikel:

 

An dieser Stelle kann auf die mikrostrukturellen Eigenschaften, welche das Wörterbuchs haben soll, nicht eingegangen werden. Für die Grundlegung mikrostruktureller Eigenschaften wird insbesondere an Wiegand (1989a) und (1989b) angeschlossen. Hingewiesen sei an dieser Stelle lediglich auf Festlegungen dazu, welche Angaben obligatorisch und welche fakultativ sein sollen:

Wortartenangaben sind nicht obligatorisch; die Belegtextangabe hingegen ist ein obligatorisches Textsegment ebenso wie eine Angabe zur Positionierung des Lemmazeichens ("Titel Gedichtband", "Endstellung mit Spatium zur Vorzeile", "isoliert auf einer Zeile" u.a.m.). Diese Angabe wird als Positionierungsangabe bezeichnet. Die Belegstellenangabe ermöglicht die Identifizierung der Belegtexte, welche qua Belegtextangabe angeführt werden. Da im Rahmen der Wörterbuchartikel auf Ergebnisse aus der Sekundärliteratur zu Celan Bezug genommen wird, sind entsprechende Quellen mit einem Sigle zu dokumentieren; solche Textsegmente werden als Bezugstextangabe bezeichnet.

Obligatorisch sind auch Frequenzangaben. Die Daten, die zu letzterem Angabetyp zählen, müssen allerdings unter Nutzungsaspekt angeführt werden, damit daraus Informationen für Deutungshinsichten gewonnen werden können; die bloß ziffernmäßige Konstatierung wird für überflüssig gehalten.

Nachfolgend wird lediglich noch auf die Gretchenfrage eines Bedeutungs-Wörterbuchs eingegangen: "Wie hältst du's mit den Bedeutungen?" - Im Rahmen der in vorliegender Arbeit skizzierten sprachtheoretischen Orientierung sind Sonderkonstruktionen wie "poetische Sprache" und "poetische Sprachfunktion" (vgl. dazu 2.2.2. und 3.5.1.4.) nicht vorgesehen; auch brauchen und können aufgrund der vertretenen Bedeutungsauffassung in keiner Weise die "kommunikativ-pragmatischen Zeichenwerte" als "Momente der Textsemantik" und "spezifisches Anliegen der Autorenlexikographie" (Mattausch 1990, 1555) als additiv zu sonstigen Bedeutungsaspekten hinzukommend erfaßt zu werden. Des weiteren muß es von diesem Ansatz her als abwegig begriffen werden, wollte man in einem Bedeutungswörterbuch geplanten Typs von irgendwelchen chimärischen Bedeutungen ausgehen, die aus je spezifischen Ko- und Kontextbedingungen herrühren, und Resultate derartiger Ko- und Kontextinterpretationen am Ende auf die Lemmazeichen als deren Bedeutungsangaben projizieren. Das wäre der Versuch, min­destens den zweiten Schritt vor dem ersten zu machen und hieße, die gemeinsame Verständigungsbasis von vornherein zu verlassen. Wer aber das erste Knopfloch verfehlt (wie das Goethe irgendwo bildlich gefaßt hat), wird auch des weiteren nicht zurechtkommen. Es er­scheint somit als vernünftig und ratsam, von der Gel­tung derjenigen konventionellen Gebrauchsregeln auszugehen, die für sprachliche Einheiten auch in Texten anderer Textsortenzugehörigkeit zu veranschlagen sind.

Für das Autoren-Bedeutungswörterbuch sind daraus, wie bereits unter 6.3.4.2. angedeutet, folgende Schlußfolgerungen zu ziehen:

 

- Die Unterscheidung von Sprach- und Fachlexikographie, welche von Josef Mattausch diskutiert wird, wird belanglos, wenn es um Interpretamente in dem Autorenwörterbuch des hier vorgeschlagenen Typs geht.

 

- Gleichfalls verliert die Frage an Gewicht, ob die Einheiten des Wörterbuchs dann, wenn sie solche des gemeinsprachlichen Wortschatzbereiches sind, anders kommentiert werden müssen als in der sog. "Langue-Lexikographie".

 

- Positiv gefaßt, wird folgendermaßen verfahren: Es werden verschiedene Typen von "Kommentaren" angesetzt, die es Benutzern ermöglichen sollen, sich - ausgehend von einzelnen Ausdrücken, die mit anderen vernetzt sind - ein tiefergreifendes Verständnis von Gedichtpartien, ganzen Gedichten und dem Werk insgesamt zu erarbeiten. Es sei daran erinnert, daß es abgelehnt wird, so zu tun, als könnte man entsprechende Semantisierungen de­terminieren. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, daß Verstehensleistungen - um die es sich hierbei ja handelt - aufgrund unterschiedlicher Wissens- bzw. Erfahrungsvoraussetzungen ganz unkontrollierte, ja sogar gänzlich chaoti­sche Wege gehen können! Hinweise auf Fremdreflexionen, also Kommentare aus Sprach- und Fachwörterbüchern sowie Ergeb­nisse bereits erfolgter Textauslegungshandlungen sind nur dazu geeignet, eigene Deutungen gegebenenfalls zu motivie­ren und alternative Deutungen bzw. Sinnzuschreibungen in Erwägung ziehen zu können. Dies heißt selbstverständlich zugleich auch, daß es - unter Wissens-aspekten - durchaus zum Auftrag des Wörterbuchs gehört, Wissenserweiterung bei Rezipienten zu erreichen und damit einen Bildungsbeitrag im ganz positiven Sinne des Ausdrucks Bildung leisten zu können.

 

Aufgrund unterschiedlicher Ei­genschaften der sprachlichen Ausdrücke aus dem Textkorpus sind folgende Textsegmente vorgesehen, die unter den - für dieses Wörterbuch als obligatorisch anzusehenden - Textbaustein Bedeutungsangabe fallen: (i) der semantische Kommentar, (ii) der Kommentar zur Intertextualität, (iii) der Behelfskommentar zur Semantisierung.

 

 

(i)      Semantischer Kommentar:

 

Semantische Kommentare, also Angaben zur Bedeutung sprachlicher Ausdrücke enthält das Wörterbuch - entsprechend der erläuterten Prämissen - in Übereinstimmung mit der gängigen Wörterbuchpraxis. Be­zugsbasis zu deren Formulierung sollte ein Wörterbuch wie das große Du­den-Wörterbuch (Duden-GWB) sein. Bei anderen Wörterbüchern, welche hin­zuzuziehen sind, wird per Angabe zu entsprechendem Textsegment gegebenenfalls der Nachweis geführt, in welchen Texten aus der Sekundärliteratur ein solcher Bezug ermittelt wurde.

 

Um mögliche Mißverständnisse auszuräumen, sei auf folgendes hingewiesen: Es ist nicht daran gedacht, den gesamten Wörterbuchartikel z.B. zu dem Lemma Herz oder Seele (vgl. das Gedicht mit dem Titel ABER, in dem diese Ausdrücke vorkommen) aus dem großen Duden-Wörterbuch zu präsentieren. Es muß in dieser Hinsicht gänzlich flexibel verfahren werden und durchweg mit Blick auf nötige Erläuterungshinsichten.

Mit Partikeln und Adverbien (eigentlichen sämtlichen Einheiten, die dem Funktions­wortschatzbereich zuzurechnen sind) haben nicht nur die Ersteller von Formwörterbücher die allergrößten Probleme. Was die Bedeutungswörterbücher angeht, potenzieren sich die Probleme eigentlich nur, weil dann Bedeutungsfragen auftre­ten, mit denen die Autoren aufgrund ungeeigneter sprachwissenschaftlicher Prämissen nicht zurechtkommen; vgl. Wolski (1986) sowie Wolski (1998d) und (1998e). Interessant zu beobachten ist, daß niemand bisher in der äußerst umfangreichen Sekundärliteratur einigermaßen befriedigende Ausführungen zur Rolle der Partikeln im Werk Celans gemacht hat. Was es gibt, sind sporadische phanta­siereiche und auch phantastische Überlegungen beispiels­weise zu Pronomina wie du und deren Bezug (ist es Gott, die Schechina aus der Mystik, der Autor selbst, oder vielleicht einfach nur ein angesprochenes bzw. ansprechbares Gegenüber?). Im Rahmen des Autorenwörterbuchs wird es ein besonderes Anliegen sein, zu den Partikeln eine Artikeltextgestaltung zu erreichen, welche für mögliche Benutzer instruktiv ist. Dazu zählt insbesondere eine gefällige Abfassung semantischer Kommentare, die anders aussehen muß als die Vorschläge aus Wolski (1986).

 


(ii)     Kommentar zur Intertextualität:

 

Der hier so bezeichnete Kommentar zur Intertextualität wurde in Wolski (1995) als Interpretationskommentar gefaßt. Die Bezeichnung spielt im Grunde keine Rolle (man könnte dazu auch "Beta-Kommentar" oder "Quer-Welt-ein-Kom-mentar" sagen); allerdings ist es für günstig zu erachten, den Ausdruck Interpretation im Zusammenhang mit dem Autoren-Bedeutungswörterbuch zu vermeiden. Denn erstens wird der Ausdruck in unterschiedlicher Weise vereinnamt (vgl. 6.2.1.); zweitens wird hier gerade nicht die Auffassung geteilt, es sei die Bestimmung eines solchen Bedeutungswörterbuchs, daß dort relativ zu einer lemmatisierten Einheiten jeweilige Textstellen - in einem hier als fragwürdig anzusehenden Sinne des Ausdrucks - "interpretiert" und die Ergebnisse der Interpretation auf entsprechendes Lemmazeichen als individualsprachliche Bedeutung des jeweiligen Autors zu projizieren sind; vgl. die Ausführungen unter 6.3.4.2.

Unter inhaltlichem Gesichtspunkt werden qua Kommentar zur Intertextualität solche Daten erfaßt, die sich nicht über semantische Kommentare erschließen. Unverzichtbar ist die Berücksichtigung dieses Untertyps des Textbausteins Bedeutungsangabe aufgrund der dem Wörterbuch zugedachten konzeptionellen Eigenschaften: Kommentare zur Intertextualität sollen im Celan-Wörterbuch Interpretamente aus solchen Bezugstexten umfassen, die nach dem Eigenverständnis jeweiliger Autoren als Ergebnisse von L-Interpretationen aufgefaßt werden dürften. Es wird damit Intertextualitäts-Hinsichten in einem engeren Sinne Rechnung getragen; denn selbstverständlich sind auch die so bezeichneten semantischen Kommentare über andere Texte (darunter Wörterbücher) vermittelt.

Es ist daran gedacht, daß in den Kommentaren zur Intertextualität möglichst viele und auch widersprüchliche Deutungshinsichten ins Spiel kommen, welche in der Celan-Philologie eine Rolle spie­len; auch in dieser Hinsicht unterscheidet sich dieser Zugriff somit von erläuterten Vorstellungen eines "Interpretations-wörterbuchs". Im Einzelnen macht die Berücksichtigung von Kommentaren zur Intertextualität ein sehr umsichtiges Vorgehen erforderlich.

 

Hierzu sind verschiedene Anmerkungen zu machen: Da in der Celan-Philologie in den letzten Jahren (wie anfangs in der Celan-Philologie bereits einmal) eine ganz bedenkliche Tendenz hin zu esoterischer und mystischer Deutung­ des Werks festgestellt werden kann, ist es unbedingt erforderlich, bei der Auswahl von Gewährsleuten nicht allzu tolerant zu verfahren. Denn ein "mystisch-hermeti­sches" Wörterbuch (vgl. ein Beispiel aus Eco 1995, 109) für Esoteriker soll das geplante Wörterbuch nicht sein. Und es darf auch nicht zur Arena für dekonstruktivistische Spiele werden, nämlich für das, was Schmidt in dem Beitrag "Literaturwissenschaft als interdisziplinäres Vorhaben" treffend "dekonstruktivistische Textsatyrspiele in der intellektuel­len Schickeria der Postmoderne" (Schmidt 1991a, 11) nennt. Eine Orientierung an dem, was Umberto Eco in ähnlich kritischen Bemerkungen zum Dekonstruktivismus als "hermeti-sche Abdrift" mit einem "krebsartig wuchernden Konnotations-Wachstum" (Eco 1995, 428) bezeichnet, sollte aus prinzipiellen Erwä­gungen unterbleiben - und nicht, weil entsprechende "Abdrift" nicht z.B. als Cyberspace-Repräsentation annä­hernd dargestellt werden könnte.

Die Vernetzung der Arti­kel durch artikelinterne und artikelexterne Verweise wird in dem geplanten Wörterbuch ohnehin recht weitläufig sein. Hierzu sind die Anregungen von W. Lenders und P. Ludewig (mündlich, während einer Tagung in Bonn, 27.-28.01.95) für sehr interessant und bedenkenswert zu halten, nämlich über Alternativen zum gedruckten Buch als Resultat entsprechender textlexikographi­scher Bemühungen nachzudenken.

 

Mit Hilfe eines reichhaltigen Verweissystems und der Auslagerung von thematischen Schwerpunkten als Stichworte in die Lemmareihe wird eine Entlastung jeweiliger Artikel erreicht und werden Mehrfachaufführungen vermieden. Entsprechende Kommentare sind stets einmal mehr sprachorientiert, einmal mehr sachorientiert. Erschlossen werden Daten, die nicht über semantische Kommentare vermittelt werden. Insbesondere für Ausdrücke, die nicht lexikalisiert sind, kommt derartigen Kommentaren eine ganz wichtige Funktion zu.

So sind Daten aus literarischen Wissensbeständen geeignet, z.B. den Aus­druck Pallaksch aus [T6] sicher zu erklären. Ebenso wichtig ist es z.B., daß die Zerlegung des Ausdrucks Menschen aus [T5] in Form von Men und Schen als die ver-/krüppelten Worte im gleichen Gedicht thematisiert wird. Auch wenn un­ter BAKEN-/sammler (vgl. [T10]) in Anschluß an die Sekundär­literatur erläutern zu sein wird, was es damit auf sich hat, gehört das zu diesem Typ von Kommentaren; jedenfalls die ausschließliche Berücksichtigung von Daten eines "semantischen Kommentars" zu Bake und Sammler wären für der­art kreative Bildungen nur bedingt hilfreich.

 

 

(iii)     Behelfskommentar zur Semantisierung:

 

Als Behelfskommentare zur Semantisierung werden hier solche Bedeutungsangaben bezeichnet, die ersatzweise für semantische Kommentare (Typ i) oder Kommentare zur Intertextualität (Typ ii) eintreten. Sie dienen der Präsentation von Daten insbesondere zu solchen Lemmazeichen, für welche lediglich Semantisierungshilfen angeboten werden können.

Dies ist auf die hier vertretene Auffassung zurückzuführen, daß Hinweise auf syntaktische Ei­genschaften und Hinweise auf analoge Wortbildungen zumindest wichtige Semantisierungshilfen sind, wenn sie nicht gar in gewissen Fällen die einzigen Daten sind, aus denen Bedeutungen konstruiert werden können.

Am augenfälligsten wird, was zur Ansetzung eines derarti­gen Kommentars unbedingt veranlaßt, bei der Konfrontation mit kreati­ven Bildungen, die nicht lexikalisiert sind, mit denen aber Wortbildungsmöglichkeiten des Deutschen ausgeschöpft wer­den. Anders als beispielsweise Pallaksch (ein Ausdruck, der nur über Kommentare zur Intertextualität erschließbar ist) sind Bildungen wie nachtweit aus dem Gedicht mit dem Titel ABER sichere Kandidaten für diesen Typ von Bedeutungsangaben. Die Kom­mentierung soll hier entsprechend der mehrfach erläuterten Maximen nicht so aussehen, daß nun der Versuch unternommen wird, diesen Ausdruck irgendwie deutend zu paraphrasieren, wobei die Paraphrase semantischen Kommentaren zu lexikali­sierten Ausdrücken ähneln würde! Vielmehr soll Benutzern des Wörterbuchs in solchen Fällen zum Aufbau eines Ver­ständnisses dadurch verholfen werden, daß lexikalisierte Ausdrucke angeführt werden, die der Analogiebildung dienen.

 

 

(5)     Nötige Vorarbeiten:

 

Neben an dieser Stelle nicht zu erläuternden Rahmenbedingungen verschiedener Art werden den eigentlichen Vorarbeiten zugerechnet:

 

- Einbezug von Erfahrungen, die im Rahmen vergleichbarer Projekte (abge-schlossener wie in Planung befindlicher) gewonnen worden sind, insbesondere auch aus der russischen und rumänischen Lexikographie,

 

- Auswertung der Sekundärliteratur zum Werk, die über die Auswertung der deutschsprachigen Literatur hinausgeht (welche im Rahmen vorliegender Arbeit ausschließlich berücksichtigt worden ist),

 

- Erstellung eines Formwörterbuchs,

 

- Darlegung der Konzeption anhand von Probeartikeln zu Lemmazeichen unterschiedlichen Typs.

 

 

6.4.  Schlußbemerkungen

 

In diesem abschließenden Kapitel ist aus dem Blickwinkel des in vorausgehenden Kapiteln entwickelten theoretischen Rahmens unter 6.2. auf Fragen der Interpretation eingegangen worden. Berücksichtigt werden zunächst insbesondere solche Arbeiten zu Interpretationsfragen, die außerhalb der Celan-Philologie stehen und die man andernorts offenbar noch nicht ausführlich zur Kenntnis genommen hat. Letzteres scheint auch für die in der Celan-Philologie entwickelten Ansätze zu gelten, auf die anschließend eingegangen wird. Aufgrund des ausführlichen Resümees unter 6.2.5. erübrigt sich an dieser Stelle eine zusätzliche Zusammenfassung zu dieser Thematik.

Auch die Schlüsse, die aus der Auseinandersetzung mit neueren und neuesten Arbeiten zu Wissensfragen (aus Sprachwissenschaft und Celan-Philologie) im Rahmen vorliegender Arbeit zu ziehen sind, bedürfen keiner zusätzlichen Erläuterung; dazu sei auf das unter 6.3.3.3. stehende Resümee hingewiesen.

An die Stelle einer eigentlichen Zusammenfassung können mithin in diesen “Schlußbemerkungen“ einige Zusätze treten, welche die Ausführungen zu dem vorstehend unter 6.3.4. skizzierten Wörterbuchprojekt ergänzen:

 

Nicht eigens betont werden muß, daß es sich gerade angesichts der dem geplanten Wörterbuch zugedachten Eigenschaften um eine nicht leicht zu bewältigende Aufgabe han­delt. Es ist dies keine Unternehmung, die aus einseitiger Perspektive heraus angegangen werden kann; und dies gilt für die drei Orientierungen gleichermaßen, welche hier ineinandergreifen: die literaturwissenschaftliche, die sprachwissenschaftliche und die metalexikographische Orientierung. Zu der Verwirklichung einer solchen Aufgabe bedarf es möglichst ausgereif­ter Kenntnisse im Bereich der Sprachwissenschaft (insbesondere solcher zur Semantik), der Literaturwissen­schaft (welche über die Kenntnis des Werks von Celan hin­ausgehen muß) und des mittlerweile ganz umfassend gewor­denen Gebiets der neueren und neuesten Metalexikographie.

Des weiteren kommt im Rahmen dieser Aufgabe, die hier durchaus als wichtige gesellschaftspolitische und nicht nur als lexikographische und von literatur- bzw. sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten her durchzuführende Aufgabe begriffen wird, dem Einbezug internationaler Celan-Forschungen ein sehr wichtiger Stellenwert zu.

Durch die Anlage des Wörterbuchs kann sicherlich sehr viel dazu beigetragen werden, daß es nicht nur ein Wörterbuch für einen ganz begrenzten Interessentenkreis wird. Schmidt hat darauf hingewiesen, daß ein "großer Bedarf da­nach" besteht, "Erfahrungen gerade auch an und mit litera­rischen Texten zu machen"; Bedarf besteht an "kritischer Selbstvergewisserung, Einsicht in die eigenen und fremden Produktionsweisen von Sinn, an Analysen von Wertprozessen wie an Analysen von Verwertungsprozessen" (Schmidt 1991a, 20). Und er schließt den Hinweis darauf an, daß man eben das entsprechende "bedarfsorientierte Angebot auch 'rüberbringen" muß, wenn man "der Literatur helfen will":

 

"Sie ist ein Produkt, wir sollten - als ihre effiziente Werbeagentur - daraus eine Produktpersönlichkeit machen, die Aufmerksamkeit auch in einer Massengesellschaft erregt - Aufmerksamkeit für sich und für uns." (Schmidt 1991a, 21).

 

Die mittlerweile verstorbene Helene Malige-Klappenbach hat die ersten Ausführungen zu diesem Vorhaben, nämlich diejenigen aus Wolski (1995), in einem handschriftlich verfaßten Brief (datiert vom 02. Mai 1995) folgendermaßen kommentiert:

 

"Mußten Sie sich nun gerade in solch undurchdringliches Dickicht begeben?? Da werden sie ja nie fertig, da können Jahrzehnte vergehen, und eine völlig klare Lösung wird sich nie ergeben. Gewiß, manches mag auch reizvoll sein, einmalig ist unbedingt vieles, hervorragend von Ihnen formuliert, aber, aber. Bei 'Nötige Vorarbeiten' wurde ich sehr an unsere Lage in den 50ern erinnert; wir haben ja damals eine 6(?)-seitige Probeartikel-Serie gedruckt vorgelegt, und die wurde von mehr als 100 Lexikographen diskutiert, einen ganzen Tag lang. [...] Ich muß sagen: Ich bewundere Sie, aber ich schüttele auch den Kopf über Sie."

 

Diese Worte von Malige-Klappenbach werden hier als Ansporn aufgefaßt, im Sinne einer Antwort die Arbeit an dem geplanten Wörterbuch in realistischer Einschätzung des Machbaren - sofort - in Angriff zu nehmen: Bei dem nachfolgenden Formulierungsresultat zum Lemmazeichen Pallaksch handelt es sich um keinen Probeartikel, sondern um einen ersten, ganz unvollkommenen, intuitiv gefaßten und in jeder Hinsicht optimierbaren Entwurf:

 

- Der Artikelkopf umfaßt hier (der Reihenfolge nach): Lemmazeichengestaltangabe, Belegstellenangabe, Positionierungsangabe, Frequenzangabe, Belegtextangabe.

 

- Daran schließen sich mehrere Kommentare zur Intertextualität an; einige dieser Kommentare sind sachbezogen, andere sprachbezogen.

 

- Der Artikel umfaßt zwei Anmerkungen: In der ersten Anmerkung werden Bezüge zu übergeordneten Aspekten hergestellt, in diesem Falle Einordnung in Spezifika moderner Lyrik. Die zweite Anmerkung erfaßt Gestalteigenschaften der Verwendungsinstanz des Lemmazeichens.

 

- Die (hier fiktiv gefaßten) Bezugstextangaben mit abgekürzten Namen- , Jahres- und Seitenangaben sind in einem Register aufzulösen.

 

- Mit waagerechtem Verweisungspfeil wird auf lemmatisierte Einheiten aus dem Primärquellen verwiesen, mit senkrechtem Pfeil auf zusätzlich angesetzte Lemmata; textinterne Verweise auf Anmerkungen werden in Klammern hinzugefügt. Interpunktion und Textauszeichnungen seien an dieser Stelle nicht problematisiert.

 

 


Pallaksch < I/226; Endstellung mit Spatium zur Vorzeile; 1 Beleg>: ("Pallaksch. Pallaksch.")

 

Ausdruck des umnachteten ­ Hölderlin; von Ch. T. Schwab überliefert: "Man konnte es das eine Mal für ja, das andere Mal für nein nehmen" (M. '64, 30). Deshalb setzte Celan den Ausdruck zweimal (B. '65, 605). Vorbereitet ist der als Zitat in Klammern (sh. Anm. 2) gesetzte Ausdruck in seiner Doppelung durch ® lallen und lallen, ® immer-, immer, ® zuzu (G. '84, 50). ­ Schelling hat das Wort als "Unwort" bezeichnet (J./P. '93, 203). Zu Hinweisen auf vergleichbare Äußerungen, so das "Zawlazaw trunkener Priester und Propheten", vgl. A. ('96, 103). Nach H. wird mit der "Anapher Pa-" ein Bezug auf ® Patriarchen hergestellt; "alla" gilt als "Manifestation des Lallens, mit abschließendem ksch endet das Wort im Geräusch" (H. '89, 141).

Anm. 1: Nach M. "scheint" das "Endstadium des umnachteten Hölderlin" zum "Ausgangspunkt aller heutigen Poeterei geworden zu sein" (M. '67, 35); vgl. auch S.-E., wonach Stammeln und Stottern, als "defiziente Modi der Rede", zu "Grundzügen lyrischen Sprechens in der Moderne" (S.-E. '97, 195) zählen; ­ Moderne Lyrik.

Anm. 2: Zu Problemen der Integration und zu möglichen Funktionen umklammerter Partien vgl. ­ Umklammerungen.

 

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