Hierzu folgen demnächst noch weitere Texte!

Übersicht:

Mit der Wörterbuchforschung (Metalexikographie) wird mein Name meist verbunden; deshalb habe ich auch diese Rubrik hier eröffnet. Die Lexikographie ist diejenige Praxis, die darauf gerichtet ist, dass Wörterbücher entstehen. Zu dieser Bestimmung des Gegenstandsbereichs stehe ich (nach Herbert Ernst Wiegand, der mein Lehrer war, und mit dem ich heute noch zusammenarbeite; siehe das WLWF).

(1) Das WLWF ("Wörterbuch zur Lexikographie und Wörterbuchforschung"): laufendes Projekt (siehe Schriftenverzeichnis dazu); der erste Band ist 2010 erschienen.

(2) Wörterbücher bei PONS; hier völlige Überarbeitungen

(3) Weitere Projekte bzw. Konzeptionen 

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(Beispiel zu (1) WLWF)

Hiatus

Aufeinandertreffen zweier getrennt auszusprechender Vokale

 

· Als Hiatus (nach lat. hiatus ‚Klaffen’, Öffnung’; Plural mit Länge auf „u“), im Deutschen auch in der verkürzten Form Hiat (mit dem Plural Hiate), bezeichnet man im markantesten Falle einen Vokalzusammenstoß im Wortinnern (sog. Binnen-Hiat oder innerer Hiatus). Außerdem wird der Ausdruck vor allem im Rahmen der antiken Verslehre bzw. Metrik auch auf den Zusammenprall von Vokalen bei der direkten Aufeinanderfolge zweier unterschiedlicher Einheiten bezogen.  

 

Das Zusammentreffen zweier Vokale bzw. eines Diphthongs und eines Vokals ist seit der griechischen und lateinischen Antike meist als unangenehm für die Aussprache (aufgrund der Bedeutung von hiare mit dem Gähnen zusammengebracht) empfunden und zu vermeiden angesehen worden. Auch im Hinblick auf moderne Sprachen ist von daher die Redeweise von Hiat-Tilgern bzw. Hiat-Trennern gelegentlich noch vorzufinden. Im Falle des inneren Hiatus werden im Deutschen gelegentlich z.B. einzelne Konsonanten zwischen die Vokale eingeschoben (vgl. z.B. das „n“ in amerikanisch). Ansonsten gilt als Hiatus bzw. Hiat das Aufeinandertreffen zweier Vokale insbesondere dann, wenn die Abfolge als Diphthong interpretiert werden könnte; vgl. Perseiden (‚Sternbild’) im Unterschied zu dem Ausdruck Hiatus selbst. Im Falle des Zusammentreffens von Vokalen zweier Einheiten wird z.B. ein, in der italienischen Philologie so bezeichneter, euphonischer Konsonant gesetzt, um den Hiatus zum Verschwinden zu bringen (vgl. ed ecco statt e ecco).

    

Seit der griechischen Antike werden in Rhetorik und Metrik Fragen des Zusammenpralls von Vokalen zweier unterschiedlicher Einheiten sehr häufig thematisiert, nämlich des Aufeinandertreffens eines Vokals in Endstellung der ersten Einheit und eines Vokals in Erststellung der zweiten Einheit; vgl. aus dem Anfang der Odyssee „Ándra moi énnepe“ (das transliterierte „oi“ und „e“). Vor dem vokalischen Anlaut wird dabei der lange vokalische Wortausgang gekürzt (vgl. auch bei Plautus z.B. tŭ ămas), was später als eines der Mittel gilt, den Vokalzusammenstoß zu vermeiden. Meist glaubt man in älteren philologischen Arbeiten, das Vorkommen der Hiate bei antiken Dichtern auf unterschiedliche Weise entschuldigen zu müssen. So erklärt man das Vorkommen des Hiats bei Homer (und auch Hesiod) damit, dass die Hiate nur durch das im Laufe der Sprachgeschichte ausgefallene ursprüngliche Digamma zustande gekommen sind. Das Digamma (doppeltes Gamma), auf dessen Vorhandensein es Hinweise auch bei Homer gibt, war ursprünglich ein Buchstabe des griechischen Alphabets mit dem Lautwert [w].

 

Dass der Hiatus seit der Antike meist als negative, nämlich als zu vermeidende, Erscheinungsform betrachtet und ausführlich zum Gegenstand von Untersuchungen geworden ist, führt man auf die Sophistik zurück, und hier insbesondere auf Isokrates (436-338 v. Chr.). Dieser gilt als Begründer der griechischen Kunstprosa und erfüllt durch die von ihm geleistete Entwicklung literarischer Formen eine Vorbildfunktion für die griechische und die lateinische Rhetorik. Bei anderen altgriechischen sowie lateinischen Autoren hingegen gilt der Hiatus nicht als anstößig. So haben der griechische Rhetoriker Demosthenes (384-322 v. Chr.) und auch der römische Komödiendichter Plautus (um 254 bis 184 v. Chr.) - im Unterschied z.B. zu Terenz (um 195 bis 159/158 v. Chr.) - die Hiate weithin verwendet. Auch Ovid (43 v. Chr. bis ca. 17 n. Chr.) soll den Hiat nicht als Fehler betrachtet haben.

 

Des Weiteren scheint man insbesondere auch im Rahmen der frühen Auffassungen zu einem rhythmisierten Prosastil (entwickelt bei den frühen Sophisten) den gezielten Einsatz des Hiatus als stilistisches Mittel zur Hervorhebung von Passagen und einzelnen Wörtern vorgesehen zu haben. So beinhaltet das Konzept des sog. „großartigen Stils“, das z.B. bei Thukydides (vor 484 bis ca. 399 oder 296 v. Chr.) als vorteilhaft verwirklicht angesehen wird, auch den schroffen Zusammenprall von Vokalen, den man gewöhnlich zu vermeiden trachtete. Dabei hebt sich offenbar eine ambivalente Einstellung dem Hiatus gegenüber insofern hervor, als er im gängigen Sprachgebrauch sowie auch im gepflegten Stil als zu vermeiden angesehen worden ist, aber nicht in einem sich vom Durchschnittlichen abhebenden Sprachgebrauch.

 

Im Wesentlichen hat sich die Ablehnung der Hiate bis über die römische Zeit hinaus nur im  Rahmen normativer Lehren zur Metrik fortgesetzt; teils führt dies dazu, dass Abschreiber antiker Dichtungen Hiate bei verschiedenen Autoren getilgt haben. Noch in altphilologischen Arbeiten des 19. Jahrhunderts (und darüber hinaus) finden sich zahlreiche Darstellungen, in denen Typen des Hiats unterschieden und Verfahren zur Vermeidung der Hiate angeführt werden: Als einer der Typen gilt der so bezeichnete prosodische Hiat (genannt weithin auch griechischer Hiat, wie er aus der epischen und lyrischen Dichtung der Griechen bekannt ist), mit Verkürzung des langen vokalischen Wortausgangs vor vokalischen Anlaut; vgl. den Anfang der „Odyssee“ Homers. Bezeichnungen für weitere Typen sind stilistischer Hiat sowie logischer bzw. auch einfacher Hiat.  

 

Die sog. Elision ist ein Verfahren, das in der Ausstoßung eines Vokals besteht (auch wenn darauf ein „m“ folgt, oder wenn die nächste Einheit mit „h“ beginnt); vgl. quantum erat und quanterat. Die sog. Aphärese beinhaltet die Ausstoßung des Anfangsvokals von „est“ (Form der Kopula), und zwar auch bei auslautendem „-m“; vgl. molestumst aus molestum est. Neben anderen Verfahren zählt (samt Untertypen) hierzu insbesondere auch die sog. Synaloiphe (auch Synalöphe), nämlich die Vokalverschmelzung. Dieses Verfahren ist bereits in der altgriechischen Dichtung zur Einhaltung des Versmaßes entwickelt worden. Dabei werden auslautender und anlautender Vokal miteinander verschliffen; vgl. aus dem Lateinischen saepe ubi und saepubi. Diese und andere Formen der Veränderung (zur Einhaltung des Metrums, aus klanglichen Gründen etc.) werden traditionell zusammenfassend als Metaplasmus (griech. metaplasmós ‚Umformung’) bezeichnet.

 

Fragen zum Hiatus spielen in der heutigen Sprachwissenschaft und Stilistik eine völlig untergeordnete Rolle. Damit ist man von der in Verslehren des 19. Jahrhunderts – im Anschluss an die Philologie des Altgriechischen und Lateinischen – immer wieder vertretenen Auffassung abgerückt, eine wohlklingende Lautfolge erfordere aufgrund der mit Bildung des Hiatus verbundenen unangenehmen Mundformung dessen Vermeidung. Frühere Empfehlungen gehen z.B. dahin, an dessen Stelle ein Apostroph zu setzen (z.B. „sag’ an“, oder „Freud’ und Frieden“). Allerdings hat man – wie schon in der Antike – Unterschiede zwischen den im Rahmen des Hiatus vorkommenden Vokalen gesehen: So hat man den Hiatus bei ungleichen Vokalen (vgl. „Sie alle“) für weniger problematisch als bei gleichen Vokalen angesehen, dabei aber auch im letzten Falle teils für unvermeidbar bei Adjektiven vor Substantiven (vgl. „die weite Erde“).

 

Unter lexikographischem Aspekt ist der Hiatus lediglich im Rahmen der Ausspracheangabe von Belang. Die getrennte Aussprache zweier aufeinanderfolgender Vokale im Wortinnern wird in Phonologie und Phonetik als Diärese (griech. diaíresis ‚Trennung’, lat. diaresis) bezeichnet. Ohne Diärese und damit Markierung als Hiatus wäre eine Aussprache als Diphthong naheliegend, aber falsch; vgl. den Leuten versus die Aleuten. In verschiedenen Sprachen (besonders häufig im Französischen) wird die Diärese orthographisch durch das sog. Trema kenntlich gemacht; vgl. franz. naïvité (‚Naivität’); vgl. für Eigennamen auch Boëtius.

 

Im Rahmen der neuen deutschen Rechtschreibregelungen ist man um zahlreiche Neuerungen bemüht (vgl. z.B. die falsche Zuordnung von Quentchen zu Quantum und Neuschreibung als Quäntchen, mit Ausrichtung an das absurde Wortfamilien-Konzept der „synchronischen Kompetenz“). Das Problem des Hiatus spielt dort allerdings keine Rolle. Das Rechtschreibwörterbuch duden 1/2009 (weitere Auflage 2013, sowie ausführlicher in duden-online), gibt den Benutzer(inne)n somit im Falle der Einheiten mit Hiatus keine Hilfestellung zur getrennten Aussprache von Vokalen im Wortinnern. Offenbar geht man in durchaus nachvollziehbarer Weise davon aus, dass denjenigen Benutzer(inne)n, die z.B. Poet, naiv, Perseiden, Asteroid, kreieren, Android etc. nachschlagen, ohnehin bekannt ist, wie man diese Ausdrücke ausspricht. In zahllosen unnötigen Fällen hingegen werden Betonungsangaben gemacht. Leider tut sich duden 1/2009 (samt duden-online), was Ausdrücke aus dem Altgriechischen und Lateinischen angeht, aufgrund mangelnder altsprachlicher Kompetenz sehr häufig durch absolut falsche und lächerlichste Betonungsangaben bzw. Angaben zur Vokalquantität hervor (vgl. z.B. locus amoenus mit langem „o“ in locus, da offenbar ein Zusammenhang mit Lokus in dessen Bedeutung ‚Klo’ hergestellt wird). Ebenso wird im duden-online der Ausdruck Hapaxlegomenon völlig falsch mit einer Länge auf dem „o“ angegeben, wo doch die älteren Nachschlagewerke durchweg (im Anschluss an den griechischen Ausdruck) für sämtliche seiner Vokale korrekt eine Kürze verzeichnen. Von daher ist es durchaus begrüßenswert, dass man im Falle von Einheiten mit Hiatus überhaupt keine Ausspracheangaben gemacht hat.

 

Ansonsten dürfte in vielen Fällen die Silbentrennungsangabe ausreichen, mit der implizit eine getrennte Aussprache bei Verwechslungsmöglichkeit mit der Aussprache als Diphthong angezeigt wird. Dies gilt selbst z.B. für Zaire, das in anderen Sprachen (z.B. im Franz.) mit Trema gekennzeichnet ist. Einer der bekanntesten Eigennamen, nämlich Citroën mit unvermeidlichem Trema, findet sich in diesem Wörterbuch und auch in anderen gemeinsprachlichen Wörterbüchern ohnehin nicht. Als kritische Fälle verbleiben im Wesentlichen Einheiten, bei denen nach Revision der Trennungsregelung im Rahmen der Rechtschreibreform ein einzelner Buchstabe am Wortanfang oder am Wortende nicht mehr abgetrennt werden darf. Beispiele dafür sind Aida und Zoe. In diesen und in vergleichbaren Fällen sollte eigentlich eine Ausspracheangabe obligatorisch sein. Andernfalls ist zu befürchten, dass die falsche Aussprache als Diphthong (durch sprachlich Unbedarfte in der Rolle gleichsam des Publikums-Jokers) irgendwann zur Norm erklärt wird.    

 

→ Ausspracheangaben, Hiatusangabe

 

&  Boldrini 1999, Fuhrhop 1998, Heyse 1825, Schirren 2009, Staab 2009 [W.W.]