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Phantastische Paralipomena

Übersicht:

(1) Phantastische Paralipomena I: Vom Nutzen linguistischer Beispielsätze

(2) Phantastische Paralipomena II: Der Sprachforscher am Morgen

 

 

Phantastische Paralipomena I:

 

Vom Nutzen linguistischer Beispielsätze

 

(als Auftragsarbeit zu einem Sprach-Gag unter dem Pseudonym „W. Ky“ erschienen in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik (ZGL) 26. 1998, 128-133)

 

Werner Wolski

    

             

Aus Einführungs-Veranstaltungen ist bekannt, dass es nicht immer einfach ist, die Studierenden für die theoretische Linguistik zu begeistern, sie von dem Ersteindruck enigmatischer Spezialisierung zu einem Verständnis für verwickelte Sprachfragen hinzuführen, das es ihnen erlaubt, die Linguistik als lebensnahe Erkenntnisquelle und  Grundwissenschaft sprachvermittelter fachlicher Disziplinen zu begreifen. 

 

Sicher gelingt es durchaus oft genug, bei den Studierenden ein Interesse an der Linguistik zu wecken, das in Einzelfällen sogar dasjenige an der schönen Literatur übersteigt. Aber wie solche Erfolge zustande kommen, bleibt weitgehend im Dunkel. Liegt es an außergewöhnlicher Überzeugungskraft jeweiliger Lehrpersonen? Ist in Fällen gelungener Vermittlung der Anschluss an die Lebenspraxis der Studierenden in besonderer Weise geglückt? Hat ein ausgeklügeltes didaktisches Konzept und/oder ein gelungenes Unterhaltungsprogramm, durchgeführt unter Einsatz aller verfügbaren Medien, wesentlich zur Motivation beigetragen?

 

Wahrscheinlich muss all dies ineinandergreifen, damit sich der gewünschte Erfolg einstellt. Aber es gibt, bei genauerer Betrachtung, einen oft übersehenen Faktor, der eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt: die wunderschönen linguistischen Beispielsätze. Sie dürften aufgrund ihres hohen Unterhaltungswerts (bei gleichzeitiger Nähe zu Sachproblemen) immer schon viel nachhaltiger zu einem tiefgreifenden Interesse an der modernen Linguistik motiviert haben, als man zunächst vermuten sollte: Mit geschickt - in Darlegungen zu den jeweils behandelten Sprachfragen - eingestreuten Standard-Beispielsätzen kann die Lehrperson getrost die Sorge vergessen, unentwegt an einem uninteressierten Publikum vorbei-monologisieren zu müssen.

 

Einige wenige Ausschnitte aus einer Einführung in die Semantik mögen zeigen, wie zwanglos sich - ausgelöst durch linguistische Beispielsätze - ein lebhaftes Gespräch einstellen kann. Es muss ja nicht immer nur „Colourless green ideas sleep furiously" (deutsch: „Farblose grüne Ideen schlafen wütend") sein - ; aber das ist schließlich der bekannteste Beispielsatz aus der linguistischen Literatur. Er weist einen hohen Prototypikalitätsgrad auf und kommt garantiert in jedem Einführungsbuch vor, weshalb Studierende sehr früh auf ihn stoßen. Bereits in einer der ersten Sitzungen erwähnt, löste dieser Beispielsatz großes Interesse aus: Eine literarisch besonders bewanderte Studentin, Nicole M. (2. Sem., Primarstufe), bewunderte den poetischen Gehalt des Beispielsatzes, stellte Zusammenhänge zur modernen Lyrik her und schloss eine ausführliche Interpretation an. Eine andere Studentin, Andrea Z. (3. Sem., Sekundarstufe I, ebenfalls literarisch interessiert, zudem auch politisch sehr engagiert), hob mit Blick auf die gegenwärtige Situation einer Partei in Deutschland die prognostische Kraft des Beispielsatzes hervor: Es erschien ihr als „Mysterium", dass der frühe Chomsky eine solche politische Entwicklung voraussehen konnte. - Der zu Fragen des Indifinitpronomens angeführte Beispielsatz „Wenn Hans einen Esel hat, schlägt er ihn" löste recht heftige Reaktionen aus: So monierte Herr Herbert W. (11. Sem., Magister, an Linguistik sehr interessiert, engagierter Tierschützer), aus dem Beispielsatz trete eine ganz bedenkliche inhumane Gesinnung hervor; er beendete seine Ausführungen mit der Forderung nach verbesserten Tierschutzgesetzen. An den Beispielsatz „Die Heizungsrohre sind geplatzt, weil's Frost gegeben hat" (kreiert von einem Theoretiker aus der ehemaligen DDR; Thema: Konjunktionen) schloss Frau Ramona W. (2. Sem., Primarstufe, literarisch sehr gebildet) spontan eine metrische Analyse an, von der alle sehr beeindruckt waren. Im Übrigen sah sie in dem Beispielsatz einen Beleg für schludrige handwerkliche Arbeit. Dem widersprach Herr Roland Z. (3. Sem., Sekundarstufe I, politisch engagiert) energisch. Er wies darauf hin, dass es aufgrund erheblicher Arbeitsüberlastung im Heizungsbauhandwerk zur unsachgemäßen Installation von Heizungsanlagen kommen könne, was in vorliegendem Fall zum Platzen der Rohre geführt habe. Er gab seiner Erwartung Ausdruck, dass durch Schaffung neuer Arbeitsplätze im Heizungs- und Lüftungshandwerk ähnliche Mängel in Zukunft nicht mehr auftreten.

 

Es waren dies nicht die einzigen Beispielsätze, die in genannter Veranstaltung auf reges Interesse stießen. Wie nicht anders zu erwarten, gaben Beispielsätze, in denen  Ausdrücke des Typs Einhorn, Hesperus und Phosphorus enthalten sind, besonderen Anlass zu brillanten literarischen Höhenflügen. Bei allem kam aber die Behandlung der damit verbundenen Sprachfragen durchaus nicht zu kurz; vielmehr konnte der - bei der Konfrontation mit Beispielsätzen ausgelöste - Motivationsschub für die Erschließung auch komplexester Sprachfragen nutzbar gemacht werden.

 

Als nämlich im zweiten Schritt dazu übergegangen wurde, die verschiedenen Beispielsätze in dem voluminösen Handbuch „Semantik" (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 6; Berlin. New York 1991) in ihren jeweiligen thematischen Zusammenhängen aufzuzeigen, war Erstaunliches festzustellen: Es gab auf Seiten der Studierenden keinerlei Zugangsschwierigkeiten: Keine zu überwindenden Barrieren wurden beklagt, wie sie ansonsten oft schon dann von Lehrpersonen befürchtet werden müssen, wenn ein - im Vergleich hierzu - recht einfach zu lesendes Einführungsbuch zugrunde gelegt wird. Das Handbuch „Semantik" wurde ausgewählt, weil die aus anderen Schriften bekannten linguistischen Standard-Beispielsätze nur hier (wenngleich verstreut auf die zahlreichen Artikel) nahezu vollständig vertreten sind. Dazu, welche Freude die Lektüre des Handbuchs den Studierenden bereitete, mögen nur einige Stimmen angeführt werden: Frau Konstanze R. (3. Sem., literarisch sehr gut geschult, schreibt selbst Gedichte und Erzählungen, betätigt sich zudem auch als Malerin) zeigte sich völlig beeindruckt von der ästhetischen Schönheit der logischen Notationen, durch welche sich die meisten Beiträge des Handbuchs auszeichnen; des Weiteren machte sie Ausführungen zur abstrakten Kunst und äußerte sich dahingehend, dass sie sich hier endlich künstlerisch „wiederfinden" könne. Darüber hinaus bekannte sie, dass die Heranführung an dieses Buch ihrer Zuneigung zur Science-Fiction-Literatur ganz neue Dimensionen eröffnet habe und dass die Lektüre des Handbuchs mittlerweile einen wesentlichen Teil ihrer Abendlektüre ausmache. „Das ist ein Gedicht", äußerte sie sich mehrmals mit Blick auf die Ausführungen in dem Handbuch. - Nicht minder verblüffend war die Stellungnahme von Herrn Peter S. (4. Sem., Sekundarstufe I; außerordentlich bewandert in Mathematik, Logik und Informatik, ohne Sinn für Literatur): Er hob den hohen Verständlichkeitsgrad der Ausführungen im Handbuch hervor und wies darauf hin, dass ihm nie zuvor Probleme und Perspektiven der Semantik-Forschung so klar geworden seien wie nach der Lektüre des Handbuchs. In seiner Seminararbeit hat er spontan eine ganz neue Kalkülsprache für die Modalitätslogik entworfen; sein weiterer Werdegang dürfte zu beachten sein.  

 

In einem nächsten Schritt wurde - im Sinne eines „handlungs- bzw. produktionsorientierten Lernens" - angeregt, selbst einschlägige Beispielsätze für infrage kommende Sprachthemen zu entwerfen. Der einzige nennenswerte Vorschlag kam von Frau Catrin M. (3. Sem., Primarstufe, sehr an linguistischer Theoriebildung wie gleichermaßen an Literatur interessiert): Der Beispielsatz „Ich liebe dich ja aber doch wohl", den sie für Partikelprobleme entwarf, konnte allerdings schnell als allzu durchsichtige Anlehnung an die Formulierung aus einer Arbeit des Seminarleiters enttarnt werden (nämlich dessen Habilitationsschrift: „Partikellexikographie“). Schließlich wurde - nach Diskussion einiger weiterer Vorschläge - Einigkeit darüber erzielt, vorläufig erst die Fülle überkommener Standard-Beispielsätze zu sichten und daraus geeignete Schlüsse zu ziehen, ehe daran gegangen werden sollte, das vorhandene Repertoire um eigene Vorschläge zu bereichern. 

 

Bei der Gelegenheit erinnerte ich mich daran, dass ich vor  Jahren einmal vorgehabt hatte, das Handbuch „Semantik" zu rezensieren; bei der Suche nach ersten, zwischenzeitlich in Vergessenheit geratenen, Entwürfen traf ich auf ein Manuskript, das mir im Augenblick wie gerufen kam und das ich nunmehr - im Lichte der vielen studentischen Äußerungen zu Beispielsätzen - ganz neu zu lesen verstand: Es ist dies ein Gedicht in der Rolle einer Rezension - ein Gedicht, in welchem die wesentlichen Standard-Beispiele der modernen Semantiktheorie vereint sind! Warum sollte nicht „handlungs- bzw. produktionsorientiertes Lernen" um „handlungsbezogenes" Lehren ergänzt werden können? Und wie schön hatte doch Frau  Konstanze R. mit Blick auf das Handbuch „Semantik" formuliert: „Das ist ein Gedicht"!

 

Dass ich mich dazu überwinden konnte, schließlich das Gedicht auf ein Gedicht - in Überwindung aller Skrupel - tatsächlich den Studierenden zu präsentieren, war mithin einem glücklichen Umstand zu verdanken, nämlich der vorausgegangenen argumentativen Einebnung von Textsortenbegrenztheiten. Zugleich eröffnete sich die   Möglichkeit, die Veranstaltung thematisch um  textlinguistische Aspekte zu bereichern (Textsorten, Kohäsionsmittel, Kohärenz u. a. m.). 

 

Lediglich Herrn Roland Z. gelang es, weil er neben Germanistik auch noch Japanologie studiert, die letzte Passage des Gedichts korrekt aussprechen. Frau Ramona W. und Frau Konstanze R., die das Gedicht - im Unterschied zu mir - schon auswendig können, betonten übereinstimmend, dass es sich hier um einen Sonderfall (wenn nicht gar um ein Musterbeispiel) hermetischer Lyrik handele. Dem widersprach ich mit folgendem Argument: Natürlich setze das Gedicht, isoliert betrachtet, viele Kenntnisse voraus; aber das „Odi profanum“ des Horaz sei ihm gewiss nicht mitgegeben, da die Ausgangstexte bekannt und leicht erschließbar seien. Um zu einem geeigneten Verständnis gelangen zu können, müsse der Umweg über diese Texte gegangen werden. Zum besseren Nachvollzug führte ich die thematischen Bezugspunkte zu den einzelnen Beispielsätzen zeilenweise auf. Außerdem warnte ich vor einer maßlosen Überschätzung des Textes und rief zur Besonnenheit auf; darüber zu räsonieren, wie das Gedicht einzuordnen ist, sollte denen überlassen bleiben, die dazu berufen sind oder sich dazu berufen fühlen. 

 

Das Gedicht ist den genannten und anderen Studierenden gewidmet, die mit ihren profunden Beiträgen zum Erfolg der Semantik-Veranstaltung beigetragen haben. Über den Wortlaut der Beispielsätze wird im Sinne künstlerischer Freiheit geringfügig (insbesondere qua Einfügung verknüpfender Ausdrücke) hinausgegangen. Der Titel „Kohäsionen - Kohärenzen?! Impressionen zur Se-Mantik" erschließt sich denjenigen Sprachlern ohne weiteres, die wissen, welche Vernetzungsprobleme Texte (aus Produzenten- wie aus Rezipientenperspektive) aufwerfen und dass Semantik manchmal auch Mantik sein kann.

 

Kohäsionen - Kohärenzen?!

Impressionen zur Se-Mantik

 

 

Das Einhorn spricht nicht,

Scheint im Garten -

Aber

Hesperus ist Phosphorus

Wie auch:

Die Kühe sind Wiederkäuer,

Ein Rotkehlchen ist ein Vogel,

A tiger has stripes,

All porches have screens.

 

*

 

Er lacht wie verrückt:

Odysseus cannot swim?

Und

Der gegenwärtige König von Frankreich

Ist (nicht) kahlköpfig?

- Colourless green ideas,

Mollies bellen,

Und

Gavagai!!

 

**

 

Zeige mir deinen Ring,

Und ich zeige dir meine Kette!?

Aber

Alle Junggesellen sind unverheiratet!

Sebastian is a bachelor -:

Die Stange ist drei Meter hoch,

Doch

Der Tisch ist länger als breit!

 

***

 

Max fährt von Köln

Über die Alpen nach Venedig;

Ich vermute, dass

Auch Konrad verreist ist -

Wie

Jack und Jill.

Und:

Hans ist groß,

Aber Fritz ist klein;

Hans und Otto sind groß.

Wenn Hans einen Esel hat,

Schlägt er ihn,

Wie

Jeder Bauer, der einen Esel hat,

Ihn schlägt.

Auch:

Frank hat aufgehört zu rauchen -

Michel must be the murderer!

 

****

 

Die Katze schläft,

Die Sonne scheint,

Und Otto geigt mal wieder.

Die Heizungsrohre sind geplatzt,

Weil's Frost gegeben hat.

Der Morgenstern, der Abendstern,

Die Venus scheint herüber:

 

Watakúsi wa nihóngo

Ga muzukásii o manánga

= Ich Japanisch

Schwierig Comp erfuhr.

 

[formale Semantik/Spurendeutung/Monsterverbot, starre Designatoren, Tautologie/Plural/Prototyp/Conditionals * Anapher/Quantifikation/Negation, Präsupposition/Syntax u. Semantik (Chomsky)/Situationssemantik/Übersetzung (Quine) ** Koordinative Konjunktion/Analytizität/Analytizität and basic concepts/dimensionale Adjektive/Vagheit *** Bewegungsverben/Einstellungsausdrücke/koordinative Konjunktion/Vagheit/indefiniter Artikel/Präsupposition/Modalität **** Artikel/Fokus, Causativity/Frege-Semantik/Nominalsemantik].

 

 

W. Ky

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Phantastische Paralipomena II:

Ein Sprachforscher am Morgen

 

Werner Wolski

(unter Pseudonym „W. Ky“)

 

In der Zeitschrift „Der Deutschunterricht" (45. H. 6, 1993, S. 6) wird von dem Traum eines namentlich nur als „Herr L." vorgestellten „Sprachforschers" berichtet. Es handelt sich um einen recht eigenartigen Traum, aus dem der Sprachforscher, wie es am Ende des Beitrags heißt, „schweißgebadet" aufwachte.

 

Was war vorgefallen? Wieso war es ihm nicht vergönnt, nach einem ausgefüllten Arbeitstag wenigstens ruhig schlafen zu können? Die Darstellung des Traumes (der unterschiedliche Traum-Inhalte umfasst) wird von dem Autor des Beitrags mit der Überschrift versehen: „Erstens spricht man anders, und zweitens als man denkt. Ein linguistisches Lehrstück":  

 

„Herr L. hatte schlecht geträumt: oder übel, oder böse? Er hatte einen richtigen Wirrkopf, oder sollte man sagen: Er war wirr im Kopf? Jedenfalls war ihm irgendwie wirr, und er meinte plötzlich, schwach aber deutlich ein linguistisch traumatisches, ihm unbekanntes postbabylonisches Wirrwarr zu spüren. Aus seiner Therapie wußte [sic! nach alter Rechtschreibung, wie auch des Weiteren] er zwar, daß er einfach mehr zulassen müsse. Aber hier empfand er ein fast physisches Unbehagen und beschloß deshalb, sich der Routine der allmorgendlichen Körperpflege hinzugeben.

 

Der Sprachforscher stand auf, wusch sich die Zähne, reinigte seine Nase und putzte sich den Kopf, die Haare und die Fingernägel. Dann ging er mit den Füßen zur Arbeit, denn das Sprachhaus stand unmittelbar um seine Ecke. Auf dem Steig für die Bürger, der direkt zum Sprachhaus führt, sah er, an die Straßenlaterne gelehnt, einen jungen Jungen. 'Merkwürdig!' schoß es dem L. durch seinen Kopf."

 

An dieser Stelle wollen wir die gegebene Darstellung abbrechen und erläutern, welche Beweggründe wir haben, uns mit Herrn L. und dem Inhalt seines Traums zu befassen. Wir können nicht auf das Problem alltäglicher sprachlicher Normalerwartungen und deren Durchbrechung eingehen, was Hintergrund des Beitrags aus genannter Quelle ist. Vielmehr möchten wir aus unserer Perspektive einen Blick auf das werfen, was Herrn L. zugestoßen ist:

 

Als uns der Beitrag zu Ohren kam (der Autor hätte angeschlossen: „oder: zu Augen?"), hatten wir sehr schnell den Verdacht, dass es sich um einen unserer Patienten handeln müsse. Dieser Verdacht fand sich nach den von uns durchgeführten Recherchen anschließend schnell bestätigt. Wir haben als Psychiater in unserer Praxis laufend mit Fällen zu tun, in denen Wissenschaftler (und ebenso Wissenschaftlerinnen) von Traumgesichten geplagt werden. Und es handelt sich keineswegs, wie man vielleicht denken könnte, nur um Geisteswissenschaftler, die diesbezüglich unseren Rat suchen: Es sind sogar namhafte Mathematiker und Physiker unter unseren Patienten, die es teils mit wesentlich gravierenderen Problemen zu tun haben als Herr L. (Entführung durch UFOs, Verständigungsprobleme mit der Bevölkerung eines entfernten Sterns, etc. etc.).

 

Wir müssen allerdings, was vorliegenden Fall angeht, mit Nachdruck darauf hinweisen, dass die in dem Beitrag aus „Der Deutschunterricht" gegebene Darstellung größtenteils unzutreffend ist. Obwohl wir dem Autor künstlerische Freiheit zubilligen wollen, halten wir eine Richtigstellung schon deshalb für erforderlich, weil uns sonst der Behandlungserfolg von Herrn L. gefährdet erscheint. Auch besteht Herr L., der sich in seinem sprachlichen Leistungsvermögen angegriffen sieht, auf einer solchen Gegendarstellung; er werde andernfalls, wie er uns mehrmals mitteilte, seinen Rechtsanwalt einschalten, etc. etc.  

 

Weder ist zutreffend, dass sich Herr L. der „allmorgendlichen Körperpflege" in geschilderter Art und Weise gewidmet hat, noch befindet sich sein Arbeitsplatz in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung: Er fährt vielmehr täglich 80 Kilometer zur Arbeit. Auch war Herr L. gerade zu jenem Zeitpunkt ganz und gar nicht „wirr" in einem medizinisch signifikanten Sinne. Er hatte seine Probleme gerade einigermaßen überwunden und befand sich lediglich noch in Nachbehandlung. Weitere Details, die zurückzuweisen wären, sollen hier nicht ausgebreitet werden.

 

Nach allem, was uns von den Vorkommnissen zur Kenntnis gelangte, ist folgendes Sache: Herr L. ist ein durchaus bewanderter, aber (was zugegeben sei) phasenweise übersensibel reagierender Sprachforscher, dem es an der Fähigkeit mangelt, abzuschalten. Bei dem Versuch, sich in die Medienwissenschaft einzuarbeiten, hatte er es sich seit einiger Zeit zur Gewohnheit gemacht, morgens die Videotexte auf allen Kanälen durchzusehen. Es kann hier nicht beurteilt werden, ob dieser Weg zur Erreichung des angestrebten Ziels besonders geeignet ist. Jedenfalls sind verschiedene Meldungen, die er zur Kenntnis genommen hat, nicht ohne Einfluss auf seine Gemütsverfassung geblieben. Und dies führte wiederholt dazu, dass er „schweißgebadet" aufwachte und sogar in seiner Arbeitsleistung teils erheblich beeinträchtigt war, weshalb eine Therapie in unserer Praxis als geboten erschien.    

 

Was den aktuellen Fall eines unerfreulichen Traumerlebnisses angeht, so ist festzuhalten: Zwar hat Herr L. im Traum ausgerufen: „Merkwürdig!". Aber dieser Ausruf wurde (wie er uns gegenüber wiederholt beteuerte) nicht durch ein Lili-Marleen-Erlebnis verfremdeten Zuschnitts der Art ausgelöst, dass er „einen jungen Jungen" sah, welcher sich „an die Straßenlaterne" lehnte. Nicht einmal im Traum wäre ihm in den Sinn gekommen, auf Derartiges sein Augenmerk zu richten, wie er auch nicht auf die ungewöhnlichen Kollokationen des Typs „junger Junge" (vs. „junges Mädchen"), „sich die Zähne waschen" u.a.m. hätte verfallen können. Ins Schwitzen gebracht hatte ihn vielmehr ein Traumsegment, nach welchem seine (ohnehin ungesicherte) Stelle in Kürze zu Gunsten der Einrichtung eines Schwulen- und Lesbenreferats aufgelöst werden sollte. Das Ergebnis dieser Traumarbeit lässt sich eindeutig zurückführen auf eine Meldung im „Hessentext" (August '93), wonach aus einer gewissen politischen Ecke Forderungen erhoben wurden, Gelder für derartige „Referate" zur Verfügung zu stellen. Darüber wollen wir uns hier nicht auslassen. Was Herrn L. angeht, ist aus medizinischer Sicht lediglich als problematisch anzusehen, dass er ausgefallene Tagesreste öfters auf sich und seine Situation zu beziehen pflegt.

 

Das gilt auch für ein weiteres Traumsegment aus der gleichen Nacht - mit folgendem Inhalt: Herr L. hatte nur ganz kurz auf einem Behindertenparkplatz angehalten, um einen Brief einzuwerfen. Als er zurückkam, stand vor seinem Auto ein Polizist und eine Person, welche ihm ihren Behindertenausweis aufgeschlagen und mit ausgestrecktem Arm entgegenhielt. In dem Ausweis war als Behinderungsgrund groß - und deutlich zu lesen - die „Legasthenie" verzeichnet. Als Auslöser erwies sich eindeutig eine Meldung in der ARD (Anfang Sept. '93), in der die Anerkennung der Legasthenie als Behinderung gefordert wurde. Auch hier kann man mithin nicht behaupten, dass die Erregung, in welche Herr L. im Traum versetzt wurde, jeglicher Grundlage entbehrte.

 

Zwar muss auch aus medizinischer Sicht zugegeben werden, dass sich die morgendliche Aufstehphase bei Herrn L., bedingt durch die Träume der Nacht, recht eigenartig gestaltete; keinesfalls aber entsprach sie der in dem Zeitschriftenbeitrag gegebenen Darstellung. Auch begann Herr L. nicht sofort mit der „Körperpflege", wie uns der Autor glauben machen will; und sein „physisches Unbehagen", auf das durchaus zutreffend hingewiesen wird, war ganz anders begründet: Als er gegen 5:30 Uhr aufwachte, dachte er überhaupt nicht mehr an die Träume, die bei ihm Schweißausbrüche ausgelöst hatten. Er stand sofort auf; und im gleichen Moment ging ihm durch den Kopf, was Gegenstand einer Lehrveranstaltung sein sollte, die er um 11.00 Uhr durchzuführen hatte: die radikal-konstruktivistische Erkenntnistheorie, zu der sich ihm immer wieder die Frage nach dem Verhältnis von Realität und Wirklichkeit stellte. Als er im Dunkeln langsam durch das Schlafzimmer in Richtung Küche ging, beantwortete sich die Frage auf eigenwillige Weise, da er heftig mit dem Kopf gegen die halb geöffnete Tür stieß. Während er noch darüber nachdachte, ob die sich langsam an seiner rechten Stirnseite entwickelnde Beule von gleicher Natur sei wie diejenige, von der in den „Philosophischen Untersuchungen" Ludwig Wittgensteins die Rede ist, war er schon in der Küche angelangt. Dort stellte er Kaffee auf, indem er den Filter einlegte und die Wassermenge einer großen Tasse in die Maschine füllte. Während er wie üblich den Schmierkäse gleichmäßig auf ein halbes Brötchen verteilte, wartete, bis der Kaffee fertig war, und dabei seine etwas merkwürdig geformte Tasse ansah, ging ihm plötzlich Labovs Tassenexperiment durch den Kopf: Seltsam, dachte er, das könnte ja fast auch eine Vase sein! Und obwohl ihm die Beule nun doch ziemlich wehtat, gelang es ihm immerhin, an diesem Morgen über „Tassenhaftigkeit" und deren Ausprägungsformen mit Prototypikalitätsgraden zu schmunzeln. Er nahm einen Schluck Kaffee, ging dann in sein Arbeitszimmer, legte ein Buch mit Beiträgen zu dem ihn bewegenden Thema in seine Tasche (er wusste, dass er es sonst später vergessen würde), und setzte sich dann mit Tasse und halbem Brötchen vor den Fernseher im Wohnzimmer.

 

Mit der Fernbedienung ging er der Reihe nach die Videotexte sämtlicher Sender durch. Er hatte an diesem Morgen das Gefühl, dass man ihm zuliebe, wo er doch so schlecht geträumt hatte, (gleichsam als Belohnung) nicht mit Nachrichten sparen würde. Und sein Gefühl täuschte ihn nicht: „'Meerseite' bedeutet nicht 'Meerblick'. Die Geheimsprache der Reiseprospekte" (ARD), Verurteilung eines Psychologieprofessors durch den Bundesgerichtshof wegen „Anwendung von Gewalt gegen eine Doktorandin" (SAT 1), „Dänische Hunde beißen vorzugsweise Postbotinnen" (RTL), „Klonen von Menschen am Beispiel Boris Becker" (ebenfalls RTL; Bezugnahme auf eine Glosse aus der „Bunten"). Als Herr L. im Videotext von RTL 2 las, einer Frau solle es gelungen sein durchzusetzen, „von einem Toten ein Kind" zu erhalten, und als sich sodann im Kabel-Kanal die Nachricht anschloss, es sei einem alleinstehenden Mann gerichtlich verwehrt worden, zur Erlangung „dauerhaften Familienglücks" über eine Leihmutter ein Kind zu bekommen, da war Herr L. noch einigermaßen ruhig. „Verrückt", dachte er, „total verrückt".

 

Er wartete auf mehr sprachbezogene Meldungen, an denen er aufgrund seiner beruflichen Neigungen naturgemäß mehr interessiert war als an allem, was sich sonst an Absonderlichem bot. Während bei der Suche nach weiteren Meldungen auf den Videoseiten die Ziffern zum richtigen Punkt durchliefen (was immer etwas dauert), wandte er seinen Blick einen Moment lang dem halben Brötchen zu. Er biss hinein; und dabei kam ihm in den Sinn, dass er das, was er nun tat, eigentlich kaum als „beißen", sondern eher als „mit den Zähnen abreißen" verbalisieren könnte. Denn das Brötchen war, obwohl erst am Vortag gekauft, weich und hatte sich bei seinem Zugreifen zu einem krummen Etwas verformt. „Das hat mehr Eigenschaften mit einem Gummibärchen gemeinsam", dachte Herr L., „als mit einem eigentlichen Brötchen".

 

Dann sah er wieder hoch zum Fernseher. Und ungefähr von jetzt an begann er nach und nach die Fassung zu verlieren. Ihm wirbelten die Bilder des Traums der vergangenen Nacht in allen Einzelheiten durch den Kopf; er schwitzte plötzlich schrecklich und ihm wurde leicht schwindlig. „Verdammt", murmelte er vor sich hin: „Das steht unter der Rubrik Kultur, unter Kultur!": Das Stadtparlament der Stadt Eutin hat, so las er im Videotext von Super-RTL, eine „Hauptsatzung" beschlossen, „in der nur noch die feminine Schreibweise von Amtspersonen auftaucht: Bürgermeisterin, Stadtvertreterin, Bürgervorsteherin, Einwohnerinnen". Herr L. sagte laut „Meine Göttin", wechselte schnell zum Hessentext hinüber, während er aufgestanden war und nur noch wie durch einen Schleier wahrnahm, dass er das halbe Brötchen in seiner Faust völlig zerquetscht hatte. Als er im HR 3 - ebenfalls unter „Kultur" - las, zu welchen „wissenschaftlichen Forschungen" (so der Wortlaut) die Sprachwissenschaft imstande sei, muss er den Rest der Ausführungen kaum noch vollständig mitbekommen haben: „Unwort-Suche", worüber „nicht die Zahl der Neuerungen" entscheidend sein, sondern ein „besonders krasses Missverhältnis zwischen Wort und bezeichneter Sache" etc.

 

Er soll - so spätere Aussagen seiner Frau - noch mehrmals etwas von „Konstruktivismus" geschrieen haben, sodann in äußerster Erregung auf „Wörter-und-Sachen-Forschung" eingegangen sein, woran sich wüste Bemerkungen zu einem vermeintlich „üblen Bild" von der Sprachwissenschaft „in der Öffentlichkeit" anschlossen.

 

Wir wissen nicht, was sich in Einzelheiten zugetragen hat, weil sich Herr L. jetzt nicht mehr an alles erinnern kann und auch überhaupt nicht erinnern will. Auf jeden Fall muss er noch einmal vom Fernseher weggetreten und in den Keller gegangen sein. Denn als seine Frau, die von großem Lärm aufgewacht war, etwa um 6:15 Uhr bei mir anrief, schlug er immer noch mit einer Axt auf den Fernseher ein, obwohl davon nur noch Bruchstücke übrig geblieben waren, wie sie mir gegenüber weinend beteuerte. Den Hintergrundgeräuschen nach zu urteilen, hatte das seine Richtigkeit. Dass wir seinerzeit sein Handeln auch aus medizinischer Sicht nur begrüßen konnten, mag befremdlich klingen. Es war aber so.

 

Herr L. ist in diesem Moment in meiner Praxis; er sitzt mir gelassen gegenüber. Er ist über alles hinweggekommen und kann auch längst wieder arbeiten. Er hat sich mehrmals für mein Verständnis bedankt. Wir trinken gerade Bruderschaft. Während wir zum dritten Mal die Gläser füllen (er hat eine Flasche Whisky mitgebracht), meine ich ihm jetzt gleich etwas eröffnen zu können, was ich ihm vorher zu verschweigen für richtig hielt: „Weißt du, was ich getan habe, noch während ich mit deiner Frau am Telefon sprach? - Ich habe mit meiner Pistole auf den Fernseher geschossen". 

 

 

 

 

W. Ky

 

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